Das Leben der Ukrainedeutschen im Krieg

Projektarbeit, Überlebenskampf und Zukunftsperspektiven einer sozial und humanitär aktiven Gemeinschaft

Das Bild des Deutschen Hauses in Mariupol, das Begegnungszentrum, das erst vor einem Jahr im Zeichen deutsch-ukrainischer Freundschaft (mit Finanzierung vom BMI renoviert) eingeweiht wurde, zeigt das volle Ausmaß an Zerstörung, die in der Ukraine auch deutschem Kulturerbe und Kulturstätten widerfährt.
Foto: Facebook AGDM

Ein humanitärer Hilfstransport aus Deutschland ist bei der Deutschen Jugend in Lemberg angekommen: Trockenfutter für Hunde, Konserven, Hygiene-Kits, Windeln, Medikamente und Produkte werden durch die Jugendlichen gleich nach Kiev, Dnipro, Kherson, Charkiw, Sumy und andere Städte der Ukraine gebracht. Die deutschen Würste, Medikamente und Decken sollen an die Front zu den Soldaten. „Ruhm der Ukraine, Ruhm den Streitkräften!“ steht am Ende des Facebook-Posts.
Foto: Facebook / Deutsche Jugend in der Ukraine e. V.

Anstelle von gemeinschafts- und sprachfördernden Projekten sind es besonders die sozialen Anliegen und Aktionen, die in den letzten drei Monaten in den Mittelpunkt der Tätigkeit deutscher Vereine in der Ukraine gerückt sind. Das geht aus dem Online-Austausch hervor, den die Stiftung „Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland“ und die „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten“ (AGDM) am 15. Juni organisiert hat. An der Diskussion beteiligten sich zum einen Projektförderer,zum anderen Vertreter der deutschen Minderheit aus den verschiedensten Regionen und Bereichen des Gemeinschaftslebens. Es ging um die aktuelle Lage der Angehörigen der deutschen Minderheit, die Wahrnehmung der deutschen Minderheit und Deutschlands in der kriegsgebeutelten Ukraine, um Herausforderungen und Aussichten für die Zukunft der Ukrainedeutschen, aber auch darum, wie der Gemeinschaft jetzt geholfen werden kann.

Während für manche der Krieg in der Ukraine seit 121 Tagen dauert, so findet Wladimir Leysle, der Vorsitzende des „Rats der Deutschen in der Ukraine“, dass sein Land schon seit 2014 im Krieg lebt. Er musste nämlich bei der Einholung der Krim-halbinsel fliehen. Anfang des Krieges hatte er in Sumy mehrere Tage im Luftschutzbunker zugebracht, Raketenangriffe und Panzerattacken, Straßenkämpfe mitgehört und erfahren müssen, dass es bei diesem Krieg um weit mehr geht als um militärische Objekte. Mit eindrucksvollen Vorher-Nach-her-Bildern überzeugte er die Zuschauer vom Ausmaß des Krieges und was dieser auch für das deutsche Kulturgut in der Ukraine bedeutet. Über Facebook macht der Rat auf Verluste, Aktionen aber auch in erschütternden Videos auf schwere Schicksale mancher Deutschen in der Ukraine aufmerksam. „In den letzten 10 Tagen wurden in den Gebieten Donezk, Luhansk und Saporischschja weitere Kultureinrichtungen, Bibliotheken, Gedenkstätten und Kirchen zerstört. Nicht verschont bleiben dabei oft Objekte, die mit der Geschichte und Kultur der Deutschen und Mennoniten in der Ukraine zu tun haben. So wurde am 24. Mai in Orichiw infolge eines russischen Raketenbeschusses das Haus des Kaufmanns Heinrich Janzen aus den 1870er Jahren stark beschädigt. Das „Janzen-Haus“ ist der Sitz des Exekutivkomitees des Stadtrates von Orichiw,“ schildert Leysle erbittert.

Viele Familien seien voreinander abgeschnitten, wüssten nicht um das Schicksal der anderen jenseits der Frontlinie. Diese grausame Realität nahm der Rat der Deutschen als Herausforderung an, umso mehr Mitgliedern der Gemeinschaft beizustehen, sei es, wie im Fall von mehr als 200 Familien, die mit Hilfe der AGDM heil nach Deutschland gereist sind, oder vor Ort mit Lebensmitteln, Informationen oder Werbung für die schwer geprüften Familienunternehmen. Die Unterstützung aus Deutschland sei materiell, aber auch ideell wichtig, zumal man als Verein oft auch gefragt werde, wann die deutschen Waffenlieferungen kämen. „Natürlich hoffen wir, dass der Krieg bald endet und dass die Flüchtlinge zurückkommen, aber was wartet hier auf sie? Sie haben ihre Arbeit verloren, sie haben teils keine Häuser mehr. Auch jetzt werden wir von einzelnen Familien angefragt, weil ihre Häuser zerstört wurden und wir können nicht mit den nötigen 3000 Euro für die Reparaturen helfen. Ein europäischer Wiederaufbaufonds muss her und zwar bald, denn wenn der erst im November da ist, dann ist das hier zu spät,“ sagte Leysle besorgt. Die Unterstützung für die Unternehmen der deutschen Minderheit in der Ukraine sei da  ausschlaggebend.

In seinem Grußwort erwähnte Hartmut Koschyk, Stiftungsratsvorsitzender und ehemaliger Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, zahlreiche Hilfstransporte, die die Stiftung vermittelt oder in die Wege geleitet hat, Hilfsgüter, die über die Vereine der deutschen Minderheit verteilt werden, würdigte das besondere Engagement der Vereine, aber auch des Projektleiters für die Humanitäre Brücke bei der Stiftung Verbundenheit, Moderator der Diskussion, Dr. Marco Just Quiles. Hervorgehoben wurde die Vermittlung von Gesprächen mit deutschen Abgeordneten sowie hochrangige Besuche in der Region, wie jener des deutschen Bundeskanzlers, aber auch gezielt bei deutschen Minderheitenvertretern.
Bernhard Gaida, Sprecher der AGDM in der „Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten“ (FUEN), erklärte, wie es die Arbeitsgemeinschaft in den ersten Wochen geschafft hatte, durch das Netzwerk der deutschen Minderheitenorganisationen flüchtende Familien aus der Ukraine über Polen, Rumänien, die Slowakei oder Ungarn auf ihren Weg nach Deutschland zu begleiten.
Diana Liebert, Vorsitzende der Deutschen Jugend in der Ukraine, war zu Beginn des Krieges nach Deutschland geflüchtet, ist jedoch inzwischen zurück in Lemberg/Lviv. Sie berichtete davon, dass zurzeit rund 45.000 Binnenflüchtlinge in der Stadt (Anm.d.Red. in Lemberg lebten bis zu Beginn des Krieges geschätzt 800.000 Menschen) registriert seien. Die meisten seien auf der Suche nach Wohnung und Arbeit, beides sehr schwierig zu finden. Viele kamen notdürftig in Schulen und Sporthallen unter. Junge Angehörige der deutschen Minderheit, die nach Lemberg gekommen sind, hätten es jedoch geschafft, schnell eine Arbeit zu finden. Inzwischen sei die Flüchtlingswelle etwas abgeflaut, auch bestehe nicht mehr so oft der Wunsch, nach Europa weiterzureisen, mehr noch würden Geflüchtete eher schon wieder zurückkehren.

Alexander Groß, Pfarrer der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Odessa,ist für vier Kirchengemeinden zuständig. Die Erfahrungen auf dem Land und in der Stadt seien verschieden. Junge Familien mit Kindern aus der deutschen Gemeinschaft hätten Odessa bereits Anfang März verlassen, seien nach Rumänien, Bulgarien oder sogar nach Deutschland gereist. In den Dörfern seien die Gemeindeglieder zunächst geblieben. Ende März, Anfang April begannen jedoch auch diese auszureisen, diesmal jedoch mit dem Plan, ganz nach Deutschland zu ziehen. Zu Beginn des Krieges gab es Lebensmittelknappheit, auch das Auto konnte man schwierig tanken. „Als Kirchengemeinschaft haben wir dann Essen und Geld verteilt, weil die Menschen mit Karte nicht mehr zahlen konnten,“ erzählt Pastor Groß. Die Situation habe sich diesbezüglich gebessert. Dafür gäbe es mehr Bombenangriffe und Flieger-alarm. Ganz schlimm sei es um den 9. Mai gewesen, was zu einer zweiten Flüchtlingswelle aus Odessa geführt habe. Aus der Stadtgemeinde seien mittlerweile 70 bis 80 Prozent der Gläubigen weggegangen, was schrecklich sei. Auf den Dörfern seien etwas mehr geblieben, hauptsächlich die Ukrainer. Man helfe auch Binnenflüchtlingen mit Unterkunft und Arbeit. In Kriegsgebiete habe die Kirche Geld an dortige Gemeindeglieder geschickt. Der Pfarrer unterstrich, dass es wichtig sei, ukrainische Produkte zu kaufen und die Lokalwirtschaft zu fördern, also sei man mehr für Geldspenden, um damit die Hilfe gezielter einsetzen zu können.

Alexander Schlamp, Deutscher Honorarkonsul in Czernowitz und Vorsitzender des Deutschen Hauses, berichtete davon, dass es in der Stadt in der Westukraine zwar keine Bombenangriffe gäbe, die Angst aber allgegenwärtig sei, besonders auch durch die hohe Zahl an Flüchtlingen. Die deutsche Gemeinschaft wolle derzeit nicht ausreisen, man sei jedoch kategorisch nicht bereit, in einem Land zu bleiben, das von Russen geführt werde. Als Honorarkonsul habe er als einziger deutscher Diplomat im Land die Anliegen deutscher Bürger, die nach dem 24. Februar geblieben seien, beantwortet, viele hätten abgelaufene Reisedokumente gehabt und bekamen über ihn Ersatzdokumente in Czernowitz.

Julia Taips, Leiterin der Deutschen Jugend Transkarpatien und Stadträtin in Mukatschewo, berichtete darüber, dass die Wahrnehmung der deutschsprachigen Gemeinschaft schon immer sehr positiv gewesen sei, weil man sehr aktiv sei. Das Deutsche Haus sei samt des Jugendzentrums in Mukatschewo schnell nach Beginn des Krieges zum humanitären Hilfszentrum umdisponiert worden, durch das Hilfe für Binnenflüchtlinge ungeachtet ihrer Nationalität angeboten werde. Von hier aus werden Hilfsgüter und Ausstattung in stärker betroffene Regionen, sogar in die Städte an der Frontlinie gefahren. Die Deutschkurse für Angehörige der Minderheit werden weiterhin angeboten, Jugendprojekte durchgeführt und den Binnenflüchtlingen wird auch psychologische Betreuung im Haus angeboten, besonders jungen Menschen, die mit verschiedenen Arten von Depression oder Angstzuständen zu kämpfen haben. Soziale Pakete werden an Senioren und Personen mit Behinderungen aus den Reihen der deutschen Minderheit verteilt. Alles geschehe mit Hilfe der jungen ukrainedeutschen Ehrenamtlichen, die den Großteil der Arbeit übernehmen.
Aleksandra Litschagin, Projektkoordinatorin der Stiftung „Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland für die Ukraine“ führte sehr klar vor Augen, was der Krieg für die Entwicklungsperspektiven der deutschen Minderheit bedeutet: „Projekte, die für Friedenszeiten geplant wurden, mussten kurzfristig für soziale Hilfen umgewidmet werden oder sind gänzlich entfallen. Das ist mit vielen Umwidmungsunterlagen verbunden, die mit dem Bundesministerium des Inneren und dem Bundesverwaltungsamt abgestimmt werden müssen. Es sei außerdem sehr kompliziert, Maßnahmen für das nächste Jahr zu planen, wahrscheinlich werde es einen Plan A mit Krieg und einen Plan B ohne Krieg geben. Auch unter erschwerten Bedingungen sei man aber bestrebt, die deutsche Minderheit zu unterstützen.