Den Bomben erst mal entkommen

Ukrainische Kriegsflüchtlinge im Westen Rumäniens: einige Momentaufnahmen

Ein Stück Heimat hat die angehende Malerin Anna Savi bei ihrer Flucht aus Charkiv mitgenommen: ihre Hündin Coco. Man klammert sich aneinander.
Foto: Werner Kremm

Wann, fragen sich derzeit viele der laut UNO-Füchtlingshilfswerk schon zehn Millionen Kriegsflüchtlinge aus Mariupol, aus Odessa, aus Kiew, Charkow und vielen anderen ukrainischen Städten, wann können wir jemals wieder in unsere Heimat zurückkehren? Und was treffen wir dort an? Nur noch Ruinen? Klar ist: Viele derjenigen, die dieser Tage ihr Land verlassen müssen, richten sich auf einen längeren Zeitraum ein – und denken sogar darüber nach, sich zumindest vorübergehend eine neue Existenzgrundlage aufzubauen, dort, wo sie sich sicher fühlen.

Bis zum dritten März-Wochenende sind weit über eine halbe Million Menschen aus der Ukraine im Nachbarland Rumänien eingetroffen. Die meisten tragen sich mit dem Gedanken, weiterzuziehen – in westeuropäische Länder wie Deutschland, Frankreich, Italien oder Spanien. Auch in die USA. Knapp 85.000 allerdings haben sich nach rumänischen Agenturberichten dazu entschieden, erst mal in Rumänien zu bleiben, oder zumindest, Rumänien nicht gleich zu verlassen, nicht bloß als Durchgangsland zu benutzen.

Ukrainische Flüchtlinge, gestrandet in Rumänien, und ihre Zukunftsperspektiven, diesem Thema waren wir am vergangenen Wochenende in Rumänien nachgegangen.

Babylonisch anmutendes Sprachengewirr: Mal wird englisch, mal rumänisch, gelegentlich schon auch mal russisch und/oder ukrainisch gesprochen. „Centru de Suport Timișoara pentru Refugiați Ucrainieni“ steht in großen Buchstaben an der Eingangstür des ebenerdigen Ladenlokals, gleich in der Nähe des Nordbahnhofs, „Unterstützungs-Zentrum für Flüchtlinge aus der Ukraine“ in der westrumänischen Stadt Timișoara/Temeswar.

„Wir sind sofort losgefahren: Fünf Stunden, nachdem die ersten Bomben fielen, haben wir mit dem Auto die Grenze erreicht: Mein Mann, mein elfjähriger Sohn, meine eineinhalb Jahre alte Tochter und ich. In diesem Augenblick war das noch möglich, dass wir alle zusammen die Grenze überqueren konnten. Und mein Mann kann jetzt von hier aus Hilfe organisieren, Medikamente, Hilfe für Freunde, für die Armee in der Ukraine – kurz und gut: Wir sind Flüchtlinge, ja. Aber wir wollen jetzt anderen Flüchtlingen helfen, die vielleicht kein Englisch können, traumatisiert sind – wie auch immer.“

„Zum einen schlägt mein Herz für unsere Freunde in Kiew, und zum anderen schlägt mein Herz für meine Kinder, die hier in Sicherheit sind, in Rumänien.“ „Das Schlimmste ist: Dieser Krieg geht weiter, jeden Tag. Ich bete Tag für Tag darum, dass meine Verwandten am Leben bleiben… Auf jeden Fall will ich hier vorerst einen Job finden, um meinen Verwandten zu helfen!“ Das, sagt Olga Voresketzka, sei Plan und Verpflichtung sogleich für die kommenden Monate.

„Hier, denke ich, will ich arbeiten, ein wenig Geld verdienen, um damit zum Beispiel Krankenhäuser zuhause zu unterstützen. Das Bankensystem in der Ukraine funktioniert ja zum Glück noch. Also, ich werde versuchen, von hier aus meine Freunde zuhause zu unterstützen.“

Sich in Rumänien zumindest vorübergehend etwas aufbauen, eine Arbeit annehmen, Geld verdienen, um diejenigen, die zuhause in der Ukraine leben, zu unterstützen – mit dieser Idee ist Olga Voresketzka nicht alleine. Flavius Ilarie Loga vom Flüchtlingshilfsverein  „Logs – Grup de Inițative Sociale“, der in Zusammenarbeit mit der Stadt das Aufnahmezentrum in Temeswar betreibt, sagt: „Von denjenigen, die aus der Ukraine bei uns angekommen sind, denken um die 300 darüber nach, ob sie hier vielleicht dauerhaft bleiben. Gerade die Jüngeren sind da fix. Sie wissen, viele hier haben den Menschen Wohnungen und Zimmer bereitgestellt, darunter auch ein paar Betreiber von Fitness-Studios. Und die haben sofort Jobs angeboten: Helfen beim Saubermachen zum Beispiel – und schließen dann einen Arbeitsvertrag ab.“ Immerhin: Von über 500.000 Geflüchteten aus der Ukraine, die seit Kriegsbeginn nach Rumänien kamen, wollen unter Umständen etwa 85.000 erst mal in Rumänien bleiben und arbeiten, hieß es am Wochenende in rumänischen Agenturmeldungen.

Sânnicolau Mare/Großsanktnikolaus, eine westrumänische Kleinstadt knapp sechs Kilometer südlich der Grenze zu Ungarn: In einer kleinen Pension, deren Besitzer sie kurzerhand zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert und dem Rathaus der Stadt zur Verfügung gestellt hat, singt Alla Karalewska ein paar Takte einer ukrainischen Volksweise: In einer über einwöchigen Odyssee kam die Frau, Mitte 30, Ärztin und Hochschullehrerin, mit ihren zwei kleinen Kindern in den Westen Rumäniens, zusammen mit neun weiteren Geflüchteten aus Charkiv. Ihr Mann blieb dort zurück. Zum Kämpfen.

„Das ist wirklich das Schwierigste: Das Warten auf Antwort, wenn wir zuhause anrufen – und dann möglicherweise keine Verbindung kriegen. Das ist ein Gefühl… nein, das kann ich nicht beschreiben…“ „Zum Beispiel: Meine Cousine – sie konnte über Tage hinweg nicht ans Telefon gehen. Irgendwann ging es dann doch, ganz kurz: Und sie hat gesagt: Ich lebe noch – ich und mein Kind. Sie war in einem Bunker, vier Tage lang, weil draußen um sie herum alles zerbombt wurde. Und als sie in den Bunker ging, war der Akku ihres Telefons leer: Und wir hatten dann den Kontakt verloren, wussten erst mal nicht, was mit ihr geschehen war. Dachten an das Schlimmste...“

Aber: Wie mag es jetzt mit ihr, Alla, weitergehen – mit ihr und den übrigen der Gruppe in Großsanktnikolaus? „Mit das Schwierigste für uns ist: Wir bekommen hier alles, wir werden herzlich aufgenommen – und wir müssen nichts bezahlen. Aber das ist eigentlich nicht unser Ding: Normalerweise kaufen wir alles mit unserem eigenen Geld, aus eigener Kraft – nach unseren Möglichkeiten. Sie haben uns vorgeschlagen, hier in der Fabrik zu arbeiten. Das wäre ja auch ok – keine Frage.“ Mit am Tisch sitzt Anna Savi, 21 Jahre alt. Sie hat an der Universität Charkiv Kunst studiert, den Bachelor gemacht, träumt davon, irgendwann in Wien weiterstudieren zu können. Kunst, Malerei. Sie hat schon selber ihre Arbeiten ausgestellt.

„Ich möchte von hier aus Leuten helfen, die in der Ukraine geblieben sind. Vielleicht werde ich hier wieder malen, meine Arbeiten dann verkaufen und mit dem Geld den Leuten in der Ukraine helfen, mit Lebensmitteln, Medikamenten. Wir müssen ja was machen. Wir können nicht einfach hier rumsitzen – einfach so, ohne dass wir unseren Landsleuten helfen. Aber vielleicht versuche ich es ja doch erst mal gleich in Österreich oder in Deutschland. Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden. Ich weiß nur: Ich muss helfen!“

Alla und Anna sind sich aber einig: Das alles darf und soll nur vorübergehend sein. „In unserem Geiste, mit unserer ganzen Seele sind wir in der Ukraine. Einmal geht’s für uns zurück nach Charkiw.“

Und so sehen das auch viele, die, gut eine Autostunde weiter östlich, ins Flüchtlings-Aufnahmezentrum Timișoara kommen. Dort hat Olga Voresketzka einen großen Wunsch, von dem sie weiß: Heute und morgen wird der nicht in Erfüllung gehen – aber irgendwann schon: Zurück nachhause, zurück nach Kiew....