„Was zu beweisen war“

Werkschau des rumänischen Gegenwartskünstlers Mircea Cantor im Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst in Bukarest

„Lebt und arbeitet auf der Erde“, so lautet die lakonische biografische Selbstaussage des 1977 geborenen Rumänen Mircea Cantor auf seiner offiziellen Internet-Website. Der in seiner Heimatstadt Großwardein/Oradea und in Nantes ausgebildete Künstler ist seit über zehn Jahren mit Einzelausstellungen auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent präsent. Er erhielt ehrenvolle Auszeichnungen wie den Prix Paul Ricard (2004) und renommierte Preise wie den Prix Marcel Duchamp (2011), der Mircea Cantor die Möglichkeit gewährte, seine Werke in einer Sonderausstellung im Pariser Centre Georges Pompidou der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Die seit dem 10. April 2013 im Bukarester Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst zu besichtigende Ausstellung ist nicht nur Mircea Cantors erste Werkschau in Rumänien, sondern auch seine bisher umfangreichste überhaupt. Sie gibt einen Überblick über fünfzehn Jahre künstlerischen Wirkens in verschiedenen Sparten zeitgenössischer Kunst wie Conceptual Art, Installationskunst, Performance Art und Videokunst sowie in den Bereichen Malerei, Fotografie, Plastik und Skulptur. Während der zwölfmonatigen Dauer der Bukarester Ausstellung sind in einem ‚Gästeraum’ jeweils einen Monat lang Werke anderer Gegenwartskünstler in Cantors Werkschau inkorporiert: derzeit eine Installation des ebenfalls aus Großwardein stammenden rumänischen Bildhauers Rudolf Bone.

Betritt man den Hauptraum der Cantor-Ausstellung im Hauptgeschoss des Bukarester Nationalmuseums für zeitgenössische Kunst, so fällt der Blick sogleich auf den monumentalen Schriftzug an der dem Eingang gegenüber liegenden Wand „SIC TRANSIT GLORIA MUNDI“, eine Art Menetekel, das sich der großen weißen Fläche buchstäblich eingebrannt hat: die schwarzen Lettern markieren die Spuren von Zündschnüren, die im Rahmen einer Performance bei der Vernissage der Ausstellung tatsächlich abgebrannt wurden.

Eine Videoinstallation mit demselben Spruch als Titel zeigt eine Asiatin in altgriechischem Gewand, die innerhalb eines Kreises herumgeht, der von verhüllt knienden und nach vorne gebeugten Menschen in islamischer Gebetshaltung geformt wird. Jeder einzelne der gebückt Kauernden streckt einen Arm vor, wobei die geöffneten Handflächen jeweils durch einen Verband verdeckt sind. Durch Abspulen einer Zündschnur werden nun die ausgestreckten Hände miteinander verbunden. Langsam bewegt sich dann die brennende Lunte über die verbundenen Handflächen hinweg, um schließlich der erhobenen Hand der Zeremonienmeisterin zu entgleiten. Eine Folge von sieben Fotos, die auf der erhöhten Galerie des Hauptraumes zu sehen ist, gibt nochmals, mit einer anderen Darstellerin im selben Gewand, die einzelnen Schlussphasen dieses Zündfeuers wieder: wie sich die Flamme sukzessive von unten nach oben bewegt, um schließlich im letzten Bild verlöschend herabzufallen.

Die Tatsache, dass der lateinische Satz „sic transit gloria mundi“ ein historisches Zitat darstellt und auf das Krönungszeremoniell des Papstes anspielt, bei dem ebenfalls Feuer und Werg beteiligt sind, macht deutlich, dass Mircea Cantor seine künstlerische Gegenwart nicht losgelöst von der Geschichte der Kunst betrachtet. So stellen beispielsweise zwei seiner Fotografien zwei berühmte Gemälde nach, „Europe supported by Africa and America“ von William Blake und „L’origine du monde“ von Gustave Courbet, wobei letzteres Aktgemälde seinerzeit einen derartigen Skandal auslöste, dass auch heute noch in der Bukarester Ausstellung vor dessen explizitem Inhalt gewarnt wird.

Schwarzweißfotos von israelischen Maschinengewehren, kaleidoskopartig angeordnet nach der Art mittelalterlicher Fensterrosen, sind in der Bukarester Ausstellung ebenso zu bewundern wie ein aus alten Ölfässern zusammengeschmiedetes Flugzeug, ein Maiskolben aus Kristall ebenso wie ein marmorner Richterhammer mit Resonanzblock, wobei eine der beiden Trefferflächen ein kleines Loch aufweist, aus dem weißer Puder gerieselt ist: Marmorpulver in Analogie zum Sägemehl des Holzwurmes.

Zahlreiche Videofilme in Endlosschleife entführen den Betrachter in andere Welten: so etwa die mit dem Portmanteau-Wort „Deeparture“ betitelte Videoinstallation, bei der sich ein Wolf und eine Hirschkuh in ein und demselben leeren und sterilen Raum begegnen, scheinbar ohne voneinander Notiz zu nehmen, oder die nur eine Sekunde lang dauernde Videoinstallation „Vertical Attempt“, bei der ein Kind auf einem Spülstein sitzt und mit einer großen Schere den perlenden Wasserstrahl durchzuschneiden versucht.

Die Wandmalerei „DNA Kiss“ besteht aus in drei Vierergruppen vertikal angeordneten geometrischen Nachbildungen von DNS-Doppelhelices, deren Stränge und Sprossen durch Mundabdrücke mit verschiedenfarbigen Lippenstiften wiedergegeben sind: zwölf Frauen, die jeweils einem anderen Tierkreiszeichen angehören, haben das Wandgemälde mühevoll durch unzählige Küsse erzeugt. In vergleichbarer Weise wurde das Gemälde „Rainbow“ geschaffen: Sieben nach der Art eines Regenbogens angeordnete Stacheldrähte sind das ästhetische Resultat unzähliger vom Künstler selbst stammender Fingerabdrücke mit farbiger Radiertinte.

Auch die rumänische Lebenswelt kommt bei Mircea Cantor nicht zu kurz. Eine Tuschezeichnung vom 22. März 2013 gibt den Bukarester Parlamentspalast wieder, den Ausstellungsort der Cantor-Werkschau, hier allerdings imaginiert mit einer Prozession von 365 Kühen, die das größte Gebäude Europas umrunden. Ein Bauernhaus in Originalgröße aus der Maramuresch erscheint in der Ausstellung in verschnürtem, verpacktem, gleichsam gefesseltem Zustand, hervorgerufen durch eine auffällige Seilornamentik, die sich über die hölzernen Außenwände und sogar über die gläsernen Fensterflächen zieht. Und ein Foto von einem typisch rumänischen Markt zeigt einen Verkäufer, der sichtbar zwar nichts anzubieten hat, aber mit Hilfe eines Pappschildes auf seine imaginäre Ware hinweist: „Verkaufe meine freie Zeit (Preis verhandelbar)“.

Überhaupt ist der Humor, neben der künstlerischen Kreativität und der intellektuellen Qualität, ein hervorstechendes Merkmal des Werkes von Mircea Cantor. Die Skulptur „With a free smile“ stellt einen rundum geschlossenen Terrakottasarg dar mit einem Schlitz auf der Oberseite für den Münzeinwurf. In dem Foto „All the directions“ hält ein Anhalter, der per Autostopp mitgenommen werden will, am Straßenrand sein Ortswunschschild hoch: es ist weiß und leer. Und beim Verlassen der Ausstellung stößt man auf einen spiegelverkehrten Schriftzug in Form einer Neonleuchtröhre. Der gegenüber hängende Spiegel gestattet mühelos dessen Entzifferung: „Mehr Wangen als Ohrfeigen“.

Die Ausstellung, die noch bis zum 13. April des kommenden Jahres im Bukarester Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst mittwochs bis sonntags von 10 bis 18 Uhr besichtigt werden kann, trägt den Titel: „Mircea Cantor Q.E.D.“. Quod erat demonstrandum, die Schlussformel einer jeden mathematischen oder logischen Beweisführung, wird hier zur Aufforderung, sich der genussvollen Erfahrung von Werken eines Künstlers auszusetzen, der sich bewiesen hat.