Auch Sprachen haben Denkmäler

Das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch, sein Werden und seine Bedeutung

Dr. Sigrid Haldenwang

Viele Zettel müssen durchgesehen werden beim Bearbeiten eines Wortes.

Eines der beiden Regale voller Zettelkästen
Fotos: Hannelore Baier

Siebenbürgisch-sächsische Wortklauberei.Jeweils einmal im Monat „klaubt“ Dr. Sigrid Haldenwang Wörter aus dem Siebenbürgisch-Sächsischen heraus. Sie wollen bekanntes Mundartliches auffrischen, aber auch Unbekanntes bringen, Herkunft verschiedener Wörter klären, sowie auf Bräuche, Redensarten, Aberglauben und sonstiges Überliefertes hinweisen. Die „Wortklaubereien“ erscheinen in der Kulturseite der ADZ, ähnliche Beiträge veröffentlicht sie in der „Hermannstädter Zeitung“. Es sind inzwischen „170 Nebenprodukte“ der eigentlichen Arbeit, an der Dr. Haldenwang seit nunmehr 42 Jahren sitzt und deren Abschluss leider ungewiss ist: die Fertigstellung des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuches. Da gilt es noch Worte zu einigen Anfangsbuchstaben zusammenzuklauben.

Das Wörterbuch wird im Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften in Hermannstadt/Sibiu (der Rumänischen Akademie Bukarest unterstellt) erarbeitet. An dem unter „Wörterbuch“ genannten Riesenvorhaben arbeitet Dr. Sigrid Haldenwang zurzeit mit der Lexikografin Malwine Dengel zusammen. Beide haben das Alter erreicht, in dem man sich Ruhe gönnen darf. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin ersten akademischen Grades hat Haldenwang das Recht, über das Rentenalter hinaus als Angestellte der Akademie zu arbeiten. Dengel trat in den Ruhestand, blieb dem Wörterbuch aber als Mitarbeiterin treu, denn es gilt, bis zum Jahresende den 10. Band des Wörterbuchs (S–Schenkwein) zur Drucklegung abzugeben. Immer wieder wird versucht, Mitarbeiter heranzuziehen und Nachwuchs auszubilden, doch ist dieses in den letzten Jahren nicht gelungen. Zum einen ist der Lohn für einen Forscher in den Anfangsjahren sehr klein, zum anderen sind die meisten deutschen Jugendlichen, die das Siebenbürgisch-Sächsische noch im Ohr haben, ausgewandert, während rumänische Jugendliche, die Germanistik studieren, die Voraussetzungen für diese Arbeit nicht mitbringen. Unverzichtbare Eigenschaften aber dürften für diese Arbeit auch Ausdauer, Hingabe und Hang zur Genauigkeit sein.

Nach „Sch“ folgen noch einige Buchstaben im Alphabet, weswegen wir wissen wollten, wie viele Jahre es noch benötigen würde, um alle „abarbeiten“ zu können. Das hänge davon ab, ob Nachwuchs gefunden wird oder eventuell Mitarbeiter aus dem Ausland. Prophezeiungen in Jahren wollte Dr. Haldenwang nicht machen, auf jeden Fall sind es mehrere. Es besteht aber auch die Möglichkeit, künftig in Lieferungen zu arbeiten, die dann später zu einem Band zusammengefasst werden.

Sigrid Haldenwang, 1943 in Hermannstadt/Sibiu geboren, studierte an der Universität Bukarest Germanistik, war zunächst Deutschfachlehrerin in Ortschaften der Umgebung von Hermannstadt, ehe sie 1971 zum „Wörterbuch“ kam und zur Lexikografin ausgebildet wurde. Ihre Lehrmeisterinnen in der siebenbürgisch-sächsischen Dialektologie waren Anneliese Thudt und Gisela Richter. Dem 1956 bestehenden Wörterbuchteam in Hermannstadt gehörten Bernhard Capesius (als wissenschaftlicher Berater), Anneliese Thudt, Gisela Richter und Roswitha Braun-Sánta an. Zu diesem Team kam zunächst Sigrid Haldenwang hinzu. Nach der Ausreise von Braun-Sánta und Gisela Richter konnten Ute Maurer und Stefan Sienerth als Mitarbeiter eingestellt werden, die dann ebenfalls nach Deutschland ausreisten. Nachgekommen sind Isolde Huber, die auch ausgeschieden ist, und Malwine Dengel. Zeitweilig mitgearbeitet haben Marion-Elke Cinăzan und Rolf Auner. Geblieben sind letztlich Sigrid Haldenwang und Malwine Dengel.

Wörter im Zettelkasten

Wie die eigentliche Arbeit am Wörterbuch aussieht? Dr. Haldenwang erklärt: Der Zettelbestand ist in Holzkästchen alphabetisch eingeordnet; die Zettelkästen selbst befinden sich in Regalen. Wenn man an die Ausarbeitung eines Wortartikels herangeht, nimmt man einen Zettelkasten heraus und bearbeitet die darin vorhandenen Wörter in alphabetischer Reihenfolge. Heutzutage tippt man das zu bearbeitende Wort in allen Lautvarianten in den Computer ein und kann dann „schön wirtschaften“, d.h. sehen, welche Lautform vor der anderen alphabetisch folgt. Früher musste man den ganzen sogenannten „Lautkopf“ auf dem Papier zurechtlegen.

Damit ist Punkt Eins, das Zurechtlegen der Lautformen, beendet. In einer zweiten Etappe stellt man fest, was das Wort bedeutungsmäßig hergibt und macht sich bei umfangreicheren Wörtern dazu einen Plan. Die Zettel werden dann nach Bedeutungen gebündelt und die Beispiele den Bedeutungen entsprechend in den Computer eingegeben. Beim Verb „sagen“ konnten zum Beispiel 17 Bedeutungen herausgefunden werden (auch urkundliche Belege können die Bedeutungen eines Wortes bereichern, Näheres dazu weiter unten). Bei so umfangreich belegten Wörtern kann man auch andere Dialektwörterbücher als Orientierungshilfe heranziehen. In einer dritten Etappe erfolgt die Angabe der Komposita, Ableitungen mit einbegriffen. Für „sagen“ zum Beispiel „ver-“, „vor-“, „zu-“ usw. Danach folgen die Synonyme. Je mehr Lautvarianten, Mundartbelege und Bedeutungen ein Wort hat, desto langwieriger ist die Ausarbeitung. Letztlich ist Wörterbucharbeit auch eine Gemeinschaftsarbeit, man tauscht die ausgearbeiteten Artikel gegenseitig, und bespricht gemeinsam Ungeklärtes.

Die Wortschatzsammlungen gehen bis „um 1900“ zurück. Ein Großteil der Dialektaufnahmen ist den Feldforschungen von Anneliese Thudt und Gisela Richter zu verdanken, die in den 1960-er Jahren in den meisten Ortschaften der siebenbürgisch-sächsischen Mundartlandschaft Tonbandaufnahmen durchgeführt haben – meist an Hand der „44 Wenkersätze“, die vom deutschen Sprachwissenschaftler Georg Wenker um 1880 zusammengestellt wurden, um Erhebungen für Mundarten zu machen. Heute können nur noch gezielt Mundartbeispiele für weniger gut belegte Wörter eingebracht werden.
Mundart oder Sprache?

Ist das Siebenbürgisch-Sächsische eine Mundart oder eine Sprache, wollten wir von der Sprachwissenschaftlerin wissen. Das Siebenbürgisch-Sächsische ist ein Dialekt, dem rund 240 Ortsmundarten angehören, erklärt Dr. Haldenwang. Das Siebenbürgisch-Sächsische gehört zu den fränkischen Mundarten des Mittelrheins. Zu der fränkischen Grundlage kamen im Laufe der Ansiedlung in Siebenbürgen ostmitteldeutsche und oberdeutsche Sprachelemente hinzu. Die meisten gemeinsamen Merkmale hat es mit den Mundarten, die zwischen Köln und Trier gesprochen wurden, sowie mit dem Luxemburgischen. Das jahrhundertelange „Miteinander“ der Sachsen, Rumänen und Ungarn widerspiegelt sich aber auch im Wortschatz. Als Beispiele seien Pflanzennamen genannt, wie: Baraboi (die Kartoffel) aus rumänisch mundartlich  b a r a b o i u ; oder in Hybridbildungen mit entlehntem Bestimmungswort und deutschem Grundwort wie Kokeschblume, mundartlich kokeschblam (Hundszahn), wo das Bestimmungswort das rumänische  c o c o ş  (Hahn) ist. Da durch den Vokalismus bedingt in jeder Ortschaft eine andere Mundart gesprochen wurde, spricht man von der Buntheit des Siebenbürgisch-Sächsischen, die sich aber auch im Wortschatz feststellen lässt. Der Konsonantenstand ist dagegen konstanter. Außerdem muss festgehalten werden, dass die siebenbürgische Mundartlandschaft nach dialektgeografischen Kriterien in das Südsiebenbürgische und in das Nordsiebenbürgische zerfällt, die ihrerseits nicht einheitlich sind. Gemeinsamkeiten zeigen die grammatische Struktur und der Wortschatz.  Genauso schwer, wie die Frage nach der noch benötigten Jahre, um das Wörterbuch abzuschließen, lässt sich jene nach der Zahl der Sprecher des Siebenbürgisch-Sächsischen beantworten. In Hermannstadt ist es fast ausschließlich die ältere Generation, jedoch wird es zum Beispiel auch in Familien in Deutschland weiterhin gepflegt.

Ein Nachschlagewerk

Das Wörterbuch belegt den siebenbürgisch-sächsischen Allgemeinwortschatz der rund 240 Ortsmundarten in allen bäuerlichen Lebensbereichen. Im Unterschied zu den Dialektwörterbüchern des deutschen Sprachraums werden auch Belege aus siebenbürgischen Urkunden des 13. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aufgenommen. Diese Wörter sollen den Einfluss des Dialekts auf die deutsche Schriftsprache in Siebenbürgen belegen und sind gleichzeitig wichtige Zeugen für die Erforschung der Geschichte der deutschen Sprache.

Das Wörterbuch, das einen im Untergang begriffenen Dialekt dokumentiert, ist auch für die Mundartforschung im deutschen Sprachraum von Interesse, da das Siebenbürgisch-Sächsische altertümliche Sprachzüge bewahrt hat, die deutsche Mundarten nicht mehr belegen können. Es ist ein Nachschlagewerk für Sprachwissenschaftler, Volkskundler, Soziologen, Historiker und für alle, die an der Mundart dieser mittelalterlichen deutschen, osteuropäischen Sprachinsel und deren Sprechern interessiert sind.