Zukunftsansichten einer serbischen Katze

Anton Sterbling mit neuem Erzählband im Pop Verlag

Anton Sterbling: Klimadelirium und andere furchtbare Erzählungen, Pop Verlag, Ludwigsburg 2020, 244 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 9783863563035.

Ob sich der Kater Murr mit einer Katze vom Balkan gut verstanden hätte? Ob E.T.A. Hoffmann nach der Lektüre von Anton Sterblings Erzählungen zu einer weiteren narrativen Volte ausgeholt hätte und seinem bildungsbeflissenen Kater Murr eine unvergessliche Reise ins rumänische und serbische Banat beschert hätte? – Das werden wir nie erfahren. Vorstellbar jedoch wäre es, dass Kater Murr, mit den komplexen Klimafragen unserer Tage konfrontiert, im „Klimadelirium“ endet. Dafür liefert uns Anton Sterbling, Autor zahlreicher (wissenschaftlicher – und einiger literarischer) Bücher und Gründungsmitglied der „Aktionsgruppe Banat“, eine phantastische Steilvorlage.

In seinem jüngst erschienenen Erzählband präsentiert Sterbling den Fall des Prof. Dr. Dr. h. c. Bartholomäus Jeanpaul, Professor für frühneuzeitliche Literatur an einer deutschen Universität (der Ortsname wird nicht genannt, er spielt auch keine Rolle). Den Hans-Jakob-Christoffel-von-Grimmelshausen-Experten beschäftigen die „enigmatischen Beziehungen zwischen kollektiven Katastrophenerlebnissen, seltsamen Todeserfahrungen und bestürzenden Weltuntergangsvisionen“. Apokalypse und Utopie treiben ihn um und an. Seine „Forschungsfreiräume“ nutzt er, um das Weltgeschehen noch eingehender zu erforschen. Ein Leben für die Forschung, könnte man meinen. Seine Familie läuft im Hintergrund in einer anderen Timeline mit. Seine Frau Greta Agathe betreibt eine Kunstgalerie und vergnügt sich mit ihren Künstlerfreunden; seine Kinder – Agathe Greta, Umweltaktivistin, und Sohn Bartholomäus, Musiker – sind erfinderischer als ihre Eltern bei der Namensfindung der Zwillinge und gehen ihren eigenen Weg.

Eines Tages – kaum zu glauben – packt Bartholomäus seine sieben Sachen und macht sich in Richtung Südosten auf den Weg. Er hinterlässt seinen guten Ruf – und eine Karteikarte. Auf Letzterer steht: „Sorgt euch nicht und wartet nicht auf mich. Ich komme erst zurück, wenn ich das Rätsel gelöst und das Mysterium des ‘Klimadeliriums‘ halb-wegs erkannt habe.“ Dass eine Heimkehr unwahrscheinlich ist, ihm mindes-tens genauso viele seltsame Abenteuer bevorstehen wie dem armen Tor Simplicissimus, ist nicht weiter verwunderlich. Schon der Begriff ‘Klimadelirium‘ entstammt einem Traum des Herrn Professors. Traumverloren und labyrinthisch wirkt zudem seine ganze Reise. Allerdings sind die für Bartholomäus unbekannten Landschaften Südosteuropas durch und durch real.

Im Timok-Tal beispielsweise trifft er eine eigenartige Katze. Sie hat die Fähigkeit, sich in einen alten Mönch zu verwandeln. Nach der Begegnung mit ihr verliert sich Bartholmäus‘ Spur für immer. Doch der Leser kann die Spur der Katze aufnehmen. Und diese Spur geleitet ihn zurück an den Anfang des Erzählbandes. Dort erfährt er, was die Katze in ihrem „leidgeprägten Serbien“, „diesem traurigen Land“, „auf diesem zeitverlorenen, melancholischen und manchmal stürmischen Balkan“ erlebt hat: eine tausendjährige Geschichte. Dieser geht Anton Sterbling in seinem Erzählband nach – mit Witz und Humor, mit viel Phantasie und einer Prise Wehmut.

Was wir künftigen Lesern des Weiteren in Aussicht stellen können: einen teuflischen Pakt (er ist kein einzig deutsches Monopol, wie wir erfahren) und einen vielversprechenden Blick in die Zukunft. Denn die serbische Katze hat es nicht nur mit den Verwandlungen: Sie hat auch Zukunftsvisionen – und diese lauten in etwa so: Deutschland gibt es nicht mehr, stattdessen die „Republik der Juchtenkäfer“ mit Juchtenkäferzüchtern, denen das Leben in Freiheit genauso suspekt erscheint wie anno dazumal den Genossen im Banat im Dienst der Securitate. Wer in der „Republik der Juchtenkäfer“ opponiert, wird in eine Strafkolonie deportiert, wo er – und das ist die schönste Aussicht des Buches – die Mitglieder der Aktionsgruppe Banat trifft. Zum Glück landet der „seit mehreren hundert Jahren taube und zwischenzeitlich erblindete Schriftsteller Anton Sterbling“ auch dort, denn so erfahren wir, wie es um Richard Wagner, Gerhard Ortinau, Werner Kremm, Ernest Wichner, Johann Lippet, Rolf Bossert, Albert Bohn und William Totok bestellt ist.

Das Staunen der Rezensentin ist groß: Womit ein Erzähler vom „Balkan“, der eigentlich emeritierter Soziologie-Professor ist, aufwarten kann – unglaublich! Und was die Melonengasse in einem banatschwäbischen Dorf an gespenstischen Familiengeschichten birgt, ist so verrückt wie die Realität selbst. Anton Sterbling hat Letztere gut beobachtet und in Fiktion gegossen. Den Band voller Skurrilitäten widmet er seinen „Freunden der ehemaligen Aktionsgruppe Banat“ – überpünktlich zum 50. Jubiläum der Gruppe im März 2022.