Tinte in den Adern

Im Gedichtband „Aufhebung der Schwerkraft“ führt Hellmut Seiler durch die jüngere Ost-West-Geschichte

Voki nannten sie ihn, eigentlich hieß er Volkmar. Wenn er „von oben“ zu Besuch kam, brachte er Jaffa-Orangen und Kaugummi mit. Voki hatte einen Fiat 1300. „Damit fuhren wir tags darauf nach Kronstadt!“, schreibt Hellmut Seiler in seinem Prosa-Gedicht „Der Zigeunerjunge“. Geht man davon aus, dass das lyrische und das reale Ich identisch sind, dann war Hellmut Seiler damals elf Jahre alt und saß vorne im Wagen. Darin roch es nach weiter Welt, liefen die aktuellen Schlager: „Zwei Gitarren“, „Marmor, Stein und Eisen bricht“. Plötzlich ein Stoß, ein dunkler Körper prallte gegen die Windschutzscheibe und verschmierte sie rot. Der Körper gehörte einem Jungen, nun leblos. Die Mutter, umringt von Frauen in langen bunten Röcken, raufte sich die Haare. Die Miliz kam. Einer spuckte aus. „Lasst nur, sie macht schon einen anderen!“, sagte er. „Aus der Ferne pfiff eine Dampflok. Der Sommer war vorüber, / der Schlager-Sommer war vorbei.“

Das ist ein starkes, verstörendes Poem. Es steht gleich am Anfang von Hellmut Seilers neuem Gedichtband „Aufhebung der Schwerkraft“. Der vom Fiat erfasste Roma wird durch die Luft geschleudert, die Erdanziehung ist außer Kraft gesetzt, für den Jungen im Wagen gerät die Welt aus den Fugen. Die Staatsgewalt spuckt auf eine Minderheit. Der Junge im Auto ist noch ein Kind und machtlos. Aber dass der Sommer, sein Sommer, vorüber ist, das weiß er sehr genau.
„Romanian angst“

Es gibt noch andere Gedichte in diesem Band, die in der bleiernen Zeit der Ceau{escu-Jahre spielen, Prosa-Lyrik zumeist. So etwa „Die Wohnblockverantwortliche“. Sie heißt Larisa, steckt sich im Treppenhaus nervös eine Zigarette an, steht Schmiere, „solange die / von der Genossenschaft ,Augen und Ohren‘ / da drin nicht fertig sind in meiner Wohnung“.

Hellmut Seiler wurde 1953 in Reps/Rupea geboren. Er studierte Germanistik und Anglistik in Hermannstadt/Sibiu und arbeitete anschließend als Gymnasiallehrer. Von 1985 bis 1988 hatte er Publikationsverbot. 1988 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über. 2009 konnte er in Bukarest seine Securitate-Akte einsehen. Auch dazu gibt es ein Gedicht: „Romanian angst“. Als Seiler während der zermürbenden Lektüre eine Pause einlegen möchte und sich bei einer Frau nach einem Lebensmittelladen erkundigt, lautet die Antwort: „Este un angst“ – gleich um die Ecke sei ein „Angst“, eine zu der Zeit verbreitete Lebensmittelkette.

Hellmut Seiler hat einmal ein sehr schönes Wort geprägt: „zweiheimisch“. Und so geht es in den jetzt veröffentlichten, wohltuend klaren, klug komponierten und sich ins Gedächtnis schraubenden Gedichten von Rumänien nach Deutschland und – auch über andere Länder – wieder zurück.

So persönlich Seilers poetische Schilderungen sind, so weisen sie doch über ein individuelles Schicksal hinaus. Die vorliegenden Gedichte bilden eine allgemeingültige Geschichtserzählung, die fesselt. Sie unterstreichen – ohne Zeigefinger und Pathos – wie wenig vergangen das Vergangene ist. „Ein einsamer Soldat ist das Herz“, heißt es in einem Gedicht, das Georg Trakl gewidmet ist. Der Inhalt ist – schaut man in die Ukraine oder nach Gaza – brandaktuell. „Ein einsamer Soldat ist das Herz, / in einer zerfetzten Uniform; / die Kameraden sind in den Gräben, / liegengeblieben, / Rauch und Giftgas / verflogen, / Terraingewinne / zunichte gemacht.“ Ein einsamer Soldat ist das Herz, der einsamste überhaupt. „Weil es, nachdem / alle Schlachten geschlagen sind und / der Krieg längst zu Ende gegangen ist, / tapfer weiterkämpft.“

Mit einer Lupe am Auge

Bereits 1971 debütierte Hellmut Seiler mit Gedichten und Prosa in der „Karpatenrundschau“ und der „Neuen Literatur“. Seinen ersten Gedichtband „die einsamkeit der stühle“ veröffentlichte er 1982 im Klausenburger Dacia Verlag.
„Aufhebung der Schwerkraft“ gibt feine Kostproben aus der von Seiler seit Jahrzehnten betriebenen Wortschmiede. Er hat zahlreiche Bände mit Gedichten, Aphorismen, satirischer Kurzprosa und Übersetzungen veröffentlicht und gilt als Meister der Sprachdekonstruktion und des Sprachspiels, als gewitzter Jongleur unerwarteter Pointen. In der vorliegenden Auswahl sind auch leise Töne zu hören, Feines, Einnehmendes. Über den alten Uhrmacher in Temeswar etwa, der im Halbdunkel mit einer Lupe am Auge seinem Handwerk nachgeht. Erst als Seiler die Werkstatt verlässt wird ihm bewusst: „Der Mann repariert keine Uhren. / Er hält die Zeit an.“

„Der Füllfederhalter pumpt Tinte durch meine Adern“, erklärt Hellmut Seiler im Gedicht „Reihenfolge“. Und in „Zeitstempel“ teilt er mit: „Nur ich Ärmster singe flugs weiter / wie mir der Schnabel gewachsen ist.“ Bitte nicht aufhören, möchte man ihm zurufen.


Hellmut Seiler. Aufhebung der Schwerkraft. Gedichte. Berlin: Edition Noack & Block 2023. 141 S. 18 Euro