Der Tod an der Grenze

Symbolfoto: sxc.hu

Wie klein die Welt doch ist! Letzte Woche besuchte ich meinen Freund Adrian in München und lernte bei ihm Dana aus Temeswar kennen. Sie ist ungefähr so alt wie ich, und, wie sich bei unserer Unterhaltung herausstellte, arbeitete sie Anfang der 70er, wo ich als Französisch-Lehrer in Reschitz tätig war, auch in Banat, als Mathe-Lehrerin, in der Kleinstadt Hatzfeld, dicht an der rumänisch-serbischen Grenze. Damals verlief dort die Grenze zu Jugoslawien.
Dana erzählte mir, sie sei zwei-, dreimal wöchentlich zwischen Hatzfeld und Temeswar mit dem Zug gependelt, weil in Temeswar ihre Familie wohnte.

„Wenn der Zug in Hatzfeld einfuhr“, so Dana, „haben Grenzsoldaten jedes Mal die Ausweise derer, die dort ausstiegen, peinlichst genau kontrolliert. Wenn sie nicht zufriedenstellend erklären konnten, was sie an diesem Ort zu suchen hatten, nahm man sie umgehend fest. Ich hatte in Hatzfeld ein günstiges Zimmer bei einer allein lebenden alten Witwe in einem schlichten, niedrigen Bauernhaus am Stadtrand gemietet, dahinter erstreckten sich unendliche Mais- und Weizenfelder, die kein Fremder betreten durfte. Die Witwe, eine Banater Schwäbin, deren Verwandte alle verstorben waren oder schon längst in Deutschland lebten, hatte sich in ihrem Haus eingeigelt und ließ mich die drei Fensterläden zur Straße nie öffnen. Nachts wurde ich oft vom Rattern der Maschinengewehre aus dem Schlaf gerissen. Alle wussten, dass man dann draußen auf den Feldern auf Flüchtlinge schoss, der Tod lauerte in der Dunkelheit überall.

Es waren meist junge Männer, die verzweifelt ihr Leben aufs Spiel setzten, um in den Westen zu kommen, denn Jugoslawien ließ die Leute nach Österreich ziehen und schickte keinen nach Rumänien zurück. Einigen  gelang die Flucht, die meisten jedoch wurden von den Grenzposten erschossen oder festgenommen und zu Tode geprügelt. Man trat sie mit Füßen und schlug mit Knüppeln und Gewehrkolben auf sie ein, bis alles Leben aus ihnen wich, und danach brachte man sie mit einem Lastwagen nach Hause, in einem zugenagelten Sarg, den die Angehörigen unter Strafandrohung nicht öffnen durften. Manchmal fuhr ich aus Hatzfeld zu meiner Familie nach Temeswar und mit mir im Zugabteil saßen Männer, deren Hände auf dem Rücken gefesselt waren, mit entstelltem Gesicht und von Wunden übersäten Armen in Begleitung von Grenzsoldaten.“

Als Dana mir das alles erzählte, begann sie plötzlich zu weinen. Dann fing sie sich aber wieder und bat mich, sie dafür zu entschuldigen. Sie sei nun selbst von ihrer heftigen Reaktion überrascht, denn seit damals seien über 30 Jahre vergangen.
Auch meine Großeltern in den 60ern und danach meine Eltern in den 70ern, die in Temeswar ins Haus meiner verstorbenen Großeltern eingezogen waren, erzählten bisweilen im Flüsterton unfaßbare Horrorgeschichten von vor Trauer und Schmerz für immer gebrochenen Nachbarn, deren erwachsene Kinder Richtung jugoslawische Grenze verschwunden waren und ein, zwei Tage später in einer klapprigen, zugenagelten Bretterkiste wieder nach Hause kamen.