Das schwere Lied von Europa in der Ukraine

„Es geht um Politik und Menschen, die verletzt werden“

Rechts vorne im Bild das konkurrenzlos dickste Auto am Parkplatz vor dem Gong-Theater Hermannstadt von Freitag, dem 4. März: ein 367 PS starker Geländewagen von Lexus. Der doppelte Buchstabe A am Nummernschild ist das Kennzeichen für die ukrainische Haupt- und drei-Millionenstadt Kiew. | Fotos (2): der Verfasser

Licht und Schatten auf Hermannstadts Friedrich-Schiller-Büste von Bildhauer Theodor Khuen aus Wien. „Vivos voco. Mortuos plango. Fulgura frango“, steht dem „Lied von der Glocke“ voran. Lebende ruft sie, Tote beweint sie, Blitze bricht sie. Mit seinem Blitzkrieg hat Putin die Ukraine in der Tat nicht wie gewünscht schlagen können. Aber gemäß den Naturgesetzen folgt auf das schnelle Licht jeweils der langsame Schall. Wann wird Putins Donnergroll sich wieder legen? Und ist anschließend mit einer Beteiligung Russlands am Wiederaufbau der Ukraine zu rechnen? „Frisch, Gesellen, seid zur Hand!“

Blick in den Zuschauerraum des Ballett- und Operntheaters von Odessa. Es bietet Sitzplätze für bis zu 1636 Zuschauer und wurde 1887 eingeweiht. Den internationalen Wettbewerb dazu hatte das Wiener Büro Fellner & Helmer gewonnen, dem zwei Jahrzehnte später auch der Zuschlag für das 928 Zuschauerplätze fassende Rumänische Theater- und Opernhaus Klausenburg/Cluj-Napoca erteilt wurde. Die Wiener Staatsoper, erbaut von Eduard van der Nüll und August Sicard von Sicardsburg, zählt gerade mal nur 73 Sitzplätze mehr als die Oper Odessa. Ein Solisten-Paar vom Ballett-Ensemble der ukrainischen Großstadt am Schwarzen Meer hat seinen Arbeitsplatz bereits in das viel kleinere Hermannstadt verlegt. | Foto: Wikimedia Commons

Sieben Buchstaben und Ziffern führen in Rumänien gemeldete Personenkraftwagen an ihrem Nummernschild. Das Kürzel „BH“ steht für das Kennzeichen des Landeskreises Bihor im Nordwesten des Landes.  So weit, so gut. Aber man braucht nur ein Schriftzeichen hinzuzufügen, und schon stimmt die Rechnung nicht mehr. Autos aus der Ukraine sind auf Rumäniens Straßen längst heimischer denn je zuvor geworden. Für das Kennzeichen BH auf so einem Nummernschild mit seinen acht statt nur sieben Positionen muss eine Kehrtwende um 180 Grad eingelegt werden: neunhundert Kilometer weg von Oradea, der Hauptstadt Bihors, in Richtung Osten nach Odessa – gedanklich. Denn im Nachbarland der Republik Moldau und Rumäniens wird seit dem 24. Februar um die Sicherheit der Welt von Morgen gerungen. Hier und ganz besonders dort klammern Menschen sich an die Hoffnung auf ein nahes Kriegsende.

Doch die überdurchschnittlich vielen Autos mit ihrem Kennzeichen UA unter zwei horizontalen Farbstreifen in Blau und Gelb auch auf den Straßen und Parkplätzen in Hermannstadt/Sibiu zeichnen ein mäßig optimistisches Bild von dem, was aktuell in der Ukraine vor sich geht. Mit seiner Prognose, dass der Krieg längere Zeit dauern könnte, liegt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron womöglich noch sehr richtig. Einstweilen aber gibt sich die Ukraine keineswegs geschlagen. Zwar haben etliche Teile ihrer Elite Reißaus vor Putins Häschern genommen, ohne jedoch ihrem Heimatland bleibend den Rücken zu kehren.

Oft sind es großräumige Familien-Autos teurer Marken wie Nissan und Lexus, die in der Altstadt oder den Wohnblockvierteln geparkt stehen, und denen man die Fluchtfahrt auf Rumäniens Straßen sehr deutlich ansieht, wenn es unterwegs ausdauernd geregnet und es von der Fahrbahn ordentlich viel Schmutz auf die Karosserie gespritzt hat. Oder BMW´s mit niedrigem Radstand und langer Motorhaube, wie auch Oksana (Name geändert, Anm. d. Red.) aus Odessa einen fährt. Die Wagen, die sich Rumäniens wirtschaftliche Eliten gerne zulegen, haben auch in der Ukraine Symbolstatus-Wert.

Flucht vor dem Krieg und gegen die Zeit

Oksana ist Jahrgang 1987 und Web-Entwicklerin. Für die Winterzeit hatte sie ihren Arbeitsplatz einfach mal so nach Taiwan verlegt und den Rückflug vom thailändischen Phuket nach Istanbul auf den 23. Februar gebucht, von wo sie tags da-rauf ebenso über den Luftweg nach Hause reisen wollte. Nur dass zur Stunde ihrer Landung am Bosporus die Armee Putins und seiner Russischen Föderation die Ukraine bereits überfallen hatte und alle Flüge von Istanbul in das vom Krieg überraschte Land sofort gestrichen wurden. „Niemand von uns dachte, dass der Krieg beginnen würde. Wir glaubten alle, dass nur ein militärisches Ablenkungsmanöver geschehen würde, das sehr bald endet.“ Oksana buchte ihren Weiterflug von Istanbul nach Bukarest um und bestieg dort einen Linienbus in die Republik Moldau, wohin die Einreise auf dem Luftweg gleichfalls nicht mehr möglich war.

Irgendwie aber musste es unbedingt funktionieren, unterwegs auf der Flucht vor dem Krieg mit ihrer Schwester zusammenzutreffen. „Sie ist jünger als ich, klein und zierlich. Ich gab ihr telefonisch die Anweisung, mit meinem Auto in die Republik Moldau zu starten. Der Gedanke daran, dass sie ganz alleine am Steuer ohne Dritte im Auto zwölf Stunden am Grenzübergang ausharren musste, war für mich schrecklich.“ Den Linienbus nach Chișinău, mit dem Oksana selbst sich zeitgleich aus Bukarest aufmachte, verließ sie noch vor Erreichen seines Zielortes. Sie hatte „das Glück, per Anhalter von freundlichen Bürgern der Republik Moldau nach Căușeni gefahren zu werden“. Dort in der 16.000-Einwohner-Stadt nahe am südlichen Zipfel Transnistriens fielen Oksana und ihre Schwester einander in die Arme.

Weder im Flieger von Phuket nach Istanbul, nachts darauf im Hotel, noch einen Tag später im Flieger von Istanbul nach Bukarest hatte Oksana geschlafen. Auch im Linienbus Richtung Chișinău blieb sie all die zehn Stunden lang eisern wach. Ihre Schwester hatte es mit dem Auto von Odessa aus gerade mal nur 125 Kilometer weit. Die zwölf Stunden Wartezeit am Grenzübergang von der Ukraine zur Republik Moldau hingegen sprechen Bände. Ursprünglich wollte Oksana, weil sie in beiden Ländern Bekannte hat, mit ihrem BMW Bulgarien oder Spanien erreichen. Durch eine Vermittlungs-Kette ließ sie sich schnell überzeugen, stattdessen in Rumänien Quartier zu suchen und dafür das wohlhabende Hermannstadt anzusteuern. Drei Wochen nach Ankunft um Mitternacht – 14 Stunden Autofahrt von Căușeni mitgerechnet – steht ihr schwarzer BMW noch immer in derselben Gasse der Altstadt. „Meine Schwester und ich können an einem sicheren und warmen Ort schlafen, das ist unbezahlbar!“ Geld weigert sich Oksana anzunehmen. Eine Kontaktperson wollte ihr welches schenken, aber sie habe „in freundlichem Streit“  strikt abgelehnt.

Die freie Welt unter Beschuss

„Ich beziehe weiterhin mein Gehalt und kann kein Geld nehmen“, sagt Oksana. „Mit mir und meiner Schwester wird alles gutgehen.“ Dafür weiß sie von Landsleuten aus der Ukraine Bescheid, die es ebenso nach Hermannstadt verschlagen hat, und denen von rumänischer Seite aus mit dem Gesamtpaket von Geld, Essen und Wohnraum geholfen werden muss und bereits auch wird. „Dem, der mir Geld schenken wollte, habe ich so geantwortet: ‚Wenn ihr helfen möchtet, helft bitte unserer Armee!‘“. Das blieb nicht ohne Reaktion und brachte für die Ukraine einen LKW mit militärischer Ausrüstung und Medikamenten auf den Weg. „Ich bin eine starke Frau“, betont Oksana zurecht, der es sonnenklar ist, dass „wir die Ukraine von Null auf wiederaufbauen werden müssen.“ Ab wann es soweit sein dürfte? Keine Ahnung. Auf jeden Fall aber „möchte ich zurück“.
Wie viele von allen bereits Geflüchteten das Gleiche vorhaben oder nicht, hängt in der Schwebe. Oksana für ihren Teil bekräftigt, dass sie arbeiten, Geld verdienen und Steuern bezahlen kann. Es käme nicht infrage, für die Ukraine der Zukunft woanders als eben in der Ukraine selbst zu schuften. Doch „weil wir den Krieg nicht erwartet haben, sollten wir auch nicht mit einem zeitlich bestimmten Ende des Krieges rechnen. Wie es im verrückten Kopf von Putin aussieht, wissen wir nicht.“ Dass der Weg des Wiederaufbaus lang sein wird, weiß sie genau.

Unterdessen versucht die freie Welt, den Schaden noch in seiner Entstehungsphase moderat zu halten. „Viele starke Menschen aus anderen Ländern sind unserer Armee für diesen Krieg beigetreten.“ In der Tat – Männer von Kanada bis Lettland haben schon Familie und alles zuhause stehen lassen, um sich auf dem ukrainischen Terrain in den Kampf zur bewaffneten Verteidigung der Welt des Westens vor Putins Russland zu werfen. „Sollte er das Kriegsrecht verhängen, müssten wir uns gegen eine enorme Zahl Bewaffneter verteidigen. Aber ich hoffe, dass die Menschen in Russland ihren Blick heben. Russlands Armee ist in unser Territorium eingefallen und nicht etwa die Streitkräfte der Ukraine in das Staatsgebiet von Russland.“

Point of No Return

„Die Ukraine wird niemals besiegt werden, aber sie kann von den Russen besetzt werden. Ja!, die Russen können sie besetzen“, unkte am 1. März Rumäniens geschätzter wie gefürchteter Kommentator Cristian Tudor Popescu. Oksana findet, er liege richtig, nur nicht mit dem Szenario der Besetzung durch Russland. Das könne dem Kriegsfeind nicht glücken, wie auch die junge Bürgermeisterin der 37.000-Einwohner-Kleinstadt Wassylkiw südwestlich von Kiew in einem Kurzdokumentarfilm der rumänischen On-line-Publikation „Recorder“ resolut klarstellt: „Ich verstehe nicht, warum der Feind nicht begreifen kann, dass wir ihn nie akzeptieren werden. Nur auf eine Art – wenn er alle Ukrainer tötet und eine andere Bevölkerung hierher bringt.“

Als Oksana Ende Februar ihren sportlichen BMW in der Straße der orthodoxen Hauptkathedrale Hermannstadts parkte, tat ein anderer BMW mit demselben ukrainischen Kennzeichen BH es ihr einige Gehminuten entfernt auf dem Schillerplatz gleich. Womit unsere zweifelsohne geschichtsträchtige Gegenwart einen Standort der Vergangenheit erreicht haben dürfte, auf den es ankommt, weil bekanntlich eine Büste von Friedrich Schiller am nordöstlichen Eck dieses Platzes steht, die im hundertsten Todesjahr des Poeten und Dramaturgen gegossen wurde und ganze 117 Jahre in ihrer Bronze zählt.

Deutlich mehr als ein Menschenleben also. Die Epoche, als es am Samuel-von-Brukenthal-Gymnasium Hermannstadt wie auch an anderen deutschsprachigen Gymnasien Rumäniens Pflicht war, „Das Lied von der Glocke“ auswendig zu lernen, liegt ziemlich lange zurück. Nicht schon 117 Jahre, aber doch so um die fünf Jahrzehnte.

Wenn es einen Hintergrund gibt, vor dem das Lesen der Dichtung einen wieder einmal kalt erwischt, dann diesen unseligen Krieg in der Ukraine.

Hört ihr‘s wimmern hoch vom Turm?
Das ist Sturm!
Rot wie Blut
ist der Himmel,
das ist nicht des Tages Glut!
Welch Getümmel
Straßen auf!
Dampf wallt auf!
Flackernd steigt die Feuersäule,
durch der Straße lange Zeile
wächst es fort mit Windeseile,
kochend, wie aus Ofens Rachen,
glühn die Lüfte, Balken krachen,
Pfosten stürzen, Fenster klirren,
Kinder jammern, Mütter irren,
Tiere wimmern
unter Trümmern.

Die Flüchtlinge aus der Ukraine machen dieses 1799 veröffentlichte Gedicht zu einem Warnschreiben der Aktualität, wie es nicht besser aufgesetzt werden könnte.

Alles rennet, rettet, flüchtet,
taghell ist die Nacht gelichtet.

In Rumänien und allen anderen Ländern Europas, wo sie Schutz vor dem Krieg in ihrer Heimat suchen, trifft, Gott sei‘s gelobt, zu, was Schiller am alten Kontinent gut fand. Noch hat er Recht. Man kann nur hoffen, dass es auch dabei bleiben und von der Ukraine nicht überschwappen wird.

Holder Friede,
süße Eintracht,
weilet, weilet
freundlich über dieser Stadt!
Möge nie der Tag erscheinen,
wo des rauhen Krieges Horden
dieses stille Tal durchtoben;

„Ich glaube, die Menschen in Russland werden das alles erst später verstehen“, meint Oksana am 3. März in Hermannstadt. Außerdem „können nicht alle Leute rasch denken. Vielen fehlt das Vermögen, Entwicklungen vorauszusehen. Auch in Odessa vermuteten viele, es würde sehr bald aufhören. Und jetzt wollen sie weg, aber es geht kaum mehr.“ Ihre Mutter, 67 Jahre alt und noch bis vor Ausbruch des Krieges der Ansicht, Putin sei ganz klar der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort, zählt mit zu den in der Zwickmühle Eingekesselten.

Ihr Mindset dagegen schlug um, denn „als sie sah, was Putin unserem Land, unseren Kindern und der Ukraine antut, spendete sie vorgestern Blut für die Helden der ukrainischen Armee“, berichtet Oksana von ihrer in der Sowjetunion geborenen und gesundheitlich chronisch angeschlagenen Mutter. „Sogar jene, die Russland liebten, stehen heute hinter der Ukraine. Putin weiß nicht von unserer Persönlichkeit Bescheid. Ich habe kein Problem mit den Menschen aus Russland – ich habe ein Problem mit Putin und Lukaschenko.“

Anders als ihre noch bis unlängst Russland verehrende Mutter war ihre letztes Jahr verstorbene Großmutter in dem drei Generationen vereinenden Wohnappartement in Odessa zeitlebens eine glühende Fürsprecherin der Ukraine gewesen. „Dennoch schlug niemand auf den anderen ein. Alles, was wir hatten, hatten wir zusammen und standen gemeinsam dafür ein. Darum stehen wir jetzt auch für die Leere gemeinsam ein.“

Ein Kriegskind war ihre Großmutter, erzählt Oksana. Ein Mann aus Deutschland, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat unter Hitlers Wehrmacht gekämpft hatte und in ukrainischem Gebiet persönlich an der Zerstörung der Sowjetunion beteiligt gewesen war, leistete später zwanzig Jahre lang ein am Gesamtschaden gemessen zwar nur kleines, aber zwischenmenschlich sehr tief berührendes Stück Wiedergutmachung. „Er reiste jährlich auf Besuch in die Ukraine und erkundigte sich bei meiner Großmutter nach ihren Wünschen für Medikamente und anderes. Mein allererstes Spielzeug als Kind war sein Geschenk.“

Das Kurzvideo, das einen jungen Soldaten der Armee Russlands zeigt, der gerade eben von ukrainischen Frauen mit Essen und Trinken versorgt wird und in einen Videochat mit seinen Eltern schaut, den ihm die doch gefälligst als Gegnerinnen zu sehenden Damen zu Tee und Kolatschen gönnen – dieses Video hat Oksana auf ihr Smartphone heruntergeladen. Bestätigend: ein gleichaltriger Verwandter, dessen Familie vor Jahrzehnten nach Moskau gezogen war, lebt noch immer dort, stünde aber klar zu ihr und der Ukraine. „Die Menschen in Russland schweigen, aber viele von ihnen stehen hinter uns.“

Nichts erwarten, alles erhoffen

Sie versteht, dass Schweigen schnell mal als Einverstanden-Sein gedeutet wird. Sollte dieses Einverstanden-Sein in dem ein oder anderen individuellen Fall auch in der Tat gegeben sein, dann „sollten sie vielleicht nicht für uns, aber zumindest für ihr Land stehen! Lebte ich heute in Moskau oder Minsk, würde ich in so einem Land, wo ich mich nicht ausdrücken und entwickeln darf, nicht bleiben wollen. Ich kann die einfachen Menschen dort für ihre Angst nicht hassen, ich kann darüber nur traurig sein. Aber nicht alle Leute sind so, wir sind alle anders, und das ist normal“, räumt Oksana ein.

Überhaupt kann sich die Haltung gegenüber allem, was geschieht oder schon geschehen ist, mit der Zeit ändern. Einfach und schnell oder nur schwierig und langsam. Zum Guten genauso wie zum Schlechten. „Wir sind ein reiches Land und hatten es zuhause sehr komfortabel. Gute Autos, gute Appartements, gutes Essen und gute Restaurants, aber jetzt ist Krieg. Einige Leute aus der Ukraine haben sich an der Grenze zu Rumänien wählerisch gegeben – etwa so: ´das passt mir nicht, das ist nicht bequem genug...´ – wozu ich sagen will, dass ich mich dafür schäme. Nicht alle in der Ukraine ticken so. Vielleicht stehen die Wählerischen wegen der Panik unter Schock. Aber wenn du aus Not in ein anderes Land gehst und dort zu Essen und einen warmen Schlafplatz bekommst und die Nase rümpfst, ist das nicht okay.“ Oksana, die wegen dem Ausreisen ihren Lebensunterhalt nicht gleich mit eingebüßt hat, versucht, immer auf alles vorbereitet zu sein. Sie hofft „stets auf das Gute“ und erwartet „jeweils das Schlimmste.“

Selbstjustiz ist der falsche Weg

Wenn jemand wie sie sagt, es gehe „um Politik und Menschen, die verletzt werden“, besteht zweifelsohne zumindest der Hauch einer Chance, dass dieser Krieg Russland und noch mehr die Ukraine als sein Opfer nicht in die Falle einer unumkehrbaren Radikalisierung tappen macht. „Ich werde nachtragende Menschen in der Ukraine verstehen, aber Putin und Lukaschenko werden wir nicht vergeben. Vielleicht werden wir ihnen doch verzeihen, nur nicht vor Gott. Ich weiß nicht, was nach dem Krieg geschehen müsste, um Vergebung von der Ukraine für die Untaten Russlands zu erreichen. Aber ich hege keinen Hass. Ich will nicht den Tod der Feinde aus Russland. Ich will nur, dass alle Bewaffneten von dort mein Land verlassen.“ Und „ihr in Rumänien und der Republik Moldau könnt euch gar nicht vorstellen, was ihr für uns getan habt. So nette Leute haben wir hier nicht erwartet!“

Werden alle Menschen Brüder?

Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
da kann sich kein Gebild gestalten;
wenn sich die Völker selbst befrein,
da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.

Friedrich Schiller muss Recht gehabt haben.

Gefährlich ist‘s, den Leu zu wecken,
verderblich ist des Tigers Zahn;
jedoch der schrecklichste der Schrecken,
das ist der Mensch in seinem Wahn.
Weh denen, die dem Ewigblinden
des Lichtes Himmelsfackel leihn!
Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden
und äschert Städt‘ und Länder ein.

Für seine im Mai 1824 in Wien uraufgeführte Neunte Symphonie bediente Ludwig van Beethoven sich bekanntlich der Ode „An die Freude“ von Friedrich Schiller. Europa aber steckt gerade in einer Krise, in der das, was Beethoven zitiert, nicht ausreicht. Allein mit seiner Hymne wird Europa die wieder einmal bitter nötige Kurve wohl nicht kriegen können. Einige Verse und Strophen haben es nämlich nicht in die Neunte Symphonie Ludwig van Beethovens geschafft. Jetzt im Krieg Russlands in der Ukraine zählen sie aber mehr denn je:

Unser Schuldbuch sei vernichtet!
Ausgesöhnt die ganze Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
richtet Gott, wie wir gerichtet.

Freude sprudelt in Pokalen,
in der Traube goldnem Blut
trinken Sanftmut Kannibalen,
die Verzweiflung Heldenmut.

Was, wenn in der Ukraine fallengelassen würde, was Putin längst schon über Bord geworfen hat? Eine unangenehme, aber unbedingt zu klärende Frage. Denkhilfe zur Antwort findet sich auch bei der schweizerischen Philosophin Jeanne Hersch, die 2000 im Alter von knapp neunzig Jahren in Genf starb: „Ich glaube, etwas, das man als religiöse Dimension bezeichnen könnte, ist auch in jeder wirklichen politischen Auseinandersetzung enthalten, und zwar gleicherma-ßen für alle Beteiligten (...) Sie erst verleiht dem politischen Kampf das absolute Engagement. Andererseits wäre der Kampf der Menschen wahrhaftig fürchterlich – nicht wegen seiner Folgen und der Gefahr der Vernichtung der Menschheit (das ist ein anderes Kapitel), sondern wegen seiner Natur – wenn es über den Kampf hinaus nicht eine religiöse Dimension gäbe, in der der Gegner noch irgendwo ein Bruder bleibt. Das setzt allerdings voraus, dass der Mensch nicht voll und ganz in seinem Kampfe aufgeht und dass das Religiöse über den Kampf hinaus bestehen bleibt. Geht es verloren, so ist alles verloren.“ Nichts anderes steht in der Ukraine auf dem Spiel. Einen zweiten Verlierer neben Putin, von dem man nicht weiß, wie mächtig er werden würde, kann die Welt nicht brauchen. Davor warnt seit über 200 Jahren auch „Das Lied von der Glocke“:

Nichts Heiliges ist mehr, es lösen
sich alle Bande frommer Scheu;
der Gute räumt den Platz dem Bösen
und alle Laster walten frei.