Das Drama hinter dem Drama von Meeburg

Hintergründe zum Einsturz der Nordwand einer Kirche

Die eingestürzte Kirchenwand in Meeburg Foto: Konrad Klein

Am 5. September 2023 ist der Teilbereich einer Seitenwand einer jahrhundertealten evangelischen Kirche eingestürzt. Zehn Tage später wäre die Ferienzeit vorbei gewesen und der angrenzende Schulhof wäre belebt gewesen. Das kulturgeschichtliche Drama wäre dann vermutlich auch eine menschliche Tragödie gewesen. Doch nicht genug damit. Ein genauerer Blick darauf offenbart das gesamte Drama.

Quer durch Siebenbürgen verläuft eine unsichtbare Grenze – heute noch. Sie trennt zwei der sogenannten „trium nationes“ voneinander: das angestammte Siedlungsgebiet der Siebenbürger Sachsen und jenes der Szekler. Gerne besuchen Sachsen beim alljährlichen Kulturereignis „Haferlandwoche“ die vor zehn Jahren sanierte stattliche Kirchenburg in Arkeden/Archita, doch nur wenige von ihnen fahren noch sechs Kilometer weiter in das benachbarte Dersch/Dârjiu, um die befestigte Kirche mit Kassettendecke und wunderbarer Schreinermalerei der Szekler zu besichtigen, obwohl das Baudenkmal gleichzeitig mit Birthälm/Biertan auf die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes gesetzt worden ist. Von beiden Ortschaften gleich weit entfernt befindet sich Meeburg/Beia – ohne beeindruckende Kirchenburg, aber nicht minder geschichtsträchtig und einer beachtlichen Tradition der Schreinermalerei. Dort, an der tektonischen Bruchstelle zweier Kulturregionen, ist kürzlich der tragende Teil einer Kirchenseite eingestürzt. Der Schuttkegel füllt die Hallenkirche, deren Gestühl und Empore mitsamt der Schreinermalerei weitgehend zerstört sind - ein Drama! Der Flügelaltar fand bereits früher in der Schäßburger Bergkirche einen angemessenen Ersatzplatz. Glück im Unglück?

Einem Bonmot folgend beginnen ausschweifende Erzählungen sprichwörtlich bei Adam und Eva, nur nicht bei den Siebenbürger Sachsen, die beginnen bei der Besiedlung Siebenbürgens unter König Geza II. im 12. Jahrhundert und der ersten urkundlichen Erwähnung ihres Heimatortes. Die hat der Archivar Gernot Nussbächer für Meeburg auf das Jahr 1442 datiert, als Johannes von Hunyad die Verteidigungsfähigkeiten inspiziert hat. Meeburg hatte eine Kirchenburg. Davon verblieben ist auch ein stattlicher Wehrturm, der Anfang 2021 von einer Denkmalschutzorganisation saniert und neu gedeckt worden ist. Dreißig Jahre nach der Massenauswanderung der Siebenbürger Sachsen siedelte nämlich ein rumänisch-orthodoxes Ehepaar aus dem ländlichen Gürtel von Bukarest zur Sommerfrische nach Meeburg, einem spontanen, aber bleibenden Eindruck einer Urlaubsreise folgend. Sie erwarben eines der leerstehenden Häuser und fragten bei der „Ambulan]a pentru Monumente“ in Alzen/Al]âna um Rat, wie das neue Heim fachgerecht zu sanieren sei. Jener Kontakt weitete sich zum Engagement für den historischen Kern des Ortes aus: der Kirchenburg. Was folgte, ist typisch für Siebenbürgen.

Die Brüder Vaida – ein Architekt und ein Restaurator aus Alzen – sind mit der genannten und von ihnen schon seit Jahren geführten Denkmalschutzorganisation tatkräftig im Einsatz. Der reicht von befestigten rumänischen Landhäusern (Cule) über orthodoxe Holzkirchen und historische ungarische Landsitze bis hin zu Kirchenburgen. Gearbeitet wird mit Unterstützung von Sponsoren, Spenden, Fördermitteln des britischen Königshauses und vielen ehrenamtlichen Helfern, die von ihnen fachlich angeleitet werden. Die Arbeiten erfolgen in Sommercamp-Manier unter Einbindung der Dorfbewohner, die Quartier für Schlafsäcke und Isomatten bieten und im Kochkessel die warme Mahlzeit zubereiten. Die Helferliste beinhaltet rumänische, ungarische und deutsche Namen. Da wäre Jozsi-Bacsi, der mit 85 in seiner Schlosserwerkstatt kunstvoll einen Wetterhahn für den sanierten Wehrturm angefertigt hat. Auch ist Michael Schuller aus Deutschland dabei, der den Leuten mit seinen Kenntnissen seit Adam und Eva, pardon, seit der ersten urkundlichen Erwähnung des Ortes und der berühmten Handwerkskunst, zur Seite steht. Da ist auch das Ehepaar Vi{an dabei, das aus dem Landeskreis Dâmbovi]a bei Bukarest stammt und Gastgeber der Helfer in ihrem inzwischen denkmalgerecht sanierten Haus sind. Ortsstämmige Rumänen wurden neugierig und gingen erstmalig nicht nur in ihre orthodoxe Kirche, sondern auch in jene der Sachsen, ergriffen Initiative und bekochten die Arbeitskräfte. Bei den Arbeiten werden unter Putzschichten ursprüngliche Wandinschriften entdeckt, die es noch zu erforschen gilt. Während der ehrenamtlichen Arbeiten entschied die Studentin Diana Oprea, ihre Studienabschlussarbeit Meeburg zu widmen: der Restaurierung und Instandsetzung der Kirchenburg und des Lehrerhauses in Meeburg. Das gesamte Engagement wurde zeitweise von einem MDR-Fernsehteam begleitet. Der Dokumentarfilm von Antje Schneider „Ambulanz für Denkmäler – Ruinen-Retter in Siebenbürgen“ wurde vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz ausgezeichnet. Diese Tage nahm Architekt Eugen Vaida für die Leistungen des Denkmalschutzvereins „Ambulan]a pentru Monumente” den großen Preis der Architekturbienale Rumäniens entgegen.

Die angestammte Dorfbevölkerung von Meeburg ist weitgehend ausgewandert, bewegliche Kulturgüter wie der Flügelaltar wurden gesichert, die Chronik fand in einer längst vergriffenen Ortsmonografie Berücksichtigung und Roswitha Capesius hat in ihrem Kompendium „Siebenbürgisch-Sächsische Schreinermalerei“ 1983 auch die traditionelle Möbelmalerei aus Meeburg berücksichtigt; der Dechant ist mit seinem Kirchenbezirk von über 80 Gemeinden räumlich und zeitlich überlastet. Das Leben geht aber sinnbildlich jenseits der Kirchenburgmauern weiter. Neue und alte Dorfbewohner beginnen, sich mit dem gesamten Ort zu identifizieren, Jungakademiker finden zu einem persönlichen Bezug jenes ursprünglich fremden Kulturgutes und widmen ihm ihr berufliches Engagement. Und dann das: Die historische Kirche stürzt ein. Es ist zum Himmelschreien.

Was passierte am 5. September in Meeburg? Das werden mit Gewissheit Fachleute vor Ort ermitteln. Vermutlich wirkte sich eine bauliche Schwachstelle im Anschlussbereich der Gewölbedecke zur Fensteröffnung im nördlichen Mauerwerk aus und führte schließlich zum Teileinsturz des Kirchengewölbes. Aufgrund des fehlenden Innendrucks stürzte folglich die tragende Seitenwand nach innen ein. Die gegenüberliegende Südmauer weist ohne Fensteröffnung mehr Stabilität aus und blieb (vorerst) stehen. 

Das Drama hinter diesem Einsturz ist, dass er ausgerechnet in der Kirchenburg eines Ortes stattgefunden hat, in dem der soziale Wandel gut gemeistert worden ist. Selbst die ursprünglich konfessionelle Schule der Siebenbürger Sachsen wurde vom lokalen Bürgermeisteramt übernommen, renoviert und betrieben. Der Platz zwischen Kirche und Schule ist der Pausenhof. Der ist nun gesperrt, bis Statiker und Architekten die Einsturzgefahr des verbliebenen Sakralbaues eingeschätzt haben und Sicherungsmaßnahmen getroffen worden sind. Hier ist nach der Auswanderung der Siebenbürger Sachsen wieder Leben eingekehrt, in einem Ort fernab der Hauptstraßen und touristischer Zentren. Der Einsturz ist ein Rückschlag. Grund für Endzeitstimmung?

Am 20. September 2023 erklärte Bischof Reinhart Guib zur Eröffnung einer Fachtagung über Kirchenburgen, dass man anlässlich jenes Schadens in Meeburg den Tatsachen ins Auge sehen müsse. Es wird nicht der letzte Gebäudeeinsturz bleiben, was sein Folgeredner, Dr. Paul-Jürgen Porr vom Vorsitz des DFDR, bestätigt hat. Auch von Seiten der kirchlichen Stiftung Kirchenburgen wird signalisiert, dass alles zu bewahren wohl aussichtslos sei. Dass wir nicht alles bewahren können, stimmt. Und stimmt auch nicht. Die entscheidende Frage wird sein, ob jenes „wir“ wirkungsvoll vergrößert werden kann. Meeburg steht für ein Beispiel, dass ein „Wir“ über die Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen hinaus nicht nur möglich ist, sondern langfristige Chancen bietet – ausgerechnet in einer abseits gelegenen Ortschaft, ausgerechnet initiert von Leuten aus der Walachei, ausgerechnet fortgeführt von Jungakademikern vormals ohne persönlichem Ortsbezug. Erste wesentliche Schritte jenes Weges des Wandels sind vor wenigen Jahren erfolgt. Leider kam der Einsturz der Kirche dazwischen, die (noch) nicht Gegenstand der Sanierungen war. Das ist das Drama hinter dem Drama des Einsturzes. Die Frage ist, wie damit umgegangen wird.

Bischof Reinhart Guib erklärte am Sachsentag in Keisd am 30. September 2023: „In der Umsetzung der Strategie unserer Kirche sind aber auch weitere Schritte in die Zukunft angedacht. (...)  Unser reiches kulturelles Erbe und die einzigartige Kirchenburgenlandschaft sind es wert, dass wir sie weiterhin instandsetzen, bewahren, nutzen. Dafür gilt es Freunde zu gewinnen – auch aus der rumänischen Gesellschaft, NGOs von hüben und drüben, denn nur zusammen wird es uns gelingen.”