„Deinen Gefühlen und dir selbst kannst du nicht entkommen“

Drogensüchtig: Monica Stans preisgekrönter Debütfilm beruht auf eigener Jugenderfahrung

Monica Stan (1985) war auf der zweisprachigen Realschulabteilung (Deutsch-Englisch) des „I. L. Caragiale”-Nationalkollegs in Bukarest und hat Übersetzung und Dolmetschen in Bukarest und Psychologie an der Royal Holloway Universität in London studiert. Drehbücher schreibt sie schon seit der Grundschule: Ihre Stücke wurden an der Waldorfschule, die sie damals besuchte, inszeniert.
Foto: George Chiper-Lillemark

Im September wurde der rumänische Spielfilm „Imaculat“ (2021) bei den Filmfestspielen von Venedig dreifach preisgekrönt. Drehbuchautorin Monica Stan und Kameramann George Chiper-Lillemark, die gemeinsam Regie führten, wurden für ihren Erstlingsfilm und für die Regie prämiert, Stan auch für das Drehbuch. Bei „Les Films de Cannes a Bucarest“ wählte das Publikum den Streifen zu seinem Favoriten. 

„Imaculat“ zeigt Daria, eine Jugendliche, die aus Neugier an Heroin gelangt und in einer Entzugsklinik ihre Sucht zu bewältigen versucht. Ihrer aufgesetzten Unschuld verdankt sie einen bevorzugten Status in der Klinik. Es stellt sich jedoch heraus, dass alles einen Preis hat. Die Geschichte geht von Monica Stans persönlicher Erfahrung aus, die in jungen Jahren drogensüchtig war. Im Gespräch mit ADZ-Redakteurin Laura Căpățână Juller erzählt die Autorin über ihren Film, über Sucht und über Gruppendynamik.

Sie haben ein sehr persönliches Erlebnis zum Filmthema gemacht. Wie kam es zu dieser Entscheidung? 


Der Film geht von meiner Erfahrung in der Entzugsanstalt aus, wo ich als 19-Jährige meine Heroinsucht behandeln ließ, er ist aber sonst nicht autobiografisch. Es ist eine Fiktion, an der ich viel gearbeitet habe. Das Drehbuch, die Figuren, sind erdacht, gefühlsmäßig ist der Film allerdings meinem Erlebnis treu geblieben. Diese Episode ist schon lange her, sie hat mich aber sehr betroffen und ständig verfolgt, und ich musste sie erzählen.

Es ist bemerkenswert, wie offen Sie über Ihre Erfahrung mit Drogen und Gefühle sprechen.

Das war nicht immer so. Ich neige dazu, mich für meine Gefühle und meine Erfahrung zu schämen. Als ich abhängig war, hat sich meine gesamte Familie geschämt, vor allem aber schämte ich mich. Lange Zeit wurde dieses Problem vertuscht, niemand hat davon erfahren. Die Entscheidung, den Film zu machen, führte zum Entschluss, offen zu sprechen. Nicht nur über den Entzug, sondern auch über meine Gefühle. Ich wollte nichts mehr verbergen. Ich finde es heute unangebracht, dass wir uns unserer Gefühle und Verletzlichkeit schämen und auch der Tatsache, dass wir manchmal verletzlich und schwach sind. Wenn wir das verdrängen, bleibt es in uns.

Ist dieser Film ein Heilungsprozess für Sie gewesen?

Eher ein Entdeckungsprozess. Das Schreiben des Szenarios war in gewisser Weise ein Heilungsprozess, infolgedessen ich aber auch andere persönliche Probleme heilen konnte, nicht nur die aus meiner Jugend. 

Ihre eigene Erfahrung in der Entzugsklinik war sehr stark. Was haben Sie daraus gelernt?

In der Entzugsklinik haben mir alle sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ich war unsicher, hatte kein Selbstvertrauen, war an einem Tiefpunkt meines Lebens angekommen. Zuhause hatte ich nie viel Aufmerksamkeit bekommen, sodass ich versuchte, Zuneigung und Bestätigung durch Heroinkonsum zu kompensieren. 

Im Spital war ich die Einzige, die der Mittelschicht angehörte, dazu noch ein Mädchen, die anderen Patienten stammten aus bescheideneren Verhältnissen. Not, nicht Neugier hatte sie dort hingebracht. Alle waren interessiert an mir, haben mich beachtet und auf einmal war ich die Königin. Es war fast ein Gefühl der Freiheit, das ich „draußen“ nie gehabt hatte. In gewisser Weise habe ich das genossen. Um meinen bevorzugten Status nicht zu verlieren, wurden aber Gegenleistungen von mir erwartet. Das habe ich schnell gelernt. Es ist etwas Gegenseitiges, an dem du also auch beteiligt bist. Du bist kein Opfer, du bist ein Teil dieser Dynamik.

Das geschieht nicht nur bei Drogensüchtigen. 

Es ist etwas Menschliches. Die Leute beziehen sich eigentlich nicht auf dich, sondern auf das, was sie von dir erhalten können. Wenn sie Aufmerksamkeit, Bestätigung und Liebe brauchen, werden sie dich ausnutzen, ohne es überhaupt zu merken.

Daria hätte jederzeit die Klinik verlassen können. Warum haben Sie entschieden, dass sie weiterhin dort bleibt?

Daria bleibt, weil sie dort etwas bekommt, was sie von draußen nicht kennt. Alles verfällt so langsam und subtil, dass man es gar nicht merkt. Es ist wie mit heißem Wasser: man hält die Hand unter Wasser, das immer wärmer wird und spürt erst zu spät, dass es heiß geworden ist. Das wollte ich auch im Film erreichen, eine stufenweise Temperaturänderung, deren Subtilität dich reinlegt. Sie merkt erst zu spät, dass es wirklich schlimm ist. Alle sind nett zu ihr, solange sie ihnen gibt, was sie brauchen. Aber sobald sie vom Image abweicht, das ihr vorgeschrieben wurde, fällt alles auseinander.

Im Film herrscht ständig Spannung, Unbehagen, ein Gefühl der Klaustrophobie. Anfangs scheint alles gut zu sein, dann aber überschlägt es sich schrittweise. Daria versucht, in dem feindseligen Umfeld zu überleben, ist sich der Auswirkungen ihres Benehmens aber nicht bewusst.

Der Film ist in zwei Teilen aufgebaut: gute Zeiten - und Zeiten, wo alles den Bach hinunter geht. Daria ist naiv, sie ist ein Kind, das die Gefahren, die ihr bevorstehen, nicht voraussieht. Ihr Handeln wird aber Konsequenzen haben und sie muss die Verantwortung dafür übernehmen. Anfangs bauen die Charaktere eine schöne, fast unschuldige Beziehung auf, die eine gewisse Ehrlichkeit hat. Aber eigentlich ist alles eine Art Gefangenschaft. Es ist eine Beziehung, in der dich die anderen besitzen wollen, es geht um Kontrolle.

In der Klink sind viele Patienten auf engstem Raum untergebracht. Es geht um Dominanz, Aggressivität, Besitz.

Der Raum ist für mich nur ein Vorwand, um zwischenmenschliche Beziehungen zu zeigen, nicht etwa Beziehungen zwischen Drogensüchtigen. Es geht um universelle Themen wie die Dynamik einer Gruppe, in der die Hierarchie sehr streng festgelegt ist.

Wenn du in einem geschlossenen Raum mit anderen Leuten eingesperrt bist, musst du mit ihnen interagieren. Solche Verhältnisse gibt es überall, in jeder Gruppe, in der sich eine Dynamik aufbaut: in der Klinik, beim Workshop, an der Uni, überall. Der einzige Unterschied ist, dass man sich in der Klinik nicht zurückziehen kann. 

Und wenn man nicht achtsam ist, kann alles ganz schnell zusammenbrechen. Missbrauch, Ausnutzung, Bullying oder psychologische Aggression können sich in die Beziehungen einschleichen. 

Das lässt mich an die Ausgangssperre denken, als die häusliche Gewalt, sowohl die physische als auch die psychische, stark angestiegen ist. 
Der Lockdown ist sehr relevant für den Film, auch wenn das Drehbuch davor geschrieben wurde. Alles wird viel intensiver, wenn man gezwungen ist, einen Raum zu teilen, aber keine Zuflucht hat. Der Film zeigt die Grenzen und Gefahren des gemeinsamen Lebens auf.

In der vorletzten Sequenz scheint Daria im Licht zu zergehen. Was folgt? Ist es ein Happy End?

Ich freue mich, wenn Zuschauer sich diese Frage stellen, weil sich jeder sein eigenes Ende vorstellt. Das Leben hat kein „bad end“ oder „happy end“, es ist ein Prozess, in dem man andauernd achtsam sein muss. Nachdem Daria die Sucht besiegt hat, wird nicht alles rosig in ihrem Leben. Überall lauern Gefahren, die sie überstehen muss. Aber sie ist stark und kann das. 

Ich weiß, dass der Film Unbehagen weckt, ich wollte den Zuschauer in diesem Zustand halten. Oftmals wollen wir dem Unbehagen, dem Unwohlsein entkommen, doch deinen Gefühlen und dir selbst kannst du nicht entkommen. Deswegen habe ich diese klaustrophobische Atmosphäre geschaffen, der weder die Figuren, noch die Zuschauer entfliehen können.

Die Arbeit an diesem Film hat vor acht Jahren begonnen.

Die Idee entstand 2013 im Rahmen des Binger Filmlab von Amsterdam, wo ich über mehrere Monate am Drehbuch geschrieben habe. Marican Laz²r war begeistert vom Thema und entschied sich, den Streifen zu produzieren. Er hat mich ständig unterstützt. Ich habe aber nicht dauernd am Projekt gearbeitet, sondern war in der Zwischenzeit auf Festivals und in der Filmbranche tätig. 2017 und 2018 habe ich wegen der Trennung von meinem damaligen Freund, mit dem ich den Film hätte machen sollen, eine einjährige Pause eingelegt. Das Drehbuch veränderte sich - und mit ihm meine Perspektive auf die Vergangenheit.

Sie haben aber nicht aufgegeben.

Nein, weil es meine eigene Geschichte ist. Ich habe sie seit meinem 19. Lebensjahr mit mir getragen. Trotz den Pausen blieb es immer mein Seelenprojekt.

Sie scheinen überrascht über die Auszeichnungen in Venedig zu sein?

Es war sehr merkwürdig. Im August haben wir den Film beendet und im September hat bereits die Premiere stattgefunden. Alles war sehr knapp. Die Premiere war mir sehr wichtig, weil die Schauspieler den fertigen Film zum ersten Mal sehen sollten. An Auszeichnungen dachte ich anfangs nicht, war aber offen für alles, was kommen möge. Ich halte eigentlich nichts von Auszeichnungen, weil ich gegen hierarchische Systeme bin. Ein wichtiger Preis kann einen Kunstfilm und die Mitglieder des Teams jedoch stark fördern.

George ist von Beruf Kameramann, aber er hat bei „Imaculat“ auch Regie geführt? Wieso?

Sobald das Szenario fast fertig war, habe ich einen Partner gesucht, mit dem ich den Film zusammen realisieren kann, jemand, der eine frische Perspektive hat. Ich kannte George nicht persönlich, hatte aber zwei der Filme gesehen, die er gedreht hatte, darunter Adina Pintilies „Touch Me Not“. Als wir uns über das Drehbuch unterhielten, habe ich bemerkt, dass er sich auf die Geschichte, die Charaktere, das Buch als Ganzes bezieht, nicht nur auf die Kameraarbeit. Wir hatten sofort eine Verbindung, wir haben einander ergänzt. Genau das brauchte ich.

Sie haben gesagt, es würde Ihnen gefallen, nach den Vorführungen dem Publikum Fragen zu stellen. Was würden Sie gerne wissen?

Ich würde fragen, mit welchem Charakter sie sich identifiziert haben, welche Figur ihnen unsympathisch ist und warum. Ich würde gerne wissen, was sie am Ende des Films fühlen und wie sie den Streifen aufnehmen, was er für sie bedeutet. Jeder hat seine eigene Vision zum Film - und die interessiert mich. Die Leute projizieren ihr eigenes Szenario auf die Geschichte, und im Gespräch erfährst du viel über sie und über das Kollektivbewusstsein.

Zum Schluss die klassische Frage: Was kommt als nächstes?

Derzeit arbeite ich an der Auswahl der Filme für das kommende Festival für Dokumentarfilm und Menschenrechte „One World Romania”. Das ist sehr anspruchsvoll. Mein Wunsch ist es, zu schreiben. Ich liebe das Schreiben und Erfinden. Ich will aber auch Dokumentationen machen. Dieses Genre finde ich sehr anziehend, weil man unabhängiger sein kann als bei Fiktion. Man hängt nicht so sehr von Zeit, Team und Geld ab. 

Wie wichtig ist es Ihnen, Geschichten zu erzählen, die Ihnennahe stehen?

Das Erfinden ist nichts Externes, es ist etwas, mit dem du aus einem gewissen Grund in Einklang bist - und je stärker es ist, umso leichter entscheidest du dich für eine gewisse Idee. Ohne diese echte Bindung, ohne etwas Tiefes für das Thema zu empfinden, gibt es keine authentische Motivation, einen Film - also ein Projekt das sich über Jahre erstreckt -, zu machen. Es gibt viele Ideen, aber nicht alle sind für jeden geignet.

Vielen Dank für das Gespräch! 

„Imaculat“ läuft auf internationalen Filmfestivals und soll im kommenden Jahr in die rumänischen Kinos kommen.