Das deutsche und russische Butterbrot, Mozart und Morgenstern

Durch meine Kinderbücher lädt man mich immer wieder zu Grundschullesungen ein. Dann werden meist zwei Klassen in der Aula oder in einem Musikraum zusammengelegt, denn es muss dort unbedingt auch ein Klavier stehen. Ich lese allerhand Geschichten oder Gedichte vor, in denen nicht selten verrückte Tiere vorkommen, während mein Freund Thomas, der Musiklehrer an der Clara-Schumann-Musikschule ist, am Klavier sitzt. Und wenn es in einer Geschichte oder einem Gedicht um einen durch den Dschungel galoppierenden Elefanten geht, haut er wie ein Berserker in die Tassen, und er huscht einfach nur mit den Fingerspitzen darüber hinweg, wenn eine Maus oder ein Erdmännchen  durch die Gegend flitzt. Da ich kein Musiker bin, kann ich lediglich ein Tier am Klavier perfekt wiedergeben, und zwar den Fisch, weil Fische naturgemäß stumm wie ein Fisch sind und derart leise durch ihr Fisch-Leben ohne Höhen und voller Tiefen gleiten, dass man die Tasten überhaupt nicht zu berühren braucht, um sie nachzumachen.

Am Ende packt Thomas meist einen akustischen Imbiss aus: Mozarts „Butterbrot“. Durch Glissandi der rechten Hand über die Tasten wird die imaginäre Butter auf ein unsichtbares Brot gestrichen, und im Raum beginnt es dann förmlich nach Butter und frischen Brötchen zu duften, sodass die Kids einen Bärenhunger bekommen, und kaum noch erwarten können, sich das mitgebrachte Frühstück einzuverleiben. Auch bietet „Das Butterbrot“ immer wieder den Kindern Anlass zu hochinteressanten Kommentaren. Vorgestern bei einem Auftritt in der zweiten Klasse, als der letzte Ton verklungen war, stand ein Junge mit einem Batman-T-Shirt aus der ersten Reihe auf und meinte mit einem rauen Rasputin-Akzent: „Ich heiße Wladimir. Ich komme aus Russland und kann Russisch. Und auf Russisch heißt das Butterbrot auch Butterbrot.“ Ich habe später durch ein deutsch-russisches Web-Forum herausgefunden, dass Wladimirs Ausführung im Bereich der vergleichenden Sprachwissenschaft völlig korrekt war.

Darüber hinaus erfuhr ich, dass das russische Butterbrot genauso wie das deutsche dem europäischen Butterbrot-Gesetz streng unterliegt: Egal, wo man es fallen lässt, ob in Moskau, Smolensk oder Jekaterinburg, es landet immer mit der geschmierten Seite nach unten. Nach Wladimir meldete sich ein Mädchen mit einem Irokesen-Schnitt und einem hellblauen Winnetou-Stirnband in bester Apachinnen-Tradition und sagte: „Ich heiße Deborah. Mozart finde ich voll cool! Auch meine Mama kann „Das Butterbrot“ am Klavier spielen, und zwar viel besser als Thomas.“ Da lächelte Thomas nachsichtig wie ein barmherziger Samariter und meinte: „Mozart war ein Genie, nicht nur als Komponist, sondern auch als Pianist. Er schaffte sogar etwas, was kein Mensch auf der Welt zustande bringt, noch nicht einmal deine Mama. Er spielte Klavier verkehrtherum.“

„Wie verkehrtherum?“, staunte Deborah.
„Er stand mit dem Rücken zum Klavier und spielte mit den Händen nach hinten.“
„Das geht doch gar nicht“, riefen mindestens zehn Kinder gleichzeitig.
„Doch. Aber außer Mozart hat das bis heute noch keiner geschafft“, meinte Thomas. „Soll ich euch zeigen, wie das geht?“
„Au ja“, riefen die Kinder, und Thomas drehte sich mit dem Rücken zum Klavier und spielte „Das Butterbrot“ derart verkehrt, dass keiner das Stück auch nur im Ansatz wiedererkannte.
„Cool!“, rief Giulia, die neben Wladimir saß. „Hört sich geil an! Wie ein kaputter Rasenmäher.“
„Kannst du auch im Kopfstand spielen?“, fragte Benni.
„Ja, das kann ich auch, aber nur, wenn ich das richtige Klavier dafür habe: Ein Klavier, bei dem die Beine oben sind, und der Deckel und die Tasten unten.“

So fiel das Kopfstand-Konzert erstmal bis aufs Weitere aus, und nach der Lesung gingen Thomas und ich in die Pizzeria Gargano auf der Gumbertstraße. Die zwei italienischen grizzlybärenstarken Pizza-Bäcker Rocco Giuseppe Calo, genannt Pino, und Mario di Vicenzo, genannt Mimo, kneteten wie immer den Gargano-Pizza-Teig als gäbe es kein Morgen mehr, wobei die Wrestler-Muskeln auf ihren Armen wie flinke Eidechsen hin und her hüpften. Thomas und ich aber setzten uns nach getaner Arbeit ruhig und zufrieden an den hinteren Tisch, lehnten uns entspannt zurück, und als nachträgliche Hommage an Mozart packten wir jeder sein mitgebrachtes Butterbrot aus. Thomas’ Butterbrot steckte in einer hellblauen Brotdose aus Plastik, meins jedoch war in biologisch abbaubarem Brutterbrotpapier eingewickelt. Ich biss hungrig ins leckere Brot, hielt die hochwertige Eko-Verpackung hoch und begann nachdenklich kauend Christian Morgensterns unsterbliche Verse zu rezitieren:

„Ein Butterbrotpapier im Wald,/ da es beschneit wird, fühlt sich kalt ...“
„Was tut ihr da, Jungs?!“, rief Pino verblüfft, als er plötzlich merkte, was wir da gerade aßen. „Keine Pizza heute?! Ihr könnt doch nicht hierher kommen und euch eure eigenen Brote reinziehen!“
Wir überlegten eine Weile, der Mann hatte wohl recht. Wir entschuldigten uns in aller Form, und um alles wieder ins Lot zu bringen, tauschten wir die Butterbrote gegeneinander aus.