Das vergessene Wunderkind aus Siebenbürgen

Regisseurin Brigitte Drodtloff will Musikgenie Carl Filtsch die Unsterblichkeit zurückgeben

„Wir haben die lebendige Pflicht, ihn nicht zu vergessen. Er ist ein nationales Kulturerbe von unschätzbarem Wert“, sagt Regisseurin Brigitte Drodtloff (rechts) über Carl Filtsch (1830-1845).

Baron und Baroness von Banffy - die Entdecker und Förderer des Wunderknaben

Kritiker Moritz Gottlieb Saphir ändert später seine Meinung.

Stefan Pretuleac (15) bei der Aufführung am 25. Mai
Fotos: George Dumitriu

Mühlbach/Sebeş, 1835: drei Familien am Mittagstisch. Anlass ist der Besuch des Barons von Banffy, Gouverneur von Siebenbürgen, mit seiner jungen hübschen Gattin. Der Bürgermeister und der Pfarrer sind mit von der Partie, die Konversation der Erwachsenen will kein Ende nehmen. Auf einmal hält der fünfjährige Pfarrsohn  das Stillsitzen nicht mehr aus. Er springt auf, geht ans Klavier und schlägt, ohne um Erlaubnis zu fragen, ein paar Tasten an. Augenblicklich vergisst der kleine Carl die Menschen um sich herum, verschmilzt mit seiner Welt aus Tönen: Mozart. Er bemerkt nicht, dass die Gespräche längst verstummt sind. Oder wie die junge Baroness verzückt auf seine Finger starrt, die schwerelos über die Tasten gleiten.

Auf Anhieb hatte  Baroness Jeannette von Banffy die Genialität des Jungen erkannt. Auch ihr Mann war begeistert. Das Kind muss geschult werden, von den besten Lehrern der Welt! Sie bieten an, Carl mit nach Wien zu nehmen und seine Ausbildung zu finanzieren. Zwei Jahre lang beknien sie die Mutter, die ihren Jüngsten nicht ziehen lassen will. Er sei noch zu klein, zu zart, viel schmächtiger als gleichaltrige Kinder. Zwei Jahre liegt ihr die Baroness vergeblich  in den Ohren. Dann, am 7. April 1837, spielt der Knabe erstmals in der Öffentlichkeit. Das Publikum im Thalia-Theater tobt vor Begeisterung. Der Siebenjährige ist wie im Rausch. Musik bedeutet ihm alles. Jede Minute verbringt er am Klavier. Wenn er Vögel hört, versucht er, ihr Zwitschern  nachzuspielen. „Ich habe Angst, dass ich die ganze Musik in meinem Kopf nicht herauslassen kann“, verrät er seinem Bruder Joseph. Die Mutter erkennt: sie kann ihn nicht halten. Schweren Herzens lassen ihn die Eltern nach Wien ziehen, in Begleitung seines 17 Jahre älteren Bruders Joseph, der dort eine Diplomatenstelle innehält.

Ein Wunderkind begeistert die Welt

Vier Jahre später. Die internationale Presse schreibt über das Wunderkind aus Siebenbürgen: Carl Filtsch. Immer noch begleitet von Joseph, der seine eigene Pianistenkarriere dem kleinen Bruder zuliebe geopfert hatte, gibt der Junge bald Konzerte in Wien, London, Paris, München, Prag, Neapel... Die Investition der Banffys hat sich gelohnt: Mit Franz-Joseph, der 18 Jahre später Kaiser von Österreich-Ungarn wurde und Sissi heiratete, erhielt er Klavierunterricht. Doch während Franz von Dampfloks und Mädchen schwärmte, dachte Carl nur an sein Klavier. Trotzdem wurden die beiden Jungen Freunde. Eines Tages schreibt Carl begeistert nach Hause, er habe sich mit Franz Liszt und Sigismund Thalberg angefreundet. Liszt bat ihn, zu improvisieren – und war wie vom Donner gerührt: „Wenn dieses Kind mit Tourneen beginnt, muss ich meinen Laden schließen!“ „Bei ihm beginne ich, wo ich bei anderen aufhöre“, bekennt auch Carls damaliger Lehrer. Begleitet von Joseph reist der Wunderknabe 1841 nach Paris, in der Hoffnung, von Frederic Chopin unterrichtet zu werden. Dort angekommen, übt er wie besessen, um seinem Idol zu gefallen. Zwischen Carl und seinem neuen Lehrer entspinnt sich vom ersten Augenblick an eine tiefe Bindung. 1843 spielt der zwölfjährige Wunderknabe erstmals vor Königin Victoria – ausschließlich Stücke von Chopin. „Die Königin ist jung und schön“, schreibt Carl nach Hause. „Sie sagte mir, ich müsse wiederkommen,um auch für die Könige von Belgien und Hannover zu spielen, die bald an den Hof kommen sollen.“ Die „Morning Post“ prophezeit ihm eine strahlende Karriere: Weder Mozart noch Mendelssohn oder Bennett waren in diesem Alter so vielversprechend.

Rasch in Vergessenheit geraten

Heute, gut 170 Jahre später, kennt kaum jemand mehr seinen Namen. Das Wunderkind, das am 11. Mai 1845, zwei Wochen vor seinem 15. Geburtstag, in Venedig in den Armen der Baroness von Banffy der Tuberkulose erliegt, und dessen Tod die Welt in tiefe Trauer stürzt - Irene Andrews, die Tochter von Carls Bruder Joseph, erinnert sich an eine endlose Reihe Gondeln, „wie lauter schwarze Särge, als wäre ganz Venedig gestorben“ – vergessen. Versunken im Dunkel der Vergangenkeit. „Vielleicht, weil viele seiner Werke lange als verschollen galten“, mutmaßt Brigitte Drodtloff. Bis zu den 1990er Jahren waren nur acht Stücke von Carl Filtsch in Mühlbach bekannt. 2005 sind einige Partituren wieder aufgetaucht, bei einem Urenkel von Joseph Filtsch in Harvard, der sie online publizierte. „Es gibt einen internationalen Carl Filtsch-Wettbewerb in Hermannstadt/Sibiu, und doch kennt immer noch kaum jemand den Namen des Kindes, das zu seiner Zeit ein Star war!“, klagt die Regisseurin an, die vergeblich um Unterstützung für eine Verfilmung des Lebens von Carl Filtsch ansuchte. „Warum nehmen Sie nicht einen bekannten Musiker - Mozart vielleicht?“ hatte man ihr geantwortet.

25. Mai 2017: Bilder flackern über die Leinwand des Opernsaals der Bukarester Musikuniversität: „Auf den Spuren des siebenbürgischen Wunderkindes Carl Filtsch. Die Geschichte eines vergessenen Genies“ als visuelle Präsentation mit Konzert (unterstützt von Triarte International, dem Rumänischen Kulturinstitut, der Michael Schmidt Stiftung und der Nationalen Musikuniversität Bukarest). Die Regisseurin, die wie Filtsch aus Siebenbürgen stammt, präsentiert zu Archivbildern seine Geschichte: Die Zerrissenheit eines Kindes mit absolutem Gehör,  sein Ehrgeiz, seine Höhenflüge, seine Qualen. Wie Carl als Dreijähriger während eines Gottesdienstes, als der Organist einsetzte, plötzlich laut rief: „Aufhören - der spielt falsch!“ Oder wie er, frisch in Wien angekommen, seine Karriere schon beendet glaubte, nachdem der Kritiker Moritz Gottlieb Saphir schrieb, er hätte genug von Wunderkindern wie Carl Filtsch, die alle wie Eintagsfliegen kämen und verschwänden. In einer kurzen Filmszene inzenierte Drodtloff einen schmerzhaften Dialog zwischen Carl und seinem Bruder darüber. Der 15-jährige Stefan Pretuleac, der zum Event abwechselnd mit dem 18-jährigen Andrei Preda die Kompositionen von Carl Filtsch auf dem Klavier interpretiert, spielt das aufgewühlte Wunderkind.
„Was muss seine Mutter gefühlt haben?“, fragt Drodtloff, als der bereits geschwächte Knabe nach einem Erholungsurlaub von wenigen Monaten erneut zum Aufbruch nach Wien drängte. Von Vorahnungen geplagt, wollte sie ihn nicht ziehen lassen. Doch Carl brauchte seine Konzerte, sein Publikum, seine Musikerfreunde! Von seinem Tod erfuhr die Familie per Brief...

Liebe, Hassliebe, Unsterblichkeit

War sein Tod ein Schicksalsschlag - oder wollte die Seele dieses Wunderkindes vielleicht gar nicht erwachsen werden? Im Alltag zartbesaitet und sensibel, blühte der Junge auf der Bühne wie eine Knospe auf. Die Ausflüge in die Sphären perfekter Musik transformierten ihn augenblicklich zum entschlossenen, reifen Mann. „Er war eine alte Seele“ sagt der siebenbürgische Musiker Peter Szaunig über den Jungen, der erst von Chopin gelernt hatte, wie man Gefühle durch Musik ausdrückt - beide waren anders dazu nicht in der Lage. Chopin war der Lehrer, den er brauchte! Joseph beschrieb seinen Unterricht als „streng, aber ohne Sarkasmus“. Unermüdlich ließ er ihn wiederholen – was Carl klaglos akzeptierte, denn sie teilten denselben Perfektionismus. „Niemand hat mich je besser verstanden als dieses Wunderkind“ bekennt Chopin.
Drodtloff gibt eine Anekdote von einer Matinee im Hause der Baroness Rothschildt zum Besten: Sie hatte Chopin gebeten, zu spielen, doch dieser, bereits schwer an TBC erkrankt, gab kaum noch öffentliche Konzerte. Er willigte ein - doch nur unter der Bedingung, das Publikum möge vom Nebenraum aus zuhören. Dann überließ er es Carl, seine Stücke zu interpretieren. Gegen Ende ging Chopin nach nebenan, noch während die Musik zu hören war. Dann rief er Carl zu sich und präsentierte ihn dem erstaunten Publikum: „Voila – Chopin! Wenden Sie sich direkt an ihn...“

Doch was spielte sich jenseits des Lobes, im Schatten solcher Erfolge ab? Gab es Eifersucht oder Neid? „Es war eine Hassliebe“, mutmaßt Brigitte Drodtloff über die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer. War es dies, was seine Seele erdrückte? Oder ahnte das von Erfolgen trunkene Wunderkind, dass ein Erwachsenenleben nicht nur Höhenflüge bietet? Dass man irgendwann nicht mehr höher steigen kann?
„Nein, der Tod ist kein ewiger Schlaf, löscht diesen Satz von den Grabsteinen! Der Tod ist der Beginn der Unsterblichkeit“, sagt Peter Szaunig ärgerlich über den Tod von Carl Filtsch. Diese, hat Brigitte Drodtloff sich fest vorgenommen, will sie dem Wunderkind aus Siebenbürgen wiedergeben: „Wir haben die lebendige Pflicht, ihn nicht zu vergessen. Er ist ein nationales Kulturerbe von unschätzbarem Wert! Deshalb werde ich nicht aufgeben, bis der Film entstanden ist, damit Carl Filtsch von neuem bewundert und geschätzt werden kann“,  schließt sie kraftvoll. Und zitiert dann leise Stefan Zweig: „Niemand ist fort, den man liebt; Liebe ist ewige Gegenwart.“