„Wohin, zum Teufel, sollte ich auch gehen?“

Zu dem Erzählungsband „Krähensommer und andere Geschichten aus dem Hinterland“ von Balthasar Waitz

Seit seinem 1996 im Bukarester Kriterion Verlag herausgebrachten Prosaband „Alptraum“ ist Balthasar Waitz vor allem als Journalist in Erscheinung getreten. Als solcher zeichnet er sich durch seine sachliche, unaufdringliche aber keineswegs unkritische Berichterstattung aus, die er nicht selten mit einem Hauch von wohlmeinender  Ironie zu würzen weiß.

Während der letzten zwei Auflagen der Reschitzaer Deutschen Literaturtage war Balthasar Waitz erfreulicherweise als lesender Autor Gast der Veranstaltung, sodass der kürzlich im Temeswarer Cosmopolitan Art Verlag erschienene Band Krähensommer ein länger erwartetes Buch darstellt.

Der Band enthält sehr kompakte, größtenteils in sich abgerundete Texte, die ohne Weiteres als selbstständige Geschichten gelesen werden können, da sie grundsätzlich auf jeweils einen epischen Kern fixiert sind und diesen beinahe lakonisch aber umso pointierter aus der Perspektive entweder eines personalen Ich-, oder eines allwissenden Erzählers schildern. Es entsteht ein Mosaik skurriler Figuren und Begebenheiten, deren Ausgangs- und Mittelpunkt das eigenartige Universum des Banater Heidelandes, sprich,  des Dorfes ist.

In mehreren Titeln werden Ortsbezeichnungen angeführt, wie etwa das mittlerweile fast zur Legende gewordene Nitzkydorf, Gataja, Wolfsberg oder Moritzfeld; man ist trotzdem schlecht beraten, in den Geschichten von Balthasar Waitz das exakte Abbild z. B. seines Heimatdorfes und dessen ehemalige und gegenwärtige Bewohnern in den Geschichten wiederfinden zu wollen.

Vielmehr entwirft Waitz hier die ironisch gebrochene Topografie eines generischen Dorfes, das sich wörtlich und bildlich in den Niederungen befindet, seinen Menschen zwar einen gewissen Fernblick ermöglicht, aber jegliche Perspektive des Auf- oder Ausstiegs verweigert und zum Schluss als Charleville auf der großen Landkarte endgültig verloren zu gehen scheint: „Am Ende werden sie das Nest trotzdem liebevoll Charleville nennen. Von diesem Ort soll hier die Rede sein. Der Ort ist heute so winzig, dass es richtig Mühe macht, ihn mit der Fingerspitze auf der Landkarte zu finden. Damit nicht genug: Wenn man Atem schöpft oder sich für den Augenblick an den Kopf greift, um die Brille zurechtzurücken, dann geschieht’s. Vergeblich sucht man nun den Ort verzweifelt mit dem Finger auf der Landkarte. Er ist weg. (...) Verloren ist verloren. Nein, man findet das verschollene Dörfchen nie und nimmermehr. Höchstens in deinen schönen Gedanken, mein suchender Freund.“ (S.202)

Die Geschichten, die Waitz erzählt, werden aus der Retrospektive des jeweiligen Erzählers in knapp lapidarem Stil vor den Augen des Lesers aufgerollt, manchmal wie regelrechte (Kurz)Filme in schwarzweißer oder sepia Färbung, mit dem für ältere Filme charakteristischen Flimmern, mit Rissen, Streifen und  hin und wieder Kratz- und Brummgeräuschen. Man ist irgendwie an Werke von Fellini oder Kusturica erinnert, wenn man über die Wunderkühe der kommunistischen LPG-Brigade, über den Dorflehrer, den ständig angetrunkenen Nachtwächter der Kuhställe, die zum Tode erkrankte Mutter in ihrem hohen Bett oder über das trostlose Arbeiterviertel in Reschitza Nord liest.

Dem Autor gelingt es in seinem minimalistischen  Erzählstil, den Geschichten besondere Aussagekraft zu verleihen und Vergangenes suggestiv aufleben zu lassen, wie beispielsweise in „Das hohe Bett“, „Russische Zwillinge“, „Der geheime Onkel“, „Reschitza Nord“, „Niemandsland“ oder „Franz“.

Die Geschichten von Balthasar Waitz zeugen von einem notwendigen, keineswegs einfachen, schmerzfreien Bewältigungsprozess, den nicht allein der Autor nachvollziehen und überstehen musste. Jeder Leser, der sich auf die Geschichten aus dem Hinterland einlässt, lässt sich letztendlich auf Vergangenheitsbewältigung ein: Waitz fordert einen in seiner wohlwollend ironischen, keineswegs aggressiven Art auf, sich noch einmal der kommunistischen Zeit zu stellen und sich mit wesentlichen Fragen nicht nur die deutschsprachige Minderheit (des Banats) betreffend auseinanderzusetzen.

Müßig zu sagen, dass man es hier mit der Sicht eines nicht ausgewanderten Autors zu tun hat, der jener Generation angehört, die ins sozialistische System hineingeboren wurde und sämtliche Facetten dieses Systems kennengelernt hat.

Waitz erzählt ohne Pathos und ohne verbitterte Betroffenheit Tragikomisches aus der Zeit der „Scheißkommunisten“ und hat den Mut, einem seiner literarischen Alteregos, dem Kind Georg, solche Sätze in den Mund zu legen, wie: „Irgendwie war ich auf traurige Art froh. Ich durfte hier bleiben. Ich musste nicht fortgehen. Wohin, zum Teufel, sollte ich auch gehen?“ (S.58) oder: „Damals, bevor ich die ganze Falschheit der Welt kennengelernt hatte, war ich noch ein Kommunist. Nur wusste ich es nicht.“ (S.85)

An einigen Stellen seiner Kollage skurriler Figuren und Situationen lässt sich Waitz zu Darstellungen mit surrealistischem Touch hinreißen, was der Qualität seiner nüchternen Prosa keineswegs schadet, wie etwa in folgender Passage aus der  Erzählung „Franz“: „Nachts ist das Leben des Kindes furchtbar. Die Betten knarren, schnaufen und jaulen wie Katzen. In den Kästen und alten Truhen lauern knabbernde Ratten. Von den Bäumen fallen Steine aufs Dach (...). Am Tag zischeln die Sensen wie Schlangen im Gras. Das Fuhrwerk knirscht mit den Zähnen.“ (S. 154).

„Krähensommer und andere Geschichten“ aus dem Hinterland von Balthasar Waitz enthält Texte, die auf jeden Fall nicht nur ein einziges Mal gelesen werden wollen und sie hätten ganz sicher eine ansprechendere grafische und verlagstechnische Aufmachung verdient, immerhin handelt es sich hier weder um ein traditionelles Heimatbuch noch um die (verkappte) Geschichte der (ehemaligen) landwirtschaftlichen Produktionsgesellschaft aus Nitzkydorf.

Balthasar Waitz: „Krähensommer und andere Geschichten aus dem Hinterland“, Temeswar, Cosmopolitan Art, 2011