„Das will ich für den Rest meines Lebens tun!“

Wie eine Erwachsene in der Musik ihren Beruf sucht und findet

Ein paar zig Meter weiter rechts unten am selben breiten Gehsteig, wo sie stundenlang für die Stadt und ihre Menschen singt, werden zu jedem politischen Wahlkampf Plakate an die Mauer gepinnt. Gabriela Dandeș aber mag darüber nicht weiter nachdenken. „Wir Musiker brauchen für unseren Job einen klaren Kopf.“

Aufgewachsen ist Ana-Gabriela Dandeș in einer der sechs Straßen, die auf die Piața Lahovari im Herzen Bukarests zuführen. Aber dort bekommt man sie schon seit vierzehn Jahren weder zu Ohren noch zu Gesicht. Als studierte Gartenbau-Ingenieurin führte ihr Weg bereits 2007 aus der Hauptstadt nach Hermannstadt/Sibiu, wo sie im Herbst 2018 an der Volksschule für Kunst und Handwerk „Ilie Micu“ nochmal neu anfing. Das einzige, was sie immer schon viel besser können wollte, war Singen. 38 Jahre alt war sie zu diesem Zeitpunkt, und 18 Jahre lang hatte sie keine Musik mehr gemacht, keinen einzigen Ton vor Publikum gesungen. Denn im Alter von 20 hatte sie die Idee einer Musikerkarriere aufgegeben. 

Dass die Eltern ihre Leidenschaft für Unterhaltungsmusik nicht wertschätzten, brach damals ihren Durchhaltewillen. „Noch heute haben sie Hemmungen, mich darin zu unterstützen“, erzählt Ana-Gabriela Dandeș. Tage mit weniger als sieben bis acht Stunden Arbeit an der Gitarre und mit der eigenen Stimme gibt es bei ihr nicht.

„Ich esse abends viel Zwiebel, weil das die Stimmbänder reinigt“, erzählt Ga-briela am Morgen im Schatten auf einer Parkbank am Graben der Harteneckgasse/Cetății. Glühend heiß kündigt sich der Tag Ende Juni an, aber wer Kindheit, Jugend und Ausbildung in Bukarest erlebt hat, für den ist Hermannstadt als Glühofen kaum der Rede wert. Gabriela sind andere Aspekte wichtiger. Fast schon ein wenig untertreibend räumt sie ein, ihr Vibrato stecke noch in den Kinderschuhen. Tatsächlich hebt ihre Stimme beim Hit „Doi ochi căprui“ nicht genauso kommerziell ab wie der Originalton im Schlager-Video des Albums „Bilețele de dragoste“ (2000) von den Schwestern Raluca und Denisa Tănase. Dafür aber bleibt Gabriela mit beiden Füßen auf dem Boden und intoniert sehr sauber. Die manchmal ganz leicht schiefen Töne der Mädchen-Band „Bambi“, die 2015 ihren letzten Auftritt gab, verirren sich nicht in das Singen von Gabriela am Gehsteig gegenüber des Radu-Stanca-Theaters Hermannstadt.

Noch bevor es 11 Uhr schlägt, stellt sie einen Klappstuhl auf, packt ihre Gitarre aus und schließt sie an einen kleinen Lautsprecher an. Für den Fußgänger-Verkehrsknotenpunkt dort zwischen Theater, Continental-Forum-Hotel, Parkplatz und Ramada-Hotel passt er genau richtig. Nicht zu laut und nicht zu leise. Im August 2020 hat Gabriela sich mit fünf auswendig gelernten Stücken unter die Passanten gewagt. Mittlerweile ist ihr Repertoire auf ein Zigfaches angestiegen. Gut dreißig Lieder in den Sprachen Spanisch, Italienisch, Französisch, Englisch und selbstverständlich Rumänisch singt sie in das Mikro ihres Headsets, das sie draußen immer trägt. Der dreijährige Lehrgang für U-Musik-Gesang und die zwei Jahre Gitarrenkurs an der Volksschule „Ilie Micu“ - beides kürzlich bestanden - haben ihr das Rüstzeug für die Erfüllung ihres alten Traums geschenkt. Singen konnte sie schon von früher, aber in das harte Brot der Beschäftigung mit der Gitarre stieg sie erst in Hermannstadt ein.

Dranbleiben ist alles

Und das als blutige Anfängerin. Hornhaut an den Fingerkuppen der linken Hand bildet sich nun mal nicht auf Befehl. Einfach so von selbst wachsen tun bloß die für das Zupfen nötigen Nägel an der rechten Hand. Volksschullehrer Claudiu Conț, selbst Gitarrist der unabhängigen Szene Hermannstadts, machte ihr Mut, nicht aufzugeben. „Ja, Aufbautraining tut weh. Es schmerzt nicht nur am ersten Tag, sondern auch am zweiten, dritten und vierten, aber irgendwann entwickelt man schließlich die Resistenz, die man im Terrain braucht“, bestätigt Gabriela. Noch vergangenes Jahr hat sie es ganz schonungslos wissen wollen und sich die Fingerkuppen wund gegriffen.

Über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren hat Ana-Gabriela Dandeș in Hermannstadt unzufrieden einen Arbeitsplatz nach dem anderen gewechselt, geheiratet, mit 30 ein Kind bekommen und sich vor zwei Jahren scheiden lassen. Obwohl das Sorgerecht für ihre Tochter beiden Eltern zu gleichen Teilen zugesprochen wurde, ist sie nebst ihrem Alltag als Freiberuflerin ohne jeden Dauervertrag auch Mutter in Vollzeit. Die Trennung macht ihre finanzielle Lage bis heute nicht einfacher. „2018 wachte ich eines Morgens mit dem Entschluss auf, mich an der Volksschule einzuschreiben. Wegen der Musik habe ich mich dann von meinem Mann scheiden lassen.“ 2020 noch musste sie als Arbeitskraft im Einkaufszentrum in Folge des pandemischen Lockdowns mit einer schlecht bezahlten Zwangsbeurlaubung Vorlieb nehmen, und schon landete das Problem der Miete auf dem Küchentisch. Woher nehmen und nicht stehlen? Das Singen half ihr aus der Klemme. „Claudiu Conț warnte mich vor, dass ich unter freiem Himmel mit dem Auf und Ab der Straße zu rechnen haben würde; aber er ist der einzige, der mir gesagt hat: ‚Wenn Du das und nichts anderes möchtest, gibt es für dich nur noch Dranbleiben!‘“

Sich an den Wochenenden ausgiebig Zeit zur Erholung gönnen, ist für sie nicht drin. Gemeinsam mit Claudiu Conț und einem seiner Ex-Schüler unterhält Gabriela ein Trio mit einer Singstimme und drei Gitarren. Es hat zwar noch keinen eigenen Namen, kann aber für stilvolle Hintergrundmusik bei diversen Gelegenheiten gebucht werden. Für Kinderfeiern und Namenstage beispielsweise. „Auch ´Ciobănaș cu 300 de oi´ haben wir parat, wenn es gerade sein muss. Unsere Stückwahl hängt vom jeweiligen Publikum ab. Hauptsache, wir treten vor Leuten auf, die mit unserer gewählten Qualität etwas anfangen können.“

Selbst zu Tränen gerührt

Auch „Vara asta“ der 2006 aufgelösten Band „Vama Veche“ zählt zu ihren Lieblingshits. „Vara asta am sa ma-ndrăgostesc de tineee“ - den Refrain singt sie nicht für sich, sondern allen Vorbeieilenden zuliebe, denen er einmal etwas Persönliches bedeutet hat oder noch immer bedeutet. „Mit Vierzig ist es nicht mehr wie mit Zwanzig. Die Gelenke ermüden rascher, und ich muss mein Arbeiten an mir selbst einerseits dosieren, andererseits aber immer auch einen Zahn zulegen.“ Gabriela lebt aktuell nur noch von ihrer Musik alleine. Sie legt großen Wert darauf, dass Menschen, die sie sehr oft singen und spielen hören, von Woche zu Woche einen Unterschied bemerken können sollen.

Ab und zu noch fragen Freundinnen bei ihr um eine Sitzung Reflexzonen-Therapie oder Massage an. Vor sechs Jahren hat sie beides in einem Kurs praktizieren gelernt. Für die Haushaltsplanung jedoch rechnet sie mit ihrer Stimme. Die etwa dreißig Songs, mit denen sie in den Sommer 2021 gestartet ist, scheinen ihr bereits zu wenig. Außerdem habe ihr seit August 2020 „noch nie jemand negatives Feedback gegeben, nein. Das Gegenteil davon traf ein. Einmal habe ich an einem anderen Ort außerhalb Hermannstadts ein ‚Halleluja‘ gesungen und dabei bemerkt, dass eine Gruppe Jugendlicher mich einkreist. Mädchen und Jungen, so etwa um die 16 Jahre alt, die mit mir mitsangen und gleich nachher applaudierten. Das hat mich zu Tränen gerührt.“

Für ihren Lebensunterhalt braucht Gabriela die Sonne und das gute Wetter. Trotzdem tun ihr auch Regentage gut, weil sie ihr Aufschub zum Üben und Erweitern des Repertoires geben. Der alte Traum vom Auftreten mit eigener Stimme und Gitarre erfüllt sich fast täglich. Zwei andere hat sie dagegen noch offen: singend sämtliche Städte Rumäniens zu bereisen, und auch als Trio gemeinsam mit Claudiu Conț und seinem Ex-Schüler in der freien Straßenszene heimisch zu werden.

Zeitaufwendiges Hobby als Broterwerb

Im vorherrschend patriarchalischen Rumänien eine ungewöhnliche Zielsetzung. Sogar aus ihrer eigenen Familie hallt sie wider, diese leidige Renitenz. „Was denn, als Frau solltest Du hauptsächlich am Herd stehen!´ Genau das tut meine Mutter aus Bukarest, wenn sie mich alle sieben Pfingsten in Hermannstadt besucht. Etwas anderes kann sie auch fast gar nicht“, sagt Sängerin Gabriela mit gemischten Gefühlen. Dass sie für sich und ihre Tochter eher wenig kocht, den Hunger zwischendurch mit einer Brezel vom Kiosk stillt und auch zu den Hauptmahlzeiten gern auf Fertiggerichte zurückgreift, treibt ihr keine Sorgenfalten ins Gesicht. Mehr noch: Besuch von der Oma ihrer Tochter nützt sie effizient aus, „denn immer dann, wenn sie in der Küche beschäftigt ist, vertiefe ich mich von 17 bis 21 Uhr in die Musik.“

Ana-Gabriela Dandeș weiß genau, dass sie sich ein Gesamtpaket mit einer Menge Tücken und Entbehrungen ausgesucht hat. Doch die Anstrengung des Büffelns von wöchentlich neuen Texten und des bühnenreifen Einstudierens von Akkordfolgen auf der Gitarre ist ihr nicht anzumerken. Die schmerzhafte Etappe aufgeriebener Fingerkuppen an der linken Hand hat sie längst hinter sich. Was für Journalisten das Pflegen von Hintergrundwissen ist, ist für Gabriela das tägliche Üben. Es wird weder bezahlt noch ausdrücklich verlangt und geschieht abseits der Öffentlichkeit, aber es ist enorm wichtig und eben sehr zeitaufwendig. Leben auf freiberuflicher Basis ist bei Weitem nicht so verlockend wie die ersten vier Buchstaben des Wortes Freiheit. Ist jedoch ein Leben als von Dritten angestellte und bezahlte Arbeitskraft gleich vom Start weg besser, einfach nur weil das freiberufliche Leben im Vergleich unsicherer ist?

Kleine Gesten mit großer Wirkung

Dass die Grenzen zwischen Erwerbstätigkeit auf Festvertragsbasis und Berufsleben ohne Dauerabsicherung zusehends verwischen, bringt die von Jahr zu Jahr schnelllebigere Welt mit sich, in der den Menschen schlichtweg die Zeit durch die Lappen geht. So mancher hinterfragt gelegentlich, ob das Verhältnis von Freizeit und Monatslohn tatsächlich dem entspricht, was man immer schon im Leben machen wollten. Die Welt heute ist überfüllt von Großverdienern. Aber auch Großverdiener sind nicht davor gefeit, der Zeit hinterherzurennen. Genau der Zeit nämlich, die für das Erwerben von Hintergrundwissen oder fürs private Arbeiten an sich selbst draufgeht.

Ana-Gabriela Dandeș ist keine Großverdienerin, und sie möchte es auch nicht sein. Stattdessen ist sie Quereinsteigerin, Sängerin und Gitarristin. Nichts Weltbewegendes also, aber dafür viele Menschen ansprechend. Sogar das jugendliche Roma-Paar in fluoreszierender Dienstkleidung, das mit Handwagen die innere Stadt abläuft, um Mülleimer zu entleeren und mit neuen Säcken zu beziehen, zückt beim Hören der Singstimme von Ana-Gabriela Dandeș einen Geldschein grüner Farbe. Geteilt ist geteilt, auch wenn es nur wenig zum Teilen gibt.

Mütter mit kleinen Kindern, die alte Frau mit Kopftuch, die lange Zeit auf der Parkbank gegenüber sitzend zuhören kann, verliebte Paare im Rentenalter und manchmal auch Obdachlose, die ihren Kummer regungslos in den melancholischen Strophen ertränken – sie alle haben oft nicht viel in den Pappbecher von U-Musikerin und Ex-Gartenbauingenieurin Ana-Gabriela Dandeș einzuwerfen. Doch was zählt, ist die Geste. Davon gibt es die Fülle im Leben der Alleinunterhalterin mit Gitarre und Gesang in Hermannstadt. Das „Rien de rien“ von Edith Piaf singt sie nicht nur einfach so dahin. Einklang von Geben und Nehmen ist der Zauberton, den die Welt stärker braucht.