Mit der Hoffnung leben

Ein Besuch im Kronstädter Antiquariat Aldus

Ein Herz für alte Bücher - die Antiquarin Astrid Hermel

Sohn Arthur Hermel betreibt den Verlag und einen Copy-shop.
Fotos: Steffen Schlandt

„Ein Antiquariat muss so platziert sein, dass man darüber stolpert!“ Diesen Rat gab ein Kollege im Jahr 1990 der Antiquarin Astrid Hermel in München, als sie sich in der bayrischen Landeshauptstadt umsah. Sollte sie den Schritt in die Privatisierung wagen? „Das alte Buch kommt nie aus der Mode“, hörte sie außerdem und wagte es dann. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere als selbstständige Unternehmerin hatte Astrid Hermel zehn Angestellte. Der Umsatz im Antiquariat in der Kronstädter Hirschergasse mit seiner großen Vitrine war so gut, dass sie 1998 mit der Belegschaft auf die Leipziger Buchmesse fahren konnte und dort, als einzige Frau unter 78 Antiquaren, vom Bürgermeister begrüßt und beglückwünscht wurde.

Heute ist das Antiquariat Aldus ein Geheimtipp in Kronstadt/Braşov und liegt keineswegs so, dass man über es stolpert. Eine hohe, graffiti-verschmierte Mauer versperrt den Blick auf den Laden und auf die danebenliegenden Räume des Verlags und Copy-shops, die Sohn Arthur Hermel betreibt. Wären da nicht die klappbaren Werbetafeln, die täglich ausgestellt werden, niemand sähe den Eingang zu Aldus am Kirchhof. Von den vielen hundert Touristen, die täglich rund um die Schwarze Kirche schlendern, findet nur ein Bruchteil den Weg in Frau Hermels Antiquariat.

„Sechzehn K zweiundzwanzig, 350 Lei“. Seit Tagen macht Astrid Hermel Inventur im Laden und diktiert Buchtitel um Buchtitel. Ihre Freundin Sorina schreibt alles in Listen. Bei dieser Gelegenheit kommen einige Exemplare weg, sie sind zerrissen und unverkäuflich. Alles wird abgestaubt: „Sieh, wie schön: ein bebildertes altes Kochbuch!
Nach diesem Buch habe ich als junges Mädchen das Kochen gelernt: 120 Kartoffelgerichte. Noch heute packt mich der Hunger, wenn ich es durchblättere.“ Astrid Hermel sprüht vor Lebenslust und Witz. Sie liebt ihren Beruf über alles und hat immer gern mit Büchern gearbeitet. Nein, reich ist sie dabei nicht geworden, aber vieles hat sie gelernt, was Buchhändler sonst nicht unbedingt können: kyrillisch zum Beispiel. Frau Hermel zieht ein altes Buch hervor und liest fließend: „Cuvântări morale bisericeşti…Sibiu 1862“. Sie begann 1968 als achtzehnjähriges Mädchen und ist seit 48 Jahren im Dienst. Im Fernstudium bildete sie sich weiter, kann Russisch, Französisch und Englisch, neben den drei siebenbürgischen Landessprachen Ungarisch, Rumänisch und Deutsch. Als Antiquarin muss sie den Wert der Bücher einschätzen können, ein Gespür fürs Geschäft entwickeln und in allen Bereichen beschlagen sein.

„Zweiundvierzig N hundertsiebenundsechzig, 25 Lei“. Ein Student tritt herein und fragt nach einem Hochschulkurs über Forstwirtschaft. Nein, er ist zwar bestellt, aber noch nicht gedruckt. Das Telefon klingelt: unvollständige Bestände, selbst von Tolstois Werken, werden leider nicht angenommen. Aber eine Liste der abzugebenden Bücher lässt Frau Hermel sich gerne schicken. Nach einer Weile kommt ein Pärchen herein. Ein kurzer Schwatz mit den Gästen, er fragt nach einem bestimmten Titel, sie schaut sich bei den Souvenirs um.

Kaum hat es sie hereingeweht, sind sie auch schon fort. Aber jetzt bitte an die Arbeit: „zweiunddreißig L vierhundertachtundvierzig, 7 Lei“. In einem Antiquariat ist es still. Der Große Brockhaus starrt zwanzigbändig von oben aufs Tagesgeschäft. Am Tisch Malstifte und Zeichenpapier für Kinder, daneben noch der weihnachtliche Schmuck. Das Angebot in den Regalen umfasst auch Neuerscheinungen, vorwiegend mit Bezug zu Kronstadt, und Ausgaben des hauseigenen Aldus-Verlags. Ein Buch geht über den Ladentisch, wo Schwiegertochter Monica sitzt.
Aldus ist heute ein kleines Familienunternehmen. Frau Astrid verrät mit einem Lächeln, dass sie sich in absehbarer Zeit zurückziehen wird, um dem Sohn Edmond, der Betriebswirtschaft in Deutschland studiert hat, Platz zu machen. Neue Ideen müssen her, das spürt sie, damit die Welle der digitalen Medien ihr Antiquariat nicht völlig überrollt. Seit 2007 arbeitet sie nun hier, am Kirchhof, mitten in Kronstadt und dennoch versteckt. „Ich lebe mit der Hoffnung“. Es ist der vierte Standort ihres Geschäfts nach der Wende.

Das hat Astrid Hermel in den späten Neunzigern gelernt: mit der Hoffnung zu leben. Die Ärzte gaben der zierlichen Frau 25 Prozent Überlebenschancen. Alle drei Wochen pendelte sie mit der Bahn nach Klausenburg zur Chemotherapie, die Übelkeit setzte bei der Rückfahrt ein, knapp bevor sie in Kronstadt ausstieg. Es folgten eine Operation sowie eine weitere Behandlung mit Kobaltstrahlen. Frau Hermel trug Perücke, schminkte ihr bleiches Gesicht und organisierte – wieder einmal – die Übersiedlung ihres Antiquariats. Lungenentzündung, bittere Tränen, nichts blieb ihr erspart. Alles überstand sie mithilfe der Familie. Heute kann Astrid Hermel wieder wandern gehen, eine Mahlzeit im Rucksack, auf den Wegen, die sie mit Roland ging, ihrem verstorbenen Ehemann. Miriam und Alma, die Enkelmädchen, sollen das auch mitbekommen: was es heißt, auf einer Wiese Rast zu machen, den Weg bis zur Leiternschlucht am Hohenstein oder auf den Schuler zu gehen.

Klack, klack, im Nebenraum bedient Monica den Computer. Sohn Arthur kommt aus seinem Büro herüber. Er kocht den besten Kaffee, schwärmen die Damen unisono, und bald duftet es hinter den Regalen. Arthur ist auch sonst schnell zur Hand und kann aus seinem Copy-shop beobachten, wer den Laden betritt. Schon zweimal am heutigen Tag kamen dunkelhäutige junge Leute: Sie wollten eine alte Münze schätzen lassen oder eine antike Uhr verkaufen. Das hier sei nicht der richtige Ort, wird ihnen erklärt, und sie gehen. Ob sie keine Angst habe, die mögliche Gefahr nicht spüre? Frau Hermel hatte es wiederholt mit Ladendieben zu tun und erinnert sich in allen Einzelheiten an die Situationen. Wie entwendet man einen Messinggegenstand? Der Dieb ließ ihn in der Unterhose verschwinden, die mit einem Gummizug am Bein befestigt war. Als er gestellt wurde, leugnete er alles. Wenn sie wolle, solle sie den Gegenstand selbst hervorholen, meinte er frech. Zum Glück kam die Polizei. Ein anderes Mal stellte ein Passant den flüchtigen Bücherdieb geistesgegenwärtig auf dem Marktplatz.

Dreizehn L vierundsiebzig, 24 Lei… „Schau, ein komplettes Gärtnerlexikon von 1800. Versuchen wir’s mit einer Preisreduzierung!“ Die jungen Leute, seufzt Frau Hermel, stoßen alles ab, die Sammler bibliophiler Raritäten sterben aus. Im vergangenen Juli, während der großen Hitze, kamen wieder einmal zuerst die Leibwächter und danach Corneliu Vadim Tudor ins Antiquariat am Kirchhof. Er war Stammgast und Frau Hermel brachte ihm schon an den Tisch, was ihn interessieren könnte. Nun kommt auch dieser Kunde nicht mehr.

Die Inventur ist bei Büchern über Sport angelangt. Dieser Bereich interessiert kaum noch, weiß Frau Hermel. Die Leute treiben keinen Sport mehr. Sie massieren den Laptop, stellen die Damen fest. Ach, das Internet! Die digitale Welt! Nur so zum Spaß, und um sich zu beweisen, dass sie die Fertigkeit nicht verloren hat, übt eine von ihnen die Multiplikation mit Bleistift am Papier. Zwei Damen in Pelzmänteln treten ein. Sie sprechen russisch und gehen sofort ins Zimmerchen mit den Souvenirs. In Frau Hermels Laden springt überall etwas ins Auge, beflügelt die Kauflust. Für kleine, feine Geschenke ist ihr Geschäft genau richtig. Auf Englisch versichert sie den beiden Käuferinnen, dass die Vase chinesisch sei und verpackt das Gefundene inmitten einer aufdringlichen Wolke von Parfüm.

Weshalb Aldus? Als sie das kleine Unternehmen gründete, entschloss sich Astrid Hermel, den Vornamen des venezianischen Buchdruckers Aldus Manutius zu verwenden, des Mannes, der im 15. Jahrhundert das Taschenformat und die aldinischen Lettern erfand. Ein Jugendfreund und Mentor gestaltete den Adler als Symbol für Verlag und Antiquariat.

Selbst im Schlaf wird Astrid Hermel die Zahlen und Buchstaben beim Inventur-Machen nicht los. Sie werden sie bis in die Träume verfolgen, und jedes Zeichen steht für ein Buch, ein Unikat, das sie liebt und kennt. Gäbe es doch nur wieder mehr Menschen, die nach dem alten Buch greifen!