Von der Synagoge auf die Temeswarer Opernbühne

Das Wirken von Rafael Moor (1839-1924) in Temeswar

Rafael Moor mit seinem Sohn Henrik

Die Nachricht aus Temeswar musste so wichtig gewesen sein, dass selbst die Leipziger Zeitschrift „Signale für die Musikalische Welt“ Ende Mai 1867 diese veröffentlicht hat: „Als Curiosum wird aus Temesvar mitgeteilt: Der bei der hiesigen israelitischen Cultusgemeinde angestellte Cantor Raphael Moor hat, ohne seinem Vorstande und Rabbiner die Anzeige zu machen, im hiesigen Theater debütirt, und zwar am 18. Mai (1867) als Manrico im „Troubadour“. Der Vorfall hat begreif-licherweise unter den dortigen Israeliten Sensation erregt und erhielt der junge Sänger von Seite seiner Vorgesetzten am nächsten Tage die augenblickliche Entlassung als Cantor.“

Was war geschehen?

Keiner ist Prophet in seiner Heimatstadt

Bereits Mitte Mai 1867 verkündete die „Temesvarer Zeitung“ das Debüt des jüdischen Kantors der Innenstädtischen Synagoge in der Rolle des Manrico in Verdis „Troubadour“. Es sollte die erste Bühnenvorstellung Rafael Moors werden und natürlich hoffte man auf ein zahlreiches neugieriges Publikum. Doch die kommenden Ereignisse folgten so schnell auf-einander, dass die Zeitungen nicht einmal zum Verfassen einer Rezension kommen konnten. Bereits wenige Tage später tritt Rafael Moor als Edgar in der Oper „Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti auf der Temeswarer Bühne auf. Ein zweites Operndebüt des jüdischen Kantors in nur wenigen Tagen. Nur flüchtig erwähnt die Zeitung „…des ersten Debüts eines Sängers, welcher bisher seine herrlichen Stimmmittel im Tempel Gottes erklingen ließ, nun dieselben dem Dienste der Musen, der Kunst, dienstbar macht.“ Und weiter berichtet der Chronist der „Temesvarer Zeitung“, „…dass wir vom Erfolge dieses ersten Debuts wahrhaft überrascht waren und dem Debütanten zu diesem Debut nur Glück wünschen können. Selten sahen wir ein gelungeneres und befriedigenderes erstes Debut.“

Die Bühne des ehemaligen Temeswarer Theaters – das städtische Franz-Josef-Theater wurde erst geplant – wurde 1867 abwechselnd von drei Ensembles benützt: einem deutschen, einem ungarischen und einem serbischen. Zwischendurch fanden aber Vorstellungen rumänischer Gastensembles statt. Die Opern und Operettenvorstellungen wurden in jener Zeit vom Publikum unterschiedlich wahrgenommen. Bereits ein Jahr war vergangen, seitdem die erste Wagner-Oper in Temeswar – „Der Tannhäuser“ – aufgeführt werden konnte. Ganze Serien wurden in den Tageszeitungen da-rüber veröffentlicht – für oder gegen Wagner… Einige Jahre davor kamen die ersten Verdi-Opern auf die Bühne und das Temeswarer Publikum hat sie alle ausgepfiffen.

Doch lag es auch an der Qualität der damaligen Aufführungen und der damaligen musikalischen Verhältnisse: Bald klang der kleine Opernchor schlechter als die kratzenden Geigen im Orchestergraben, bald musste der Dirigent selbst die Gesangsrolle singen, es fehlte an allen Ecken und Enden an guten Solisten, und die Zahl der Zuhörer war nicht höher als die Anzahl der Akte der Oper. Doch in nur wenigen Wochen konnte sich die Situation schlagartig ändern: Es kamen Primadonnen und Heldentenöre aus Wien, Berlin oder Sankt Petersburg und selbst die Stehplätze waren alle ausverkauft. Josephine Gallmeyer, Marie Geistinger, Cornelia Hollósy – um nur einige zu nennen – brachten Leben auf die Bühne.

Als Kantor Rafael Moor sein Operndebüt feierte, war das ungarische Theaterensemble an der Reihe. Selbst die „Temesvarer Zeitung“ brachte damals die bezahlten Anzeigen in ungarischer Sprache. Die neue Synagoge der Innenstadt war erst zwei Jahre davor eingeweiht worden und darin stand die kleine alte Orgel des ehemaligen Tempels. Vermutlich waren dies keine so guten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tätigkeit Rafael Moors als neuer Kantor der jüdischen Gemeinde der Temeswarer Innenstadt. Seine Ausbildung muss jedenfalls eine sehr gute gewesen sein, da er von den Gemeindemitgliedern sehr geschätzt wurde. Diese Wertschätzung konnte nur noch durch sein doppeltes Operndebüt gesteigert werden: „Herr Moor, dem hiesigen Publicum durch seine gesanglichen Leistungen auf anderem Gebiete schon seit früher bestens bekannt, hat uns, wir müssen dies wiederholt betonen, durch seine beiden ersten theatralischen Debuts wahrhaftig überrascht.“ Wenn auch sein Vortrag „einen rituellen Beigeschmack“ besaß und sein Bühnenspiel noch nicht so vollkommen war, so konnte er das zahlreiche Publikum mit seiner Stimme begeistern: „Der Klangfarbe seiner Tenorstimme nach, eher zum lyrischen als dramatischen Vortrag hinneigend, besitzt Herr Moor einen schönen Stimmumfang, der auch noch über das a hinaus die Töne des hohen Registers voll und rund, kräftig und weich erklingen zu lassen vermag, ebenso wie die Mittellage und das Brustregister untereinander gut verbunden, sonor und weich sich anhören.“ Und der Chronist endet mit der Feststellung: „…Wir beglückwünschen den Debütanten auf seiner neuen Bahn, und sind überzeugt, dass ihm auf derselben bei seinem uns bekannten Ernste und Fleiße eine Zukunft bevorsteht, in welcher es demselben auch an Anerkennung nicht fehlen wird, die ihm übrigens in ehrenvollem reichen Maße trotz des Sprichwortes „Nemo in patria propheta“ auch bei seinen beiden ersten Debuts in unserer Mitte nicht fehlte. – Glück auf!“

Wusste man damals schon, dass Rafael Moor von seinem Arbeitgeber bereits gekündigt wurde? Konnte oder durfte er nicht beiden Beschäftigungen – als Kantor und Opernsänger – gleichzeitig nachgehen? Bereits der Temeswarer Oberkantor Angyalffy wurde vom Temeswarer Publikum als Sänger sehr geschätzt, der in zahlreichen öffentlichen Vorstellungen als Solist aufgetreten ist. Auch er wird seine Tätigkeit in Temeswar früh beenden, um ein solistisches Angebot in Wien zu übernehmen. Wir werden vermutlich nie die Gründe von Moors Kündigung genau verfolgen können, da uns die Aufzeichnungen darüber fehlen.

Kantor in Zagreb, Györ und Prag

Vermutlich war Rafael Moor 1867-1870 in Zagreb tätig. Er soll 1870 bis 1876 auch als Oberkantor in der neu erbauten Synagoge in Györ (Raab) gewirkt haben. In den Jahren 1876-1878 lebte er in Prag.

Moors Spuren in Prag sind heute nur mehr schwer zu verfolgen. Sein Name erscheint aber 1876 im Register der berühmten Prager Orgelschule, die er aber bald verlassen hatte. In Prag war auch ein Salomon Moor als Oberkantor tätig, der auch aus Tarnow stammte.

Im Jüdischen Museum Prag befindet sich eine Handschrift mit dem Gesang „Wajechulu“ von Rafael Moor in der Abschrift des Marienbader Kantors Leo Löwy.

Rafael Moor betätigte sich musikalisch in Prag nicht nur als Kantor, sondern trat auch als Solist in verschiedenen öffentlichen Konzerten auf. So kündigte das „Prager Tagblatt“ (Nr. 330, Mittwoch, 28.11.1877) für den 2. Dezember 1877 ein Benefizkonzert des Vereins Chanuka zur Unterstützung armer Kinder u. a. auch Rafael Moor an, „…der als Sänger sich eines vortheilhaften Rufes erfreut und der eine Kantate von W. A. Mozart singen wird“.

Außerdem soll er in Lemberg zur Eröffnung des Skarbek-Theaters 1877 im „Lohengrin“ aufgetreten sein.

Abstecher nach New York

1885-1888 lebte Rafael Moor in New York, wo sowohl er wie auch sein Bruder Simon einige Jahre als Kantor tätig waren. In einer New Yorker Zeitung war zu lesen, dass Rafael aus Großwardein in die USA gekommen sei. Sein Sohn Emanuel hatte in Amerika eine sehr reiche Frau irischer Abstammung kennengelernt, doch die Familie der Frau war wohl nicht einverstanden mit dieser Verbindung. Die Ehe wurde dann 1888 in London geschlossen und die Familie Moor hat Amerika wieder verlassen. Im Heiratsregister im Londoner Stadtarchiv steht als Beruf von Rafael „Gentleman“.

Psalm und Österreichische Volkshymne

In den folgenden Jahren, bis zu seinem Tode 1924, lebte Rafael Moor in Wien (Perchtoldsdorf, ab 1920 in der Türkenstraße). Kurzzeitig soll er sich auch in Zürich aufgehalten haben.

In Wien veröffentlichte Moor auch zwei seiner Kompositionen. Im Jahre 1910 vertonte er den Psalm 21 mit dem Titel „Festgesang. Zum 80. Geburtstag Sr. Majestät des Kaisers u. Königs Franz Josef I. für Männer- und gemischten Chor mit Orgelbegleitung und Einschaltung der Österreich und Ungarischen Volkshymne“. Dieses Werk ist im Selbstverlag erschienen.

Ein anderes Werk trägt den Titel „Sir Chádás. Freitag-Abend / Synagogengesänge und Recitative für Vorbeter, Soli und Chor mit und ohne Orgelbegleitung“. Gewidmet hat er diese Komposition „Meiner lieben Schwester und ihrem Gatten J. Straus“.

Anlässlich seines Todes im Jahre 1924 veröffentlichte die Wiener Zeitung „Die Wahrheit“ einen Nachruf auf Rafael Moor, in dem er als ein bedeutender Musiker und Kantor bezeichnet wird: „…Er sprach von Mohrs Bedeutung als Chasen, Kantor und Musiker und seiner idealen Auffassung der Hoheit des Amtes, nach welcher Auffassung er nicht nur selbst wirkte, sondern auch jüngere Kantoren in seiner Art zu bilden suchte. Sein Nachlass ist eine wahre Schatzgrube des Synagogengesanges und insbesondere sein ‘Schir kodausch’ entbehrt nicht nur jeder Banalität, sondern ist sogar echtestes Rezitativ. Am Grabe sang Kantor S. Kunstadt, assistiert vom Männerchor der Kultusgemeinde, ein ergreifendes ‘El mole rachmim’, in das die anwesenden Kantoren einstimmten, worauf Scholle auf Scholle fiel.“

Die Kinder von Rafael Moor

Emanuel Moor wurde 1863 in Kecskemét geboren und verbrachte danach mit seiner Familie auch einige Jahre in Temeswar. Er studierte Musik in Prag, Budapest und Wien (u. a. bei Bruckner), wirkte als Klavierlehrer am Szegediner Konservatorium und zog 1885 in die USA, wo er zahlreiche Klavierkonzerte gab. Bereits 1888 kehrte er nach Europa zurück. In der Zwischenzeit wurde er ein gefragter Komponist. Er ließ sich in der Schweiz nieder und wird auch ein bedeutender Erfinder im Bereich des Instrumentenbaus. Emanuel Moor starb 1931 auf Mont Pélerin (Schweiz). Er hinterließ eine ganze Reihe von kammermusikalischen Werken, Sinfonien, Liedern, einige Opern und stand in Verbindung mit bedeutenden Musikern seiner Zeit.

Henrik Moor kam 1876 in Prag zur Welt und starb 1940 in Fürstenfeldbruck, wo er sich bereits 1908 niedergelassen hatte. Er war ein bedeutender Maler. Bisher konnte ein einziges Foto mit Rafael Moor entdeckt werden, das ihn mit seinem Sohn Henrik zeigt.

Moor-Forschung in Bayern

In Fürstenfeldbruck wurde 2013 die Henrik und Emanuel Moor Stiftung ins Leben gerufen, die sich mit dem Leben und Wirken der beiden Söhne des Sängers und Kantors Rafael Moor (1839-1924) beschäftigt. Sie untersteht der Aufsicht der Regierung von Oberbayern.