Autofreie Städte – ein Weg zur urbanen Klimaneutralität?

Das Konzept der „15-Minuten-Stadt“ als Paradigmenwechsel

Der Ausbau von Radwegen ist für eine autofreie Stadt essenziell.
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Vollgestopfte Straßen sollen in Paris bald der Vergangenheit angehören.
Foto: Antonio Magri, www.unsplash.com

Die Themen Klimawandel, Nachhaltigkeit und das damit einhergehende Ziel der Verringerung der CO2-Emmissionen sind brandaktuell. Es sind nicht nur umweltpolitische Fragen, die das Wachstum von (Groß-)Städten in Frage stellen. Die Corona-Pandemie offenbart ebenfalls ein großes Bedürfnis nach städtischer Neuausrichtung. Dies bedeutet wiederum, dass sich unser bisheriges Verhalten, aber auch unsere Lebensumwelt drastisch verändern sollen und müssen. Wie können Städte einen Wandel zur Klimaneutralität schaffen und ist dies überhaupt machbar?

Die Themen Klimawandel, Nachhaltigkeit und das damit einhergehende Ziel der Verringerung der CO2-Emmissionen sind brandaktuell. Es sind nicht nur umweltpolitische Fragen, die das Wachstum von (Groß-)Städten in Frage stellen. Die Corona-Pandemie offenbart ebenfalls ein großes Bedürfnis nach städtischer Neuausrichtung. Dies bedeutet wiederum, dass sich unser bisheriges Verhalten, aber auch unsere Lebensumwelt drastisch verändern sollen und müssen. Wie können Städte einen Wandel zur Klimaneutralität schaffen und ist dies überhaupt machbar?

Man stelle sich vor, dass man in einer Großstadt in 15 Minuten alles zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen könnte, was der moderne Mensch zum Leben braucht. Arbeitsplatz, Freizeitaktivitäten, Grünflächen, Einkaufsmöglichkeiten, Schulen, Kindergärten, Restaurants, Vereine sowie Kultureinrichtungen. Es wäre für viele das Sinnbild einer perfekten Stadt, die weitgehend autofrei wäre, aber dennoch Dynamik und vor allem soziale Nähe bietet. „Die Stadt der 15 Minuten“ will genau dies realisieren.

Das Konzept der „15-Minuten-Stadt“

Das Konzept wurde von Carlos Moreno entwickelt. Der Urbanist und Professor leitet den Lehrstuhl Unternehmen, Land und Innovation an der Pariser Sorbonne-Universität. Basierend auf dem Konzept des Chrono-Urbanismus, soll eine dezentralisierte Stadtorganisation umgesetzt werden, die den Bewohnern und Bewohnerinnen mehr Lebenszeit schenkt. Von jedem Ort der Stadt aus sollen innerhalb von 15 Minuten alle Grundbedürfnisse zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreicht werden können. Anstelle von Städten mit getrennten Wohn-, Sozial- und Arbeitsvierteln sieht Morenos Konzept das urbane Zentrum als ein Geflecht von Vierteln vor, in denen alle drei Funktionen nebeneinander bestehen. 

Moreno zufolge hat der dramatische Wandel hin zur Arbeit im Homeoffice gezeigt, dass die „15-Minuten-Stadt“ nicht nur machbar ist, sondern auch zur Erneuerung von Stadtvierteln beitragen könnte. „Ich spreche nicht von der Arbeit von zu Hause aus, mit dem Computer auf dem Schoß, Katzen, Hunden, Kindern usw., sondern von der Dezentralisierung der Arbeit“, so Moreno. „Es gibt viele Jobs, die aus der Ferne erledigt werden können. Es macht keinen Sinn, eine Stunde zu pendeln, um im Büro am Computer zu sitzen, wenn man auch in der Nähe des eigenen Zuhauses am Computer sitzen kann. Die Nähe zum Wohnort bedeutet, dass wir neue Räume schaffen können.“ Die Bereitstellung neuer Räume ist ein weiteres Schlüsselelement der „15-Minuten-Stadt“. Um den Bewohnern der Stadt ein Maximum an Dienstleistungen und Aktivitäten vor Ort anbieten zu können, muss auch neu überlegt werden, wie die vorhandene Infrastruktur am besten genutzt werden kann. In Paris wird ein Gebäude beispielsweise nur 30 bis 40 Prozent der Zeit  genutzt. Solche Gebäude sollen gemäß dem Konzept mehr genutzt werden, so dass auch andere Aktivitäten dort Platz finden. Nach Morenos Idee könnten stillgelegte Gebäude in Co-Working-Spaces umgewandelt werden. Schulen könnten an Wochenenden für kulturelle Aktivitäten geöffnet werden. Eine Sporthalle, die tagsüber genutzt wird, könnte nachts eine Diskothek betreiben. In Cafés könnten abends Sprachkurse stattfinden und in öffentlichen Gebäuden an Wochenenden Konzerte veranstaltet werden. 

Neben der Vision der kurzen Wege und der nachhaltigen Gebäudenutzung müssten die Städte auch vom Verkehr befreit werden. Die Stadt kann so wieder von den Fußgängern und Radfahrern zurückerobert werden. Sie wird zum Erlebnisraum ohne Durchgangsverkehr.

Die Vision erobert die Welt

Das Konzept der „15-Minuten-Stadt“ hat es mitt-  lerweile von einer akademischen Skizze in das Stadtbild geschafft. Stadtverwaltungen und -planer beschäftigen sich weltweit mit der Idee. Als Vorbild dient dabei jetzt schon Paris. Die Metropole gilt als eine der dichtesten Städte der Welt. Über 20.000 Einwohner verteilen sich  im Durchschnitt auf einen Quadratkilometer. Autofahrer, öffentliche Verkehrsmittel, Fahrrad- und Rollerfahrer sowie Fußgänger streiten sich täglich um den Platz auf den engen Straßen. Zu den Stoßzeiten erstickt die Stadt im Verkehr. Staus sind zur täglichen Routine geworden. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind maßlos überfüllt. Etwa vier Millionen Menschen pendeln täglich aus den Vororten in die Stadt oder müssen sie durchqueren, um zu ihren Arbeitsplätzen zu gelangen. 60 Prozent der Pendler nutzen ein Auto. 

Um diesen Zuständen den Kampf anzusagen, hatte Anne Hidalgo, amtierende Bürgermeisterin von Paris, bereits Ende Januar 2020 Pläne für die Umwandlung der Hauptstadt in eine autofreie Stadt bekanntgegeben. Die „15-Minuten-Stadt“ war dabei auch zentraler Bestandteil ihrer Wahlkampagne für die Kommunalwahlen, die sie letztlich für sich entscheiden konnte. Die Bürgermeisterin hat Teile ihrer Pläne bereits in die Tat umgesetzt. Das Seine-Ufer ist für Autos gesperrt. Der Ausbau von Fahrradwegen wurde vorangetrieben. Man verspricht sich eine Verbesserung der Luft- und Lebensqualität. Insgesamt wurden 170.000 neue Bäume gepflanzt. In der gesamten Region Île-de-France entstanden seit 2016 mehr als 700 Kilometer Radwege.

Das Experiment wurde auch in weiteren Metropolen und Städten gestartet. Es findet in Oslo oder Gent bereits Umsetzung. Der dortige „circulation plan“ sah vor, die Nutzung des Fahrrads bis 2030 von 22 auf 35 Prozent zu erhöhen. 2017 begann man mit der Umsetzung. Es wurden etwa Flüsse trockengelegt und zu Parkplätzen umfunktioniert. Zwei Jahre danach war das 35-Prozent-Ziel bereits erreicht. Auch die englische Stadt Birmingham kündigte letztes Jahr einen „circula-tion plan“ an. Ein Teil der Flächen, die dort heute ausschließlich dem Auto vorbehalten sind, sollen für den öffentlichen Verkehr umstrukturiert, Parkplätze durch Wohnungen und Arbeitsstätten ersetzt werden. 

Immer mehr Städte lassen sich von diesen Modellen überzeugen. New York, London, Barcelona – sie alle schließen sich dem Umdenken an. Im letzten Jahr verabschiedete zum Beispiel der New Yorker Stadtrat ein Gesetz, um der Autokultur entgegen zu wirken: In den nächsten zehn Jahren dort 1,7 Milliarden Dollar investiert werden, um die Sicherheit für Radfahrer und Fußgänger zu verbessern. In Großstädten wie Madrid, Helsinki, Chengdu, Kopenhagen, Brüssel sowie Mexiko-Stadt verstärkt man ebenfalls den Ausbau autofreier Zonen. 

Auch in zahlreichen deutschen Städten hat bereits ein Umdenken stattgefunden. Das Konzept einer zumin-dest autofreien Innenstadt findet zunehmend Unterstützung und wird auch schon in vielen Städten praktisch umgesetzt. In Hamburg will man in 20 Jahren das sogenannte „Grüne Netz“ fertiggestellt haben, welches Fußgängern und Radfahrern eine von Autos wenig beeinträchtigte Mobilität im Stadtgebiet ermöglichen soll. Grünflächen sollen zu Landschaftsachsen zusammengeschlossen werden. In der Hauptstadt Berlin sind Initiativen und Pläne zu autofreien Zonen und Vierteln ebenfalls auf dem Vormarsch.

Wie realistisch ist die Idee?

Trotz der zunehmenden Bereitschaft, die bestehenden Mobilitätskonzepte zu überdenken, gibt es auch kritische Stimmen gegen die Vision der „15-Minuten-Stadt“. Ein Hauptargument der Kritiker ist, dass das Konzept zu einer Art Stammesdenken führen und die bestehenden städtischen Ungleichheiten zwischen den Bezirken noch verschärfen könnte. Die starke Zentralisierung von Büros, sozialen Aktivitäten und kulturellen Räumen um den autofreien Stadtkern herum begünstige die reicheren Gesellschaftsschichten, die sich die höheren Mieten im Stadtzentrum leisten könnten. Es stellt sich ebenso die Frage nach den Menschen, die in den Vororten der größeren Städte leben. Wie gut sind sie an die neuen Konzepte angebunden? In den letzten Jahren wurden immer mehr Menschen aufgrund der drastisch ansteigenden Miet- und Immobilienpreise in die Vororte verdrängt. Die fehlenden Möglichkeiten außerhalb des Gebiets der „15-Minuten-Stadt“ könnte daher die Ungleichheit innerhalb der Stadtgemeinschaften verschärfen. Die zunehmende Disparität in Stadtvierteln innerhalb vieler Metropolen ist bereits seit Jahrzehnten bekannt. 

Eine Antwort auf diese Kritikpunkte findet Carlos Moreno in der Konstruktion der „polyzentrischen Stadt“. Das bedeutet, dass es innerhalb einer Stadt nicht nur ein Zentrum geben soll, sondern viele, so dass die Vorteile der kurzen Wege flächendeckend angeboten werden und somit eine möglichst große Anzahl von Einwohnern die Lebensqualität des Konzepts erfahren können. 

Neben der (Un-)Möglichkeit der ganzheitlichen Partizipation der Stadtbewohner wird von Kritikern auch das Argument des ökonomischen Einschnitts durch den Vormarsch autofreier Städte hervorgebracht. Die Automobilindustrie und der damit verbundene Wirtschafts- und Produktionszweig waren maßgeblich für den ökonomischen Aufschwung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis heute hat sie vor allem in den westeuropäischen Staaten kaum an Bedeutung eingebüßt und bietet für Millionen von Menschen einen Arbeitsplatz. Das Auto war und ist immer noch ein Statussymbol für den Wohlstand. Können wir uns also autofreie Städte und Zonen leisten? Wirtschaftsverbände führen die besondere Bedeutung der Autoindustrie als Job- und Wirtschaftsmotor als Hauptargument ins Feld. Der kontinuierliche Ausbau der Elektrifizierung von Pkws soll in Zukunft Millionen von Elektroautos auf unsere Straßen bringen und damit einen wichtigen Beitrag zur Klimaneutralität schaffen. Doch kann die Industrie der Elektroautoproduktion die prognostizierten wegfallenden Arbeitsplätze beim Aus des Verbrennungsmotors auffangen?

In den Metropolen und Städten, in denen mit dem Modell der „15-Minuten-Stadt“ bereits experimentiert wird, zeigt sich, dass die Stadtverwaltungen und -planer nicht darum herumkommen, massive Investitionen in den Umbau der Infrastruktur zu tätigen. Mehr Fuß- und Radwege, Grünflächen und die Konzentration von lebenswichtigen Einrichtungen in einer konzentrierten Zone kosten viel Geld und Zeit. In vielen Städten ist die Infrastruktur des öffentlichen Verkehrs nach wie vor nicht ausreichend. Letztlich muss es auch ein gesellschaftliches Umdenken geben, um die Rückendeckung für derartige Stadtmodelle weiter voranzutreiben. 

Das Modell der „15-Minuten-Stadt“ hat in der Theorie viele Vorzüge und könnte ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur Klimaneutralität der Städte sein. Dennoch muss es sich erst in der Praxis nachhaltig in ihrer Umsetzbarkeit beweisen.