Römische Altertümer zwischen Wirklichkeit und Phantasie

Druckgrafik aus vier Jahrhunderten im Bukarester Nationalen Kunstmuseum

Giovanni Battista Piranesi: Das Kolosseum

Nicolas Beatrizet: Die Kapitolinische Wölfin

Johann Wolfgang Goethe erwähnt in seiner „Italienischen Reise“ den Architekten und Kupferstecher Giovanni Battista Piranesi, der mit seinen „Veduta di Roma“, seinen Ansichten von barocken und antiken römischen Baudenkmälern, große Berühmtheit erlangt hatte, zweimal: An einer Stelle hebt Goethe den „kolossalen Begriff“ hervor, mit dem Piranesi seine Betrachter auf die römischen Altertümer vorbereitet habe, an einer anderen Stelle betont er aber, dass Piranesi in seinen Werken von den römischen Antiken „so manches Effektreiche vorgefabelt“ habe, sodass diese „auch dem malerisch gewöhnten Auge in der Gegenwart kaum einige Zufriedenheit geben“ dürften.

Genau diese Spannung von Wirklichkeit und Phantasie, von Faktischem und Vorgestelltem, von Dokumentarischem und Fiktivem, kennzeichnet auch die Ausstellung, die derzeit im linken Flügel des Bukarester Nationalen Kunstmuseums, in den Grafiksälen der Galerie Europäischer Kunst, zu sehen ist. 46 klein- und großformatige Stiche aus dem 16. bis zum 19. Jahrhundert von italienischen, französischen, englischen und niederländischen Meistern sind dort noch bis zum 28. Oktober dieses Jahres zu besichtigen.

Der italienische Künstler Giovanni Battista Piranesi (1720-1788) ist in der Bukarester Ausstellung mit mehreren Werken vertreten. Das vor den Toren Roms an der Via Appia Antica gelegene Grabmal der Caecilia Metella, ein Blatt aus den „Vedute di Roma“, ist dort genauso zu sehen wie eine Ansicht der Trajanssäule, an deren Fuße mehrere Romtouristen in eingehender Betrachtung verweilen. In der rechten Bildhälfte wird man die barocke Marienkirche gewahr und dahinter den Palazzo Valentini, der zur Zeit Piranesis noch den Namen Palazzo Bonelli, nach dessen Erbauer Kardinal Michele Bonelli, trug. Das Marcellustheater, das Augustus zu Ehren seines Lieblingsneffen errichtet hatte, ist Gegenstand eines weiteren Stiches von Piranesi. Er stellt es dem Betrachter in einer wenig idealisierenden Form vor Augen: an der Außenmauer des antiken Halbrunds, das von Gebäuden späterer Zeiten überbaut und erhöht wurde, findet ein Markt statt und man spürt das Ruinöse und Verfallene eher in der Darstellung der Gegenwart als in der Präsentation des antiken Monuments selbst.

Der im Jahre 1748 veröffentlichten Piranesischen Serie „Römische Altertümer aus der Zeit der Republik und der ersten Kaiser“ entstammen die Blätter mit dem Augustusforum in Rom und dem Augustustempel im illyrischen, heute kroatischen Pula. Die beiden wichtigsten Piranesischen Stiche und zugleich die beiden großformatigsten der Bukarester Ausstellung stellen das Flavische Amphitheater, das besser unter dem Namen „Kolosseum“ bekannt ist, und das Aquädukt des Nero dar.

Hier zeigt der italienische Meister seine ganze Kunst und macht zugleich den kommerziellen Aspekt dieser Werke deutlich: Sie dienen nicht allein der ästhetischen Betrachtung, sondern auch archäologischem, stadtgeschichtlichem wie touristischem Interesse. Diesem gehorchen die Legende und die in dem Stich angegebenen Ziffern. Bedauerlicherweise ist der Zugang zum Bild mit dem Kolosseum in der Bukarester Ausstellung durch eine Vitrine verstellt, sodass man das auf dem Stich vermerkte und nicht minder wichtige Kleingedruckte leider nicht lesen kann.

Von den Caracalla-Thermen fehlt in der Bukarester Ausstellung zwar der Stich von Piranesi, dafür findet sich dort aber Herman van Swanevelts (1600-1655) Ansicht jener antiken Bäder aus dessen Serie „13 Ansichten von Rom“. Bereits Goethe hatte in seiner „Italienischen Reise“ die Radierkunst dieses niederländischen Meisters gewürdigt: „Doch sollte bei dieser Gelegenheit die Erinnerung an Hermann von Schwanefeld lebendig werden, welcher mit seiner zarten, das reinste Natur- und Kunstgefühl ausdrückenden Nadel diese Vergangenheiten zu beleben, ja, sie zu den anmutigsten Trägern des lebendig Gegenwärtigen umzuschaffen wusste.“

Herman van Swanevelt hatte sich in vielen seiner Werke an der Kunst des französischen Landschaftsmalers Claude Gellée, besser bekannt unter dem Namen Claude Lorrain, orientiert. Swanevelts berühmter Zeitgenosse bildete mit seinem Werk auch die Inspirationsquelle für die in Bukarest gezeigten Tuschätzungen zweier Künstler aus dem 19. Jahrhundert, Richard Earlom und Lodovico Caracciolo, darunter die Hafenansicht Caracciolos aus dem Jahre 1815, die Lorrains berühmtem Gemälde „Hafen mit der Villa Medici“ aus dem Jahre 1639 nachempfunden ist.
Zu den ältesten der in der Bukarester Ausstellung gezeigten Werke zählen die Stiche mit den Figuren der Apostel Matthäus und Paulus von Lambert Suavius aus dem Jahre 1547 und ein Stich aus dem Jahre 1552 von Nicolas Beatrizet mit dem Standbild der das Zwillingspaar Romulus und Remus säugenden Kapitolinischen Wölfin, das vermutlich gar nicht aus der Antike stammt, sondern erst im Mittelalter gefertigt wurde. Beatrizets Stich gehört zu seiner Serie „Speculum Romanae Magnificentiae“ (Spiegel römischer Pracht).

Besonders aufschlussreich sind zwei Stiche Pietro Santi Bartolis (1635-1700) von der Trajanssäule, die zwei Reliefdarstellungen aus dem über 200 Meter langen aufsteigenden Fries der im Jahre 113 n. Chr. eingeweihten antiken Siegessäule wiedergeben: die mit den Nummern „225“ und „226“ bezeichneten Ausschnitte zeigen die Niederlage Decebals und der Daker sowie die Siegesrede Trajans vor seiner als „Dacica“ bezeichneten XIII. Legion.

Zu dem in Bukarest aufgeblätterten Bilderbogen römischer Antiken zählen ferner Werke von Stefano della Bella, Andrea Gasparini, Adrien Manglard, Pierre Brebiette und anderen Künstlern, die in den Grafikkabinetten des Nationalen Kunstmuseums zu entdecken oder wiederzuentdecken sind.