Samowar und Balalaika – die russische Seele von Botoşani

ADZ-Reihe „Kultur der Vielfalt“ – Teil 6/6: Lipowaner in der Moldau

„Mütterchen“ Olga (rechts) und die Kinder heißen uns mit Brot und Salz willkommen. Fotos: George Dumitriu

Die Kirche der Lipowaner in der Strada Antipa 8

Wohlbehütetes Kulturerbe: uralte Kirchenbücher, aus Russland mitgebracht

Das Mädchen erklärt uns die Symbolik des Padricinic-Kissens.

In dem liebevoll eingerichteten Museumsraum kann man neben alten Fotos, Büchern und Dokumenten allerlei Dinge bestaunen, die heute noch zum Alltag der Lipowaner gehören:

Im Museum: Samowar und Teegeschirr

Russische Lieder – manche wurden über Generationen nur mündlich weitergegeben

Es ist, als ob die Pracht ringsum für ihre schlichte, spirituelle Lebensart kompensieren wolle: Glanz und Gold, Glasperlen und Pailletten, Blumen und schillernde Farben zieren ihre Trachten. In der Kirche leuchten bunte Ikonen aus goldenen Rahmen vor himmelblauem Grund. Ihr kleines Museum, seit Juni letzten Jahres sogar offiziell Teil des touristischen Programms von Botoşani – ein sehenswertes Kleinod. Von Samowar über Matrioschka-Puppen, Bajan und Balalaika, Sarafan-Kleid mit russischem Schal, bemalten Holzlöffeln und Gefäßen im Holomskaya-Stil und Padrucinic-Kissen ist alles vorhanden.

Etwa 1200 Mitglieder zählt die Gemeinschaft der russischen Minderheit in Botoşani. Dank ihres Vorsitzenden, Ovidiu Ivanov, gehört sie zu den aktivsten im Lande. Die Lipowaner in Boto{ani legen wert auf Jugendarbeit, kulturelle Aktivitäten und Bewahrung der Identität durch Sprache und Brauchtumspflege. Auch die Ehefrau des Vorsitzenden, Livia Ivanov, engagiert sich für die Gemeinschaft: Sie hat eine Monografie über die Lipowaner in Boto{ani herausgegeben und einen Film gedreht, der zur Eröffnung des Museums gezeigt wurde. Außerdem singt sie als aktives Mitglied im Chor. Drei Folkloregruppen für Tanz und Gesang gibt es in Boto{ani, eine für Erwachsene und zwei für die Jugend.

Glauben und Bildung als höchste Werte

Im Museum, das im Kulturzentrum „Corneliu Finaşcu“ untergebracht ist, zeugen alte Fotografien, Dokumente, Bücher, Möbel und Geschirr, Musikinstrumente, ein Priestergewand und bunte Handarbeiten von einer reichhaltigen Kultur voller Symbolismus.  

Im Raum daneben organisiert „Matriuschka“ (Mütterchen) Olga Zakoliukina, Pfarrersgattin und Kulturreferentin, Mal- und Handarbeitskurse für rund 35 Kinder aus der näheren Umgebung. Dort werden Objekte aus Holz und Keramik bemalt oder kleine Gegenstände gebastelt, etwa die mit Körnern gefüllten Motanka-Püppchen, das Padricinic-Kissen für die Kirche und andere traditionelle Kleinigkeiten. „Spielerisches Gestalten ist wichtig für das Lernen“, betont Matriuschka Olga. In den Ferien finden für die Kinder Kurse in Kirchenslawisch statt, die alte Sprache ihrer Gottesdienste. Und natürlich spricht man untereinander  russisch. Etwa 20 Kinder perfektionieren ihre Muttersprachkenntnisse außerdem in Wort und Schrift bei Professor Daniel Elisei.

Im Zentrum ihres Lebens aber steht die Kirche. Wie ein Schwan erhebt sich das Gotteshaus im Lipowanerviertel am nordöstlichen Rand von Boto{ani in Weiß und Pastellgelb gegen den azurblauen Himmel. Besucher sind dort willkommen, vorausgesetzt Frauen tragen, wie die Lipowanerinnen, Kopftuch und Kleid oder Rock. Am Eingang stehen hierfür Tücher und Wickelröcke zur Verfügung.

Unermesslich muten die Schätze in der zwischen 1853 und 1870 erbauten, der Geburt Mariens geweihten Kirche an, die selbst unter Denkmalschutz steht: Ikonen und Bücher mit vergoldeten Einbänden, einige hundert Jahre alt, mitgebracht aus Russland. Die originale Ikonenwand mit zahlreichen alten Heiligenbildern, die die nach der Religionsreform des Patriarchen Nikon im 17. und 18. Jahrhundert Geflüchteten ebenfalls mitgeschleppt hatten, fiel 1967 einem Brand zum Opfer. Zahllose weitere davon betroffene Kunstschätze harren bis heute ihrer Restauration.

Andere, nicht minder wertvolle Kostbarkeiten müssten dringend archiviert werden, um nicht verloren zu gehen, wünscht sich Pfarrer Condratov – „Batiuschka“ (Väterchen) Vladimir, wie ihn die Mitglieder seiner Gemeinde liebevoll nennen. Etwa die uralten Kirchenlieder aus der alten Heimat, nur als melodiöse Erinnerungen mitgebracht und mündlich überliefert, „in jeder Pfarrei klingen sie anders, jedes ist einzigartig“ und verweist auf den ursprünglichen Herkunftsort der Einwanderer. Sie würden es verdienen, aufgezeichnet zu werden, um auch der Nachwelt erhalten zu bleiben.

Aus Russland in alle Welt

An der Stelle, wo heute die Kirche steht, lagen einst ausgedehnte Sümpfe. 1870 hat sich dort eine Gemeinschaft russischer Lipowaner niedergelassen, das Land trockengelegt und urbar gemacht. Sie begannen, Fisch- und Bewässerungsteiche anzulegen, Gräben zu ziehen, Bäche umzulenken, Quellen einzufassen und das Land zu terrassieren. Auf dem so erschlossenen Boden bauten sie Obst und Gemüse an, mit dem sie die umliegenden Märkte belieferten.

Bis heute gilt der Gartenbau als typische Beschäftigung der Lipowaner. Einige befassten sich aber auch mit Bienenzucht, Handel, beteiligten sich am Schienenbau und beim Graben von Wällen für Stauseen, wo die arbeitsamen, in sich zurückgezogenen Männer von den Rumänen bald den Spitznamen „Bagger mit Bärten“ erhielten. Denn der Bart ist eines der typischen Erkennungszeichen eines frommen Lipowaners...

Die russischen Einwanderer waren strenggläubige Staroveri, Anhänger des alten orthodoxen Ritus. Sie flüchteten vor der Religionsreform von Patriarch Nikon, eingeführt auf der Synode von 1654 und später von Zar Peter dem Großen mit Gewalt durchgesetzt, Verfolgungen und Folter eingeschlossen. Die Staroveri wollten weder  ihren Kalender, noch ihre Bärte oder ihre typische Kleidung aufgeben und hielten an vielen Bräuchen fest, etwa, das Kreuzzeichen mit nur zwei Fingern zu schlagen anstatt drei, als Symbol der zweifachen Natur von Christus als Gottessohn und als Mensch. So begaben sie sich auf Wanderschaft, strömten hinaus in die ganze Welt, auf der Suche nach einer toleranteren neuen Heimat. Bis auf ihre Kirchenschätze, Ikonen und heiligen Bücher ließen sie alles Hab und Gut zurück.

Nach Rumänien gab es zwei Einwanderungswellen aus Russland: die erste unter Zar Peter I. (1672-1725), die zweite unter Katharina II. der Großen (1762-1796) . Die meisten Lipowaner ließen sich in der Dobrudscha im Donaudelta nieder und wurden Fischer, andere in der Moldau, wo sie sich als Gemüsegärtner etablierten. Aber auch in Br²ila, Konstanza und im Landkreis Ialomi]a gibt es Lipowaner. In der zwischen Rumänien und der Ukraine geteilten Bukowina findet man Lipowaner in Climăuţi, Lipoveni und Fântâna Albă. Sie leben in der Regel in Enklaven, bemüht, Glauben, Sprache und Identität nicht zu verlieren.

Die ersten Lipowanersiedlungen hierzulande waren die Dörfer Lipoveni (1724) und Manolea (1743), beide im heutigen Kreis Suceava. Danach entstanden die Gemeinden von Sarichioi, Jurilovca und Slava Rusă im Kreis Tulcea.
Am 28. Oktober 1846 wurde der Metropolitensitz der Orthodoxen Kirche vom Alten Ritus in Fântâna Albă, Nordbukowina, gegründet. Zum Oberhaupt ernannte man Ambrosie, den ehemaligen Metropoliten von Bosnien und Herzegowina. 1940, nachdem die Sowjets die Nordbukowina besetzten, wurde das kirchliche Zentrum nach Brăila verlagert. Dort werden heute auch die Reliquien des ersten Metropoliten aufbewahrt und die Priester aus aller Welt geweiht. Ein Seminar zur theologischen Ausbildung gibt es nicht bei den Lipowanern, der Pfarrer wird von seiner Gemeinde nach seinen Fähigkeiten ausgewählt: Er muss die religiösen Bräuche und den Kanon kennen und in der Lage sein, einen Gottesdienst auf Kirchenslawisch zu halten. Jedes Jahr  lädt Metropolit Leonti Lipowaner aus aller Welt - Brasilien, Uruguay, Australien, Kanada, Alaska, Japan, der Mandschurei, Polen, Österreich, Deutschland und dem Baltikum – zur Synode nach Brăila ein.

In Rumänien leben der Volkszählung von 2011 zufolge insgesamt noch rund 32.500 bekennende Mitglieder der russischen Minderheit. Sie pflegen 67 Kirchen, 32 Friedhöfe, drei Klöster und eine Klause: das Nonnenkloster Voidenia und das Mönchskloster Uspenia in Slava Cercheză, Tulcea, sowie ein Mönchskloster und eine Nonnenklause in Manolea, Suceava.  

Religion und Leben heute

Die Staroveri halten sich streng an die Fastenzeiten und repektieren als religiöse Vorbilder Jesus und die Muttergottes, die zwölf Apostel und die alten Kirchenväter. Ihre wichtigsten Heiligen sind Nikolaus, Elias, Haralambie, aber auch Märtyrer aus ihren eigenen Reihen, die in Russland nach dem Kirchenschisma auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden: der Heilige Awwakum Petrow aus der Region Nischni Nowgorod, auch ein bedeutender Schriftsteller für die altrussische Literatur; die Heilige Feodossija Prokofjewna Morosowa, eine russische Bojarin und Unterstützerin Awwakums, die zusammen mit ihrer Schwester, der Fürstin Urussowa, in einem Verließ des Gefängnisses von Borowsk gefoltert wurde, beide erlitten dort den Hungertod.  

Die altgläubigen Staroveri zeichnen sich durch ihre langen Bärte und eine spezielle Tracht aus: das lange Rubaska-Hemd und lederne Stiefel. Die Mädchen und Frauen tragen bodenlange Sarafan-Kleider und bunte Schultertücher. Verheiratete Frauen erkennt man am Sbornik, einem schmucken, mit Glasperlen bestickten seidenen Häubchen, seit dem 13. Jahrhundert bekannt. Ein Symbol für weibliche Würde sowohl für Frauen als auch Mädchen ist der russische Schal aus Baumwolle, Seide oder Wolle. Bunt und fast immer üppig geblümt, schmückt er die Schultern der Trägerin.
Betritt man ein traditionelles Lipowanerhaus, wird man stets über dem Eingang ein Kreuz finden. Die Stube dominiert ein riesiger Ofen mit Kochplatte, Backrohr und obendrauf einem warmen Schlafplatz für kleine Kinder oder alte Leute. Dort darf auch der Samowar nicht fehlen. Diese Art von Ofen ist in der ganzen Bukowina verbreitet, die Lipowaner nennen ihn Lejanka.

Museum des Alltags

Im Museumsraum nehmen wir Einblick in den religiösen und weltlichen Alltag der Lipowaner. Mit kleinen Ausnahmen haben die ausgestellten Objekte bis heute ihre Relevanz. Zum Beispiel das bunte Padricinic-Kissen, ein traditionelles kirchliches Symbol. Das quadratische flache Pölsterchen, 30 bis 40 Zentimeter groß, wird verwendet, wenn man sich im Gebet bis zum Boden verneigt. Es stellt die Verbindung zwischen Himmel und Erde her. Auf den ersten Blick mutet es wie eine Patchwork-Arbeit an, wie  Recycling von alten Stoffresten. Doch tatsächlich sind es genau zwölf Dreiecke und vier Quadrate, die vier Linien bilden: Sie stehen für die zwölf Apostel, die vier Evangelisten und die vier Evangelien.

Farbenfrohe Holzgefäße demonstrieren den Brauch der russischen Holomskaya-Malerei, im 17. Jahrhundert im gleichnamigen Dorf entstanden. Bemalt werden Gefäße und Bestecke aus Holz mit kräftigem Rot, Grün und Gold auf schwarzem Grund.

Seit gut 300 Jahren ist der Samowar ein Symbol russischer Gastfreundschaft. Das erste Exemplar ist aus dem Jahr 1740 bekannt und stammt aus dem Ural. Bald darauf durfte das oft üppig verzierte metallene Gefäß, in dem Teewasser gekocht wird, in keinem guten Haushalt fehlen.

Kaum jemand, der sie nicht kennt: die Matriuschka-Puppen! Eine ganze Serie hölzerner, bunt bemalter, ineinandergeschachtelter, naiv bemalter Bäuerinnen aus dünnem Holz, mit Kopftuch, roten Bäckchen und kleinen Mündchen, eines der beliebtesten Souvenirs aus Russland. Hergestellt werden sie aus Erlen-, Linden- oder Birkenholz. Die Püppchen stehen für Fruchtbarkeit, Familie, Leben und Reichtum, sowie für den Fortbestand der Generationen – eines gebiert das nächste.

Typisch russische Instrumente sind Bajan  und Balalaika. Der Bajan, die osteuropäische Form des chromatischen Knopfakkordeons, Unterschiede zum Akkordeon bestehen in der Ausführung des Gehäuses und der Art der Stimmplatten, gilt als verbreitetes Folklore-Instrument. Sein Name soll sich von einem russischen Sänger und Geschichtenerzähler namens Boyan ableiten. Die Balalaika ist eine Art von Laute aus Holz mit drei Saiten, seltener drei Doppelsaiten, zur Begleitung traditioneller russischer Musik. Die älteste Erwähnung einer Balalaika geht auf das 17. Jahrhundert zurück. Die Lauteninstrumente wurden möglicher-weise von den Mongolen aus Zentralasien nach Russland mitgebracht.

Eine uralte Tradition – und beileibe nicht nur typisch russisch – ist der Empfang von Gästen mit Salz und Brot. Vor dem Kulturhaus warten Matriuschka Olga und „ihre“ Kinder nach dem Besuch der Kirche mit einem riesigen Hefezopfkringel, Liedern und Gedichten. Salz und Brot – wie fast überall auf unseren Reisen auf den Spuren der nationalen Minderheiten. Und wie überall in Rumänien, ein völkerverbindender Willkommensgruß.