Ungebändigte äußere und innere Natur

Radu Ciorniciucs Dokumentarfilm „Acasă, My Home“ seit Kurzem im Kino

Am 18. September dieses Jahres hatte das Langfilmdebüt des 1987 in Buhuși geborenen rumänischen Journalisten, Produzenten, Drehbuchautors und Regisseurs Radu Ciorniciuc, der Dokumentarfilm „Acasă, My Home“ (Daheim, mein Zuhause), seine rumänische Kinopremiere. Zuvor war der 86-minütige Streifen auf zahlreichen internationalen Filmfestivals gezeigt worden, wo er bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, beispielsweise in Krakau, in Thessaloniki, in München und beim Sundance Film Festival in den USA, wo er auch seine Weltpremiere erlebte. Radu Ciorniciucs Film hat im kommenden Jahr sogar Chancen auf den Academy Award for Best Documentary Feature, den Oscar für den besten Dokumentarfilm.

Radu Ciorniciucs rumänischer Dokumentarfilm mit englischen Untertiteln erzählt die wahre Geschichte der elfköpfigen Roma-Familie Enache. Das Ehepaar Enache hatte sich um die Jahrtausendwende in dem rund 200 Hektar großen Geviert zwischen den Straßen Calea Văcărești, Șoseaua Olteniței, Șoseaua Vitan-Bârzești und Splaiul Unirii im Süden Bukarests niedergelassen, das während des Ceaușescu-Regimes mit einem hohen Betondamm umgeben worden war und das heute den offiziellen Namen Naturpark Văcărești, im Volksmund auch „Delta Văcărești“, trägt.

Der Anfang des Films zeigt eine landschaftliche Idylle, die genauso gut im Donaudelta hätte aufgenommen werden können. Kinder paddeln und schwimmen sommers in einem schilfbestandenen See, fangen Fische, stellen Schwänen nach, holen Wasser von einer Quelle, laufen durchs hohe Gras, spielen und genießen die freie und ungebändigte Natur. Doch dieses kindliche Paradies auf Erden bekommt schnell Risse. Die insgesamt neun Nachkommen der Familie Enache müssen sich nämlich schleunigst verstecken, weil die Sozialarbeiter des Bukarester Jugendamtes die völlig verwahrlosten Kleinkinder, Kinder und Jugendlichen, die unter prekärsten Verhältnissen zusammen mit Katzen, Hunden, Tauben und Schweinen unter einem Dach leben und außerdem weder in den Kindergarten noch zur Schule gehen, abholen und in Heimen unterbringen wollen.

Doch nicht nur das Sozialamt bedroht das Idyll der Enaches, sondern auch die rumänische ökologische Politik, die keinen Wohnsitz im staatlich geschützten Großstadtbiotop zulassen möchte. Berittene Polizei, Radfahrergruppen, Stadtbedienstete, der damalige rumänische Ministerpräsident Dacian Cioloș, der einen Baum pflanzende Prinz Charles dringen in den Lebensraum der Familie Enache ein und vertreiben sie schließlich aus ihrer Heimat, ihrem Zuhause. Man bringt sie zunächst in eine Sozialwohnung, die sie aber derart abwirtschaften, dass sie bald erneut umziehen müssen. Von ihren rassistischen Nachbarn werden die Enache-Kinder angefeindet, mit der Polizei geraten sie in Konflikt, weil sie illegal in den Seen der Bukarester Stadtparks fischen, schulisch sind sie stark im Hintertreffen, sie streunen auf den Straßen umher, wenn sie nicht gerade der Mutter dabei helfen, Plastikflaschen aus Sammelcontainern zu entwenden, um sie zu Geld zu machen.

Was als Familienidyll begonnen hatte, wandelt sich in Radu Ciorniciucs Film alsbald unter der Hand zur Familientragödie. Der Vater, der vormals mit geradezu archaischem Patriarchalismus und Sprüchen wie „Ich habe dir das Leben geschenkt, ich kann es dir jederzeit wieder nehmen!“ regierte, wird im neuen großstädtischen Ambiente in den Augen seiner Kinder zum Schwächling und Versager. Insbesondere der älteste Sohn der Enaches, Vali, hält mit der Kritik an seinem Erzeuger nicht zurück. Der Vater habe seinen neun Kindern nicht nur nichts bieten können, sondern ihnen außerdem alle Chancen auf ein halbwegs passables Leben genommen: die Chance auf Reifung, auf Entwicklung, auf Bildung, auf Welt.

Vali gelingt es, diesen dialektischen Umschlag von Natur in Unnatur, von Ungebändigtsein in Verwilderung, zu begreifen und zu durchschauen. Als junger Angestellter im Nationalpark Văcărești fischt er Plastikflaschen aus dem See, die er früher achtlos weggeworfen oder auch verbrannt hätte. Der Schwangerschaft seiner 15-jährigen Freundin steht Vali skeptisch gegenüber, weil sie nach seinen Worten noch ein Kind ist und weil er sich selbst noch wie ein Kind fühlt, das der Verantwortung baldiger Elternschaft nicht gewachsen ist, was Vali mit dem Schicksal seines Vaters und seiner Mutter gleichermaßen vor Augen geführt wurde. Ungebändigte innere Natur führt eben nicht immer, notwendig und von sich aus zu Reife und Entfaltung, sondern vielmehr oft genug zu Verbildung und Unnatur.

Radu Ciorniciucs Film besticht zunächst einmal darin, dass er die äußere Natur der Landschaft und die innere Natur des Menschen motivisch miteinander verschränkt und in ein dialektisches Verhältnis zueinander setzt. Die geschundene äußere Natur (man denke an die zahlreichen Brände im „Delta zwischen den Wohnblöcken“) findet ihr paradoxes Pendant in der scheinbar harmonischen Familienidylle, während die gefährdete innere Natur der einzelnen Familienmitglieder, die vor allem nach der Vertreibung aus dem Paradies zutage tritt (Valis jüngerer Bruder Rică träumt mit Tränen in den Augen nostalgisch von einer Rückkehr ins frühere Leben), im staatlich geschützten Naturpark Văcărești ihr paradoxes Pendant findet.

In „Acasă, My Home“ transzendiert der Regisseur ferner die Grenzen des Dokumentarfilmgenres hin auf die Gattung des Kunstfilms, der die nackte Wirklichkeit motivisch wie symbolisch überhöht. Ein solches filmisches Symbol wäre etwa der Vogel, der die Dialektik von Freiheit und Gefangenschaft versinnbildlicht. Ganz am Anfang hält eines der Kinder auf dem See einen jungen Schwan umklammert, lässt ihn dann aber doch weiter schwimmen. Vor dem Bukarester Athenäum fangen die Kinder Tauben, entlassen sie dann aber doch wieder in die Lüfte. Und eines der Enache-Kinder macht sich irgendwann an einem Vogelkäfig zu schaffen, in dem ein Wellensittich gefangen gehalten wird. Und schließlich wird im Film von Bukarester Bürgern erzählt, die einst Leim auf Baumäste schmierten, um der Wildvögel habhaft zu werden, die ihnen dann in der Gefangenschaft dennoch wegstarben.

Schließlich besticht der Film durch die vom Regisseur im Verein mit Mircea Topoleanu bediente Kamera, die Mensch und Natur gleichermaßen einfängt und freisetzt. Höchst beeindruckend der Moment in den Eingangssequenzen des Films, als sich die Kamera im Drohnenflug erhebt und plötzlich die Betonwüste Bukarests sichtbar wird, die den Naturpark Văcărești umschließt und einfriedet!