„Der rote Faden dieses Buchs ist die Fluchtgeschichte, aber mir geht es um viel mehr“

ADZ-Gespräch mit Milan Radin, dem Autor des Romans „Wir waren Niemand“

Milan Radin schildert in seinem 2019 im Leykam-Verlag Graz erschienenen Buch „Wir waren Niemand“ seine abenteuerliche Flucht von Temeswar nach Österreich. Foto: Zoltán Pázmány

Milan Radin ist 1973 in Temeswar/Timișoara geboren. Er besuchte das Philologie-Geschichts-Lyzeum in seiner Heimatstadt, bis ihm 1989 die Flucht nach Österreich gelang. In seinem allerersten Roman, „Wir waren Niemand. Meine Flucht aus Rumänien“, der 2019 im Leykam-Buchverlag Graz erschienen ist, schildert er seine drei Fluchtversuche Richtung Westen: Der erste, gescheiterte Fluchtversuch ereignete sich 1987, über Ungarn. 1989 gelang der Familie der dritte Fluchtversuch, diesmal über Jugoslawien, kurz vor dem Ausbruch der rumänischen Revolution in Temeswar. Sie wollten zu Verwandten nach Deutschland, ließen sich aber schließlich in Österreich nieder. Der Absolvent von Slawistik und Romanistik und gelernte Kaufmann Milan Radin kehrte 2007 nach Rumänien zurück, nachdem er zwischendurch auch in Frankreich und den USA gelebt und gewirkt hatte. In Rumänien baute er als Geschäftsführer die Drogerie-Kette „drogerie markt/dm“ auf. Heute betreut Milan Radin die Marke „Helmut Duckadam“ und das Online-Geschäft duckadam.ro, das Sportartikel vermarktet. Wie sein Buch zustande kam und an wen sich Milan Radin damit wendet, erfahren Sie aus folgendem Gespräch, das Raluca Nelepcu mit dem Autor geführt hat.

Im vergangenen Herbst ist Ihr erster Roman, „Wir waren Niemand“, in Österreich erschienen. Wann und wie sind Sie darauf gekommen, Ihre eigene Familien- und Fluchtgeschichte von Rumänien nach Österreich niederzuschreiben?
Kurz, nachdem ich in Österreich angekommen bin, also 1990-1991, habe ich begonnen, für mich persönlich Notizen zu führen. Ich kann nicht sagen, dass das ein Tagebuch war, aber ich habe mir aufgeschrieben, wie ungefähr die Flucht verlaufen ist. So zum Beispiel, wie wir im Gefängnis „Karten“ gespielt haben, ohne Karten zu haben, wie man „21“ ohne Karten, also nur mit den Fingern, spielen kann. Daran hätte ich mich nicht erinnert, hätte ich mir keine Notizen gemacht.

Dann habe ich 2001 noch einmal daran gearbeitet und letztendlich, als ich mein Mandat bei „dm“ beendet und ein „non compete“-Jahr zu Hause verbracht habe, habe ich mir vorgenommen, dieses Projekt zu Ende zu führen. Ich wollte in Rumänien einen Verlag suchen, um 50 Exemplare zu drucken, um sie zu verschenken.

Dann war das so, dass man beim Boltzmann-Institut Graz eine Veranstaltung zum Thema „30 Jahre seit dem Fall des Eisernen Vorhangs“ vorbereitete und mich als Zeitzeugen einladen wollte. Ich erzählte ihnen, dass ich etwas geschrieben hatte, was zu diesem Thema passte, und schickte es dann auch. Zwischen Mai und Oktober habe ich das Buch fertig geschrieben, und am 7. Oktober ist es im Rathaus Graz vorgestellt worden. Bis Dezember war die erste Ausgabe vergriffen, zu meiner großen Überraschung, denn ich hatte mich nie als Schriftsteller gesehen.

Sie reden von „leicht lesen“, aber in Ihrem Buch tauchen mehrere Sprachen auf. Sie selbst behaupten von sich, dass Sie auf Deutsch, Serbisch, Rumänisch und Französisch gedacht haben, als Sie das Buch geschrieben haben. Wie viele Sprachen sprechen Sie überhaupt und wo haben Sie diese gelernt?
Ich spreche sieben Sprachen, weil ich Serbokroatisch als eine Sprache führe. Ich bin schon als Kind zweisprachig aufgewachsen, mit Rumänisch und Serbokroatisch, ich habe als Kind auch viel Deutsch und Ungarisch gehört, denn so war das in Temeswar damals. Ich habe diese Sprachen als Kind nicht gelernt, aber vielleicht waren sie irgendwo in meinem Unterbewusstsein.

Als ich nach Österreich kam, war ich gezwungen, Deutsch zu lernen. Dann kam ich nach Frankreich und nach Amerika, wo ich ebenfalls die Sprachen lernte. In der Schule, die ich in Österreich besucht habe, habe ich Russisch gehabt. Ich habe Russisch auch in Rumänien gehabt, aber hier waren es Texte von Stalin und Lenin und ich habe Russisch gehasst, und dort waren es Texte von Dostojewski und Tolstoi und ich habe Russisch geliebt. Außerdem spreche ich noch Bulgarisch.

Es ist bei mir so, wahrscheinlich auch bei anderen Mehrsprachigen, dass ich oft in Bildern denke. Ich sehe oder spüre etwas, und dann beginne ich das zu schreiben. Wenn mir ein bestimmtes Wort in einer Sprache gefällt, dann nehme ich es, und schaue später, ob ich es ersetzen kann, damit ich denselben Sinn „rübergebe“. Ich habe am Buch in den verschiedenen Ländern gearbeitet, wo ich war, also in Frankreich, Amerika, Portugal, Österreich, und dann war ich von der Sprache aus jenen Ländern beeinflusst.

Die Endversion des Buches habe ich deutscher Sprache geschrieben, weil ich mir gedacht habe, dass diese Geschichte für Westeuropa interessant sein könnte. Inzwischen sind aber 30 Jahre vergangen und auch hier, in Rumänien, fragen schon die Leute: Wie war das damals? Damit habe ich nicht gerechnet, und ich kann mir vorstellen, dass dieses Buch auch in rumänischer Sprache erscheinen könnte.

Sie haben dreimal versucht, ins Ausland zu flüchten – es hat erst beim dritten Versuch geklappt und Sie sind in Österreich gelandet. Wie schwer war der Neuanfang in einem anderen Land?
Ich habe lange mit dem Gedanken gespielt, zu gehen, auch, weil meine Tante in Deutschland lebte und wir mit dem jugoslawischen Fernsehen aufgewachsen sind und immer gewusst haben, dass es dort drüben Musikkassetten, Schokolade, Bananen, Essen und Pepsi-Cola gibt.

Aber ich hatte nie gedacht, dass ich eine andere Sprache lernen müsste – das finde ich im Nachhinein witzig. Es war alles ganz anders, vom Licht auf den Straßen, von den vollen Geschäften, vom Unterrichtstil her, dass dich niemand beim Eingang kontrolliert hat, dass man die Hymne nicht singen musste, dass man keine Uniformen tragen musste. Die deutsche Sprache musste ich lernen, dann die anderen Fremdsprachen: Englisch, Französisch, Russisch. Ich habe viel auswendig gelernt und mir selbst Diktate gegeben, bis ich den Text auswendig konnte.

Ich habe in der Schule immer geschaut, was die anderen tun: Wenn sie aufgestanden sind, bin ich auch aufgestanden, wenn sie in eine andere Klasse gegangen sind, bin auch ich mitgegangen. Es war harte Arbeit, aber ich bin ziemlich gut aufgenommen worden. In der Geschichte der Schule war ich der einzige mit nicht Deutsch als Muttersprache, und somit habe ich auch in der Region, wo ich war, im Ennstal, den Begriff „Rumäne“ und „Banater“ geprägt.

Der rote Faden dieses Buchs ist die Fluchtgeschichte, aber mir geht es um viel mehr. Deswegen heißt es auch „Wir waren Niemand“. Die Frage ist: Was sind wir heute? Wenn wir sagen, wir waren damals eine Statistik, Zahlen, was sind wir heute? Wenn zum Beispiel in China 150 Millionen Videokameras auf den Straßen installiert wurden und Ziel ist, 500 Millionen zu haben, mit diesen ganzen Gesichtserkennungs-Programmen: In welche Richtung entwickelt sich das Ganze heute?

Was ist, wenn die alten Strukturen, das Ceau{escu-Regime, diese Technologie gehabt hätten? Was müssen wir heute tun, dass es zu dem nicht kommt? Es gibt viele Fragen, die man sich stellen kann, wenn man das Buch liest. Mein Ziel war auch, dass jeder das Buch irgendwie anders interpretiert, und das habe ich auch erreicht.

Sie gehören zu den wenigen Rückkehrern. Was hat Sie dazu bewogen, nach einer so schwierigen Flucht und den schweren Anfangsjahren wieder nach Rumänien zurückzukehren?
Rumänien ist ein tolles Land, nicht nur landschaftlich, sondern auch von den Menschen her, und ich war schon immer überzeugt, dass da viel mehr möglich ist, als wir zeigen und leisten. Von Null auf etwas aufbauen zu können, trotz der bürokratischen oder marktwissenschaftlichen Kämpfe, das hat mir gefallen. Schon den drogerie markt aufzubauen, war teilweise ganz lustig, weil das Wort „Drogerie“ im Rumänischen ein bisschen anders klingt.

In einem konkreten Fall hat ein Bürgermeister sogar verlangt, dass wir keine Filiale dort eröffnen, bis ich nicht als Geschäftsführer unterschreibe oder beim Notar selbst dafür hafte, dass wir in diesem Geschäft, Drogerie SRL, keine Drogen verkaufen.

Auch jetzt tut es mir nicht leid, dass ich gekommen bin. Bestimmt wollen viele Leute weg aus Rumänien. Ich glaube, dass das stark auch eine Marketing-Frage ist.

 Ich glaube, dass Westeuropa und Amerika intelligent Marketing betreiben, um Leute in ihre Länder zu locken. Ich glaube, dass das einer der Gründe ist, weshalb viele dorthin ziehen wollen. Es stimmt, dass man dort mehr verdient, aber man bleibt nicht mit viel mehr in der Hand.Die zweite Sache ist:

Das Leben geht sowieso vorbei, man kann die Zeit nicht stoppen, und wenn man dann zurückschaut, in zehn Jahren, was man gemacht hat, so war es für mich wichtig, Spuren zu hinterlassen. Ich bin überzeugt, dass ich in Rumänien viel mehr machen kann.

Sie betreiben aktuell ein Online-Geschäft für Sportartikel der Marke „Helmut Duckadam“. Wie kam es dazu?
Ich habe beobachtet, dass es zu wenige rumänische Brands, Marken, gibt. Wir haben begonnen, Helmut Duckadam als Brand aufzubauen, das ganze letzte Jahr haben wir uns vorbereitet, zuerst mit einer Webseite, die Sportartikel, Handschuhe, inzwischen auch Fußbälle oder Showergels unter der Marke „Helmut Duckadam“ produziert.

Wir sind noch am Anfang, aber es geht immer besser und ich bin stolz, dass ich da mitmachen kann und dass man zu den anderen Marken wie Nike oder Adidas auch rumänische Marken als Alternative anbieten kann. Wir sind dabei, das Geschäft Schritt für Schritt weiterzuentwickeln.

Zurück zu Ihrem Buch, das in weniger als drei Monaten vergriffen war: Wird es eine Neuauflage geben, und wo kann man das Buch dann kaufen?
Ich wurde von dem Verlag informiert, dass es schon eine Neuauflage gibt. Das Buch kann unter www.leykamverlag.at, bestellt werden.

Ich werde im März zwei Lesungen in Österreich haben: am 12. März im Rahmen der 435-jährigen Gründungsfeier des Leykam-Verlags und am 21. März bei der 20-jährigen Jubiläumsfeier des rumänischen Kulturvereins aus Graz.