Schafhirten unterwegs in Eigenregie

„La Drum“ von Dumitru Budrala zeichnet unkommerzielles Bild von Rumänien

Transhumanz macht aus jungen Hirten echte Mannskerle. Dumitru Budrala (rechts, in blauer Jacke) hat ihr hartes Leben auf Film gebannt. | Foto: dumitrubudrala.ro

Während der Dreharbeiten haben Budrala und seine Protagonisten es an Spaß nicht fehlen lassen. Rechts Vlad, links Haudegen Aron. | Foto: Dumitru Budrala

Ein spannendes Pendant zu „La Drum“ liefert der Schwarzweißfilm „Dem Himmel ganz nah. Die Kraft des Ursprungs“ (2010) von Titus Faschina, Heino Deckert und Thomas Ciulei, der das Leben der Familie des sesshaften Hirten Dumitru Stanciu in Jina porträtiert. | Foto: Bernd Fischer

Mag auch die Zahl der verlassenen Bauernhöfe in den Bergdörfern und der herrenlosen Sennhütten auf den Almen der rumänischen Karpaten von Jahr zu Jahr steigen und der Hirtenalltag langsam und unbemerkt aus dem Bild der Tiefebenen schwinden, steht die Transhumanz dennoch nach wie vor hoch im Kurs. Und das trotz der Gefahr, dass einer Schafherde und ihrem Hirten bei Eiseskälte und Wintersturm droht, durch Erfrierung oder Eingeschneit-Werden zu sterben. Noch furchtbarer ist das Ertrinken in der Donau, wenn man vom Sturmwind ins Wasser des kilometerbreiten Stromes getrieben wird. So mancher Hirte hat schon seine gesamte Herde unaufhaltsam in diese tückische Falle der Natur laufen sehen oder ist gar selbst mit von der Donau verschlungen worden, wenn es ihm nicht beschieden sein sollte, als noch wenig erfahrener Schäfer den Saisonaufenthalt in der Bărăgan-Tiefebene zu überstehen. 

Ein Hirte, der seine Herde im Frühjahr und Herbst mitten durch das Heimatdorf aufwärts zur Alm oder abwärts Richtung Winterwiesen führt, die Hunderte oder gar Tausende Kilometer weiter weg liegen, beschert Familie und Dorfbewohnern am Tag des Auftriebs oder Abtriebs die herrlichste aller Freuden.

Doch die Geschichte kann stets unerwünscht wie abrupt ihr Ende finden. Stützt sich ein Hirte bei Ankunft im Dorf allein auf seinen Stock, ohne die Herde um sich zu haben, ist etwas Schreckliches geschehen. So einen Tag will niemand im Dorf je erleben müssen, aber manchmal passiert es doch. Die Herde ist des Schäfers einziger Besitz und Reichtum, den er unterwegs zu erhalten und zu mehren bestrebt ist. Trifft er daheim ungewollt ohne tierische Begleitung ein, steht die glatte Null zu Buche. Ein bis auf den letzten Heller entleertes Budget.

Filmemacher Dumitru Budrala, Gründer des bald 30 Jahre alten Astra-Filmstudios Sibiu und des gleichnamigen internationalen Dokumentarfilm-Festivals, stammt aus dem knapp 1000 Meter hoch gelegenen Ort Jina 50 Kilometer westlich von Hermannstadt. Seine Kindheit hat er hier inmitten des Zibinsgebirges/Munții Cindrel verbracht. „Sooft wir Kinder miteinander spielten, drohte meine Mutter, uns ´zu den Schafen´ zu schicken, wenn wir unsere Schulaufgaben nicht erledigen würden. In unserer Wahrnehmung jedoch war das ein Konflikt, denn wir sahen doch, das da etwas Phantastisches, etwas Fabelhaftes geschieht. Warum droht Mutter mir damit, mich ´zu den Schafen´ zu schicken?, fragte ich mich damals“, räumt Budrala in einem Fernsehgespräch mit Schriftsteller Radu Vancu ein, das er am 16. Januar auf seinen Youtube-Kanal hochgeladen hat.

In dem 25 Minuten langen Gespräch, das bei Kunstlicht in der Bibliothek des Astra-Filmstudios aufgezeichnet wurde, erzählt Dumitru Budrala davon, schon als Kind kurzsichtig gewesen zu sein, weswegen es außer Frage stand, ihn jemals an das harte Leben als Hirte unter freiem Himmel heranzuführen. Er hat es nie tun müssen und verstand damals noch nicht, dass das Leben und Schlafen ohne Dach über dem Kopf, der Alltag draußen bei Regen und „das ständige Aufpassen auf diese Tiere“ kein Honiglecken ist. Für ihn hat der Mythos Transhumanz bis heute das unverfügbar Faszinierende nicht eingebüßt. „Der Herbst als Ende einer Welt“, weil Hirte und Schafherde sich in die schier unendliche Zeit des Überwinterns in der Ferne verabschieden, und „der Beginn einer Welt“, den pünktlich zum Anmarsch auf die Almen im Frühjahr die Tierglocken, die voll bepackten Esel, die Pfiffe und Schreie der Hirten und das unverwechselbare Blöcken der Lämmer einläuten – in so einem idyllischen Stimmengewirr ist Regisseur Dumitru Budrala aufgewachsen.

Am 25. Dezember 2020 hat er den 1997 von ihm selbst gedrehten Dokumentarfilm „La Drum“ auf seinen Youtube-Kanal gestellt. Leider zeigt der Streifen von 45 Minuten Spieldauer nichts von der Freuden- oder Weltuntergangsstimmung, die jährlich von Hirten und Schafherden in Bergdörfern entfacht wurde und bestimmt noch heute an manch einem Ort in Gebirgsnähe jährlich ein- und auszieht. Auch der traurig erstarrende Blick auf einen Sarg, den die Familie eines auf Transhumanz gehenden Hirten stets in Empfang zu nehmen gefasst sein musste, ist nicht ihm Drehbuch „La Drum“ enthalten. Dafür aber spielen Trauergesänge, von einer betagten Frauenstimme bebend vorgetragen („bocet“), die Hauptrolle zu Anfang des Films.

Die Doku dekonstruiert den Mythos, mit dem auch Kinder wie Dumitru Budrala aufgewachsen sind, und erzählt ungeschönt vom ungeschriebenen Auftrag eines jungen Mannes namens Vlad aus der ruralen M²rginimea Sibiului, sich auf Gedeih und Verderb den Gepflogenheiten der Transhumanz unterzuordnen. Er tritt das Erbe seines Vaters an, der als Schafhirte an einem Ort weit weg im Banat von einem Widersacher kaltblütig niedergestochen wurde. Vlad ist gemeinsam mit Nachbar Aron unterwegs und meistert die große Aufgabe trotz seines noch jungen Alters nach allen Regeln der Kunst.

Selbstverständlich, dass die beiden Kumpanen auf Transhumanz ihr karges Mahl dann und wann durch Fleisch aus der Schafherde ergänzen. Wie jeder andere Schafhirte von echtem Schrot und Korn wickelt auch Vlad, dem das Schlachten mit dem bloßen Messer ohne jeden Anflug von Reue von der Hand geht, seine Füße in Tücher, statt sich Socken überzustreifen. Füße und Stoffe werden am offenen Feuer getrocknet. Aron, der Typ mit dem flapsigen Zungenschlag, schimpft sich bei tagelang nicht enden wollendem Regen einen Teufel aufs Wetter und Kunden, für deren Gaumen der Käse entweder zu wenig oder zu viel Salz hat. Überhaupt hat Schafhirte Aron vor der Kamera von Dumitru Budrala einen Wortschatz drauf, der empfindliche Zuschauerseelen schamrot erglühen lassen kann.

Budrala hat „La Drum“ zu einer Zeit gedreht, als er noch knapp bei Kasse war, eine Kamera von der George Soros zu verdankenden Open Society Foundations (OSF) geschenkt erhielt und sich ohne die Unterstützung eines Mäzen aus Rumänien keine weitere technische Ausstattung hätte leisten können. Heute dagegen zählt Dumitru Budrala selbst als einer, ohne dessen Leistung Rumäniens Kultur bedeutend ärmer dastünde. Zurecht ist er stolz darauf, „La Drum“ mit kleinstmöglichen Mitteln gedreht zu haben – nicht so, wie es heute in der Branche als „low budget“ beworben wird, sondern eigentlich mit null Budget. Schriftsteller Radu Vancu bezeichnet diese Taktik schlechthin als „no budget“. Dumitru Budrala jedoch hat mit ihr großen Erfolg eingefahren: „La Drum“ wurde in Serbien, Rumänien, Griechenland, Frankreich ganze fünf Mal ausgezeichnet.

Irgendwo weit weg von der heimatlichen Mărginimea Sibiului hält die Kamera für ein paar Sekunden auf das Schild einer Dorfkneipe. Die kommunistisch anmutenden Lettern in Ölfarbe „S.C. Mimi SRL BAR-MIMI“, gläserne 0,33-Liter-Colaflaschen auf dem Tresen und zwei stämmige Roma, die auf Saxophonen die Sau rauslassen – einer von ihnen trägt eine Schirmmütze mit der Aufschrift „Audi Quattro“ – das Gesamtbild der Spelunke könnte die Zeit der 90er-Jahre nicht besser wiedergeben. Hirte Aron fühlt sich pudelwohl wie selten und ist total aus dem Häuschen; nachdem er einige Male mit einem hoch vor den Kopf gehaltenen Kasten Bier der Marke „Silva Reghin“ wortlos um die eigene Achse tanzt, dreht er mit einer jungen Dorfbewohnerin rasch eine Hora auf dem Tanzboden, was ihn für manche Entbehrung seiner Transhumanz entschädigt. Von den leisen Tönen, die der vergleichsweise introvertierte Weggefährte Vlad auf seiner Hirtenflöte unisono zu dem Folklore-Hit der beiden plärrenden Saxophone mitspielt, ist rein gar nichts zu hören.

Aron weiß nur zu genau, wie hart er für sein Brot arbeiten muss. Trotzdem kommt es ihm nicht in die Tüte, „wie die Touristen aus der Stadt ins Gebirge zu gehen. Um nichts in der Welt würde ich das tun! Ohne Tiere würde ich doch nicht einfach mal so alleine auf Hügeln und Bergen unterwegs sein wollen! Wir machen das mit Schafen, vom Herbst bis zum Frühling und vom Frühling bis zum Herbst. Sie schlafen im Zelt und im Schlafsack, wir im Pelz. Und das ständig, nicht bloß für einen Tag oder eine Woche. Für uns Hirten ist das Leben stets bitter. Immer unter dem freien Himmel. Kein Haus, kein Esstisch. Und sooft wir doch mal zuhause unter einem Dach schlafen können und uns zum Essen an den Tisch setzen können, ist das für uns ein wirklich ganz außergewöhnlicher Tag!“

Radu Vancu, neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit auch und vor allem Dozent an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt, findet, dass der Dokumentarfilm „La Drum“ mit einem schwer aus der regionalen Welt zu schaffendem Anspruchsdenken aufräumt: „Meistens entarten die nationalen Kulturtage zu Tagen der nationalistischen Kultur. Sie geraten zu einem Kitsch, der jedem vernünftigen Menschen sauer aufstoßen muss (…) Obwohl der Dokumentarfilm „La Drum“ von Dumitru Budrala klar um den nationalstiftenden Mythos kreist, den auch die Ballade „Miorița“ und der Roman „Baltagul“ aufgreifen, ist es mit als hohe Leistung zu werten, dass er kein bisschen in den Nationalismus und jene bedauerliche Rhetorik entgleitet, die von prägenden Institutionen Rumäniens geübt wird. Im Gegenteil, er bevorzugt die Wahrheit und konkrete Lebenswirklichkeit der betreffenden Menschen. Eine bewundernswerte Art, Rumänien zu feiern, weil von all der festlich, landschaftlich und patriotisch übertriebenen Schlacke befreit, die oft rings um solche Feierlichkeiten entsteht.“