Temeswar 2023 ohne Ende

Europäisches Kulturhauptstadtjahr wurde feierlich abgeschlossen

„Seid dankbar, dass ihr heute da sein könnt, seid froh, dass ihr das Herz in eurer Brust schlagen hört“: Die Worte der Musikerin Jessie J, die ein Konzert der Superlative bot, werden die Zuschauer noch lange begleiten. | Foto: Zoltán Pázmány

Die Gala in der Oper und die Freiluftkonzerte am Domplatz gehörten zu den über hundert Events zum symbolischen Ausklang des europäischen Kulturhauptstadtjahres in Temeswar. Ein Höhepunkt war der Auftritt von Katie Melua. | Foto: Zoltán Pázmány

Die Abschlussveranstaltung zog trotz Winterkälte Tausende auf die Straßen. | Foto: Adrian Anghel

Mit dem Nahverkehr ist die Fahrt an diesem Wochenende ausnahmsweise für alle kostenlos. Trotzdem stecken viele Autos im dichten Verkehr fest. Die Straßen sind voll – sowohl im Verkehr, als auch in der größten Fußgängerzone in ganz Rumänien. Der Anlass ist ein besonderer: Nach fast zehn Monaten wird das europäische Kulturhauptstadtjahr in Temeswar symbolisch abgeschlossen. Über hundert Kulturevents stehen auf dem Programm. Sie bieten einen Rückblick auf das verstrichene Jahr, aber auch einen Einblick in die Zukunft. 2023 soll bloß der Grundstein gelegt worden sein, der für eine neue Revolution – eine kulturelle Revolution – in Temeswar sorgen wird – sagen einstimmig  Organisatoren und Temeswarer Kulturmenschen. Das Bürgermeisteramt über das Projektezentrum Temeswar, der Temescher Kreisrat und das rumänische Kulturministerium haben in diesem Jahr für ein gemeinsames Ziel zusammengearbeitet: für Temeswar, die Kulturhauptstadt Europas 2023.

Vor der Temeswarer Staatsoper tummeln sich TV-Reporter, die Kameras stehen aufnahmebereit, vors Mikro treten, der Reihe nach, mehrere Menschen, die das Kulturhauptstadtjahr aktiv mitgestaltet und – erlebt haben. Bei minus 2 Grad Celsius friert schon das eine oder andere Frauenbein, denn in der Oper ist „Black Tie“ der Dresscode am heutigen Abend. Es riecht nach leckerem Kürtoskalács draußen – kein Wunder, denn der Weihnachtsmarkt wartet schon seit mehr als einer Woche mit Leckerbissen und Geschenkideen auf Besucher.  

Fast alle Plätze in der Oper sind besetzt. Ein Ereignis, das in die Geschichte eingehen soll, steht an. Die Gala zum Abschluss des Europäischen Kulturhauptstadtjahres beginnt in nur wenigen Minuten, und Diplomaten, Politiker, Kulturschaffende und -liebhaber sind gekommen, um gemeinsam die vergangenen Monate Revue passieren zu lassen und ein Fazit zu ziehen. 

Seit dem 17. Februar, als das Europäische Kulturhauptstadtjahr in Temeswar offiziell eröffnet wurde, sind keine vollen zwölf Monate vergangen, doch Kulturveranstaltungen gab es so viele wie noch nie. Über 2000 Events mit über zwei Millionen Teilnehmern machten aus der Stadt an der Bega das kulturelle Epizentrum Rumäniens. Und trotzdem: „In Temeswar geschieht nichts“ war eine Art Leitmotiv für die Gegner der derzeitigen Stadtverwaltung. Wer immer noch darauf beharrt, dass in Temeswar nichts passiert, der war wohl nicht in Temeswar in diesem Jahr, sagt die Journalistin Otilia Ghițescu, die für den offiziellen Newsletter des Kulturhauptstadtjahres zuständig gewesen ist. 

In einem Dokumentarfilm, der während der Gala im Operngebäude vorgeführt wird, kommen mehrere Leute zu Wort, die sich für das umfangreiche Programm als Organisatoren von Kulturveranstaltungen eingesetzt haben: Intendanten von Kultureinrichtungen, Journalisten, Professoren, Kunstkritiker oder einfache Kulturkonsumenten. Das Kulturhauptstadtjahr bewerten alle als Erfolg. Der Film hatte seine Vorpremiere am Abend davor, als im unlängst eröffneten Timiș-Kino am Opernplatz die Gala der Gemeinschaft ausgetragen wurde. Im Saal saß am Donnerstag die Temeswarer Gemeinschaft der Kulturschaffenden. „Die Kulturhauptstadt Temeswar sind wir alle“, hatte Galamoderatorin Roxana Morun gesagt. Von den 350 Organisationen im Kandidaturheft gab es im Kulturhauptstadtjahr 829 verschiedene Akteure. „Das gesamte kulturelle Ökosystem hatte einen Anstieg von 2,4 Prozent im Vergleich zum Anfang des Kulturhauptstadtjahres 2023“, sagte bei der Pressekonferez am Donnerstagvormittag Ramona Laczko David, die Koordinatorin des „TM2023“-Kulturhauptstadtprogramms seitens des Projektezentrums Temeswar. „2023 hat die Stadt in erster Linie einige europäische Werte bekräftigt: eine stärkere Gemeinschaft aufgebaut, Projekte entworfen, die in der Lage sind, das soziale und kreative Kapital der Stadt zu aktivieren. In den Kulturprojekten ging es um die Gleichstellung der Geschlechter, um Menschenrechte, um eine nachhaltigere gemeinsame Zukunft“, so Ramona Laczko David. 

Der Bürgermeister eröffnet als Gastgeber die Gala in der Oper. 25 Botschafter von drei Kontinenten, Parlamentarier und Europaabgenordnete, Staatssekretäre, die Kulturministerin aus Montenegro, aber auch Delegationen aus den Partnerstädten Temeswars – Graz, Karlsruhe, Czernowitz/Cernăuți, Lublin – und solche aus den Städten Elefsina und Veszprem, mit denen Temeswar den Kulturhauptstadttitel geteilt hat, sind dabei. Der Abend wird durch Musik aufgelockert. Die Stimmen der Sängerinnen Dora Gaitanovici und Emaa füllen den Raum. Der Tanzmoment „Jiezou“, eigens für diese Gala vom Choreographen Filip Stoica geschaffen, ist ein Genuss fürs Auge. 

„Ich glaube, wir hatten es nötig, dass alle Scheinwerfer auf uns gerichtet werden und wir uns im Spiegel anschauen und sagen: Oh, wir sind doch schön!“, sagt Bürgermeister Dominic Fritz. Alfred Simonis, interimistischer Vorsitzender der rumänischen Abgeordnetenkammer, betont: „Dieser Titel hat Temeswar und Rumänien auf die europäische Kulturkarte gesetzt und das ist vielen Menschen zu verdanken, die unseren Applaus verdienen. Ich habe versprochen, niemanden zu kritisieren, doch ich muss doch erwähnen, dass Temeswar von den zentralen Behörden in Bukarest nicht genügend unterstützt wurde“. Und weiter: „Zu Jahresbeginn sprach sich herum, dass dieser Titel ein Fiasko werden würde. Alle, die das geglaubt haben, haben sich stark geirrt. Menschen, die vor Museen Schlange stehen, Konzerte mit Tausenden von Menschen, Investitionen in Kulturinstitionen, private Investitionen bezeugen, dass dieses Jahr für Temeswar, für den Kreis Temesch und für Rumänien ein Erfolg gewesen ist“.  

„Eine europäische Kulturhauptstadt ist eine Stadt, in der du gern leben würdest. Der Status dieser soll das Leben der Gemeinschaft radikal verändern, indem es die Bewertung der Kultur als Profitgenerator promotet und ein Publikum begeistert, das weniger an Kultur interessiert ist“, sagt Staatsberater Victor Opaschi, der die Botschaft von Premier Marcel Ciolacu verliest. 

Der Vorsitzende des Temescher Kreisrats, Alin Nica, lädt das Publikum zum Nachdenken über das kulturelle Aufbrausen, das Temeswar in diesem Jahr erlebt hat, ein. Die Ausstellungen des Kunstmuseums, dessen Hauptförderer der Temescher Kreisrat ist, haben erheblich zum guten Gelingen des Kulturhauptstadtjahres beigetragen. Kreisratspräsident Nica erwähnt die Victor-Brauner-Ausstellung, aber auch das Highlight des Kulturhauptstadtjahres: die Rückkehr des renommierten Bildhauers Constantin Brâncuși „nach Hause“.  TM2023 soll eine Visitenkarte gewesen sein – für das, was noch kommen wird, so Alin Nica. Bürgermeister Dominic Fritz hat das letzte Wort. „Diese Schlussfeier fühlt sich wie ein grandioser Anfang an“, sagt er. „Wir sind jetzt überzeugt von der Energie Temeswars und der Kraft der Kultur“. Das viel zu kurze Kulturhauptstadtjahr geht eigentlich weiter. Temeswar 2023 soll niemals enden. 

Und vor einem Ende kann schon längst nicht die Rede sein, denn bei Einbruch der Dunkelheit ist die Stadt so belebt wie schon lange nicht mehr. Menschenmengen ziehen durch die Innenstadt, das Ziel ist klar: Es geht zum Domplatz. Da schlägt das Herz der Abschlussveranstaltung des Kulturhauptstadtprogramms „Temeswar 2023“. Die Reise soll an diesem Wochenende symmetrisch abgeschlossen werden. Genau dort, wo diese Reise im Februar 2023 begonnen hat, und auch die Bühne steht am gleichen Ort, wo sie damals gestanden hat – vor dem serbisch-orthodoxen Vikariat. 

Trotz Winterkälte haben sich Tausende von Menschen am Domplatz eingefunden. Mit der Performance des deutschen Trios Klangphonics wird die Stimmung etwas aufgewärmt. Die rumänische Sängerin Delia wirkt wie ein Magnet auf die Zuschauer. Der Platz ist voll. Highlight des Abends ist etwas später die britische Musikerin mit georgischen Wurzeln, Katie Melua. Es ist das erste Mal, dass das Temeswarer Publikum sie live in ihrer Stadt performen sieht. Mit sanfter Stimme und leisen Liedern führt die Sängerin das Publikum am Domplatz mit ihrer Gitarre in eine fast märchenhafte Welt des Traumes ein. An ihrer rechten Seite wird ihre Musik von Lavinia Chițu und Denis Blidariu in die Gebärdensprache gedolmetscht. Das Konzert ist für alle zugänglich. Auf Einladung der Künstlerin kommt auch der  Chor des Temeswarer Ion-Vidu-Kunstlyzeums auf die Bühne. Gemeinsam singen sie „Carol of the Bells“, ein populäres Weihnachtslied, das auf dem ukrainischen Volkslied „Ședrik“ basiert. Der Abend endet mit einer Luftakrobatik-Show der italienischen Künstlergruppe Sonics. 

Am Samstagabend scheint der Domplatz fast noch voller. Einige der angesagtesten und beliebtesten Künstlerinnen der Gegenwart treten während der Veranstaltung zum offiziellen Abschluss des „TM2023“-Programms auf die Bühne. Nach dem Eröffnungsauftritt von Emaa sorgt Róisín Murphy für Begeisterung. Die britische Künstlerin gilt als „innovativste und rastloseste Künstlerin Großbritanniens“. Die mehrfache Brit-Award-Gewinnerin und Grammy-Nominierte mit mehr als 1,5 Milliarden Streams, unzähligen Gold- und Platin-Alben und bis heute 23 Millionen verkauften Platten, tritt  zum ersten Mal in Temeswar auf. Mit ihrer kraftvollen Stimme, dem feinen Humor und ihrer Herzigkeit gewinnt sie die Zuschauer, die sich von ihr und der „Kulturhauptstadt“ nicht mehr trennen vollen. Nach dem Ausklang des Konzerts steht es auf einer Leinwand groß geschrieben: „Temeswar 2023 geht unendlich weiter“. Die Hoffnung, dass das tatsächlich so sein wird, hegen viele Temeswarer, die die Liebe zu ihrer Stadt nun dank des Kulturhauptstadtjahres (wieder)entdeckt haben.