Der Wunsch nach politischer Veränderung und die Bereitschaft, politisch aktiv zu werden, wachsen in Rumänien

ADZ-Gespräch mit Matthias Jobelius, dem Landesvertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rumänien und der Republik Moldau

Die rumänische Gesellschaft, vor allem die rumänische Jugend, ist protestwilliger als man es noch vor wenigen Jahren hätte erahnen können. Das stellen nicht nur die jüngsten Sozialbewegungen unter Beweis, sondern auch die Ergebnisse einer Jugendstudie des Rumänien-Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Darüber, aber auch über die innenpolitische Landschaft im Wahljahr 2016,  die Sozialpolitik sowie europapolitische Themen wie Arbeitnehmerfreizügigkeit sprach ADZ-Redakteurin Lilo Millitz-Stoica mit Matthias Jobelius, dem FES-Landesvertreter in Rumänien und der Republik Moldau. Der studierte Politikwissenschaftler steht dem FES-Büro in Bukarest seit März 2012 vor, davor leitete er das FES-Regionalbüro Südkaukasus mit Sitz in Tbilisi, vertrat die FES in Georgien, Armenien und Aserbaidschan und war im FES-Büro in Indien tätig.

Sehr geehrter Herr Jobelius, Ende letzten Jahres sind in Bukarest und Dutzenden Städten Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen, um ein Ende der Korruption und vor allem eine Erneuerung des politischen Establishments zu fordern. Ist dieses Signal Ihrer Meinung nach von den wichtigsten Parteien auch verstanden worden bzw. sehen Sie drei Monate später bei letzteren tatsächlich Zeichen eines Reformwillens?

Der Protest war eindrucksvoll. Parteien brauchen Druck aus der Gesellschaft und sie brauchen eine Verankerung in der Gesellschaft. Wenn beides nicht vorhanden ist, drohen Parteien zu klientelistischen Netzwerken zu verkümmern. Mit Blick auf das Ziel einer dauerhaften Veränderung der politischen Kultur in Rumäniens Parteiensystem sind die Demonstrationen aber eher als eine Wegmarke zu sehen. Ein wichtiger Schritt zu jeder innerparteilichen Erneuerung ist eine selbstkritische Debatte über die gemachten und von der eigenen Partei zu verantwortenden Fehler. Gemessen daran ist der Reformwillen bislang noch etwas ausdruckslos geblieben.

Um bei der Parteienlandschaft zu bleiben - welche Chancen würden Sie denn den neuen Parteien angesichts des Wahljahres 2016 einräumen?

Für das politische System Rumäniens war die vor einigen Monaten erfolgte Liberalisierung des Parteiengesetzes ein wichtiger Schritt. Zuvor hatte Rumänien die restriktivsten Regelungen zur Gründung einer Partei in ganz Europa. Demnach brauchte man 25.000 Personen, um eine Partei zu registrieren, jetzt braucht man nur noch drei. Das kann den pluralistischen Wettbewerb in Rumänien verbessern und politische Alternativen hervorbringen. Aber der Aufbau und die Konsolidierung von Mitgliederparteien braucht Zeit. Die großen etablierten Parteien werden daher vermutlich auch die Wahlen 2016 unter sich ausmachen, zumal das aktuelle Wahlsystem ihnen einen Vorteil einräumt. Kleinere und neuere Parteien könnten aber durchaus einige Achtungserfolge erzielen.

Ihr Büro hat in den letzten Jahren zahlreiche Debatten, Rundtischgespräche und Workshops, einschließlich internationale, just zum Thema der Sozialbewegungen sowie der „politischen Beteiligung in Krisenzeiten“ organisiert. Ließ sich anhand der Gespräche erahnen, dass ein Ausbruch der Volkswut nur noch eine Frage der Zeit ist? Und wie haben Sie als Politikwissenschaftler die „Colectiv“-Massenproteste wahrgenommen?

Die FES hat Mitte 2014 eine empirische Jugendstudie in Rumänien durchgeführt, in der die Werte und Einstellungen junger Menschen untersucht wurden. Unsere Umfragen zeigten eine hohe Protestbereitschaft in der jungen Generation und dies insbesondere beim Thema politische Korruption. Dass dieses Protestpotenzial vorhanden ist, war also bekannt, wann und in welcher Form es sich Bahn bricht, ist indes nie genau vorhersehbar. Aber jedem politischen Beobachter ist klar, dass die Colectiv-Proteste Ende 2015 kein singuläres Ereignis waren. Sie stehen in einer Reihe mit den Demonstrationen gegen die Privatisierung des Gesundheitssystems im Jahr 2012, den Roşia-Montana und Anti-Fracking Protesten von 2012 und 2013 und den Demonstrationen während der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014.

All diese Ereignisse zeigen, dass es in Rumäniens Bevölkerung nicht nur einen deutlichen Wunsch nach politischer Veränderung gibt, sondern auch eine neue Bereitschaft, dafür aktiv zu werden. Für Rumänien ist das eine gute Entwicklung. Proteste von sozialen Bewegungen reichen zum Aufbau einer demokratischen politischen Kultur nicht aus, aber sie sind dennoch ein zentraler Bestandteil derselben. Allerdings war gerade bei den Colectiv-Protesten ein politisch sehr heterogenes Bündnis auf der Straße. Es gab viel pauschale Elitenkritik, aber darüber hinaus keinen gemeinsamen politischen Nenner. Der progressive Teil der Protestbewegung steht nun vor der Aufgabe, seine Ablehnung des Etablierten in politische Alternativen zu überführen.

In einer umfangreichen, „Lost in Democratic Transition“ betitelten Studie hat sich Ihr Büro 2015 ausgiebig der rumänischen Jugend, ihren Sorgen, Bestrebungen und Alltagsproblemen gewidmet. Wie lautet das Fazit – wie „lost“ ist unsere Jugend, was setzt ihr am meisten zu, wovon träumt sie?

„Lost in Democratic Transition“ fasst die Ergebnisse von Jugendstudien zusammen, die wir in Rumänien und in zahlreichen anderen Ländern Südosteuropas durchgeführt haben. Dabei zeigt sich ein erstaunlich homogenes Bild der Jugend in der Region. Ein großer Teil der Heranwachsenden sowohl in Rumänien als auch in anderen Staaten Südosteuropas ist unzufrieden mit dem Zustand der Demokratie in ihrem Land und bringt den etablierten Institutionen der parlamentarischen Demokratie nur sehr wenig Vertrauen entgegen. Nur 20 Prozent der befragten wahlberechtigten Jugendlichen in Rumänien gaben an, sich an Wahlen beteiligt zu haben. Eine sehr große Mehrheit vertrat die Ansicht, Rumänien bewege sich in die falsche Richtung. Die größten Probleme sehen Rumäniens Jugendliche dabei in Korruption, Armut und Jobunsicherheit.
Darüber hinaus war überraschend, wie konservativ, religiös und wenig tolerant sich viele Jugendliche zeigen. Die Hälfte der befragten Jugendlichen in Rumänien gab beispielsweise an, Homosexuelle nicht zu akzeptieren. Bei vielen Fragen dominierten sehr traditionalistische Einstellungen.

Zu den Kernpunkten Ihrer Tätigkeit gehört Sozialpolitik – ein bei rumänischen Politikern besonders in Wahlkampfzeiten hochbeliebtes Wort. Wo hört Ihrer Meinung nach Sozialpolitik auf und setzt Populismus ein?

Dass es in Rumänien Probleme mit der Gemeinwohlorientierung von Parteien gibt, wird zurecht oft kritisiert. Wenn dann mal eine Maßnahme beschlossen wird, die breiten Teilen der Bevölkerung direkt zu Gute kommt und die Geld kostet, heißt es oft, dies sei populistisch. Der Vorwurf ist immer schnell zur Hand. Es lässt sich aber leicht feststellen, ob eine sozialpolitische Maßnahme einer längerfristigen, programmatischen Linie folgt, ob sie durchdacht und haushaltspolitisch solide gegenfinanziert ist. In dem Fall kann nicht von Populismus gesprochen werden, selbst wenn die Maßnahme in einem Wahljahr umgesetzt wird. So war es meiner Ansicht nach richtig, die Austeritätspolitik in Rumänien zu beenden und durch die Erhöhung des Mindestlohns Armut zu bekämpfen und die Binnennachfrage zu stärken. Das war nicht populistisch, sondern wirtschafts- und sozialpolitisch geboten. Ähnliches könnte über staatliche Mehrausgaben für soziale Sicherungssysteme gesagt werden. Rumänien liegt hier am untersten Ende im EU-Vergleich.

Letztes Jahr hat Ihr Team Bilanz nach einem Jahr Arbeitnehmerfreizügigkeit für rumänische und bulgarische Arbeitnehmer gezogen. Wie fällt Ihr Fazit nun nach zwei Jahren Arbeitnehmerfreizügigkeit aus, wie schlägt sich der rumänische Arbeitnehmer am europäischen Arbeitsmarkt?

Der Trend zur Zuwanderung rumänischer Arbeitnehmer nach Deutschland und in andere westliche EU-Staaten hält weiter an. Anfang 2013 lebten noch rund 200.000 Rumäninnen und Rumänen in Deutschland, inzwischen sind es mehr als doppelt so viele. Ihre Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist gut, es gibt eine hohe Beschäftigungsquote und ein gutes Qualifikationsniveau. Es gibt allerdings nach wie vor viele Fälle von Ausbeutung, prekärer Beschäftigung und der Verletzung von Arbeitnehmerrechten. Aber das ist nicht die Regel.

Was werden Ihrer Meinung nach die Großbritannien in puncto Sozialleistungen gemachten Zugeständnisse der EU-Staaten zur Brexit-Verhinderung bewirken – insbesondere für rumänische Arbeitnehmer?

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine wichtige Errungenschaft. Zielländer wie Großbritannien oder Deutschland profitieren von ihr enorm. Auch in Deutschland werden allerdings im ersten halben Jahr nach der Ankunft grundsätzlich keine Leistungen an ausländische EU-Bürger gezahlt, vom Hartz-IV-Bezug sind EU-Bürger, die nur auf Arbeitssuche sind oder die keine Erwerbsabsicht haben, ausgeschlossen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat diese Praxis im September 2015 bestätigt und damit für vereinbar mit dem Freizügigkeitsrecht erklärt. Aus dem Recht auf die freie Wahl eines EU-Landes, in dem man arbeiten möchte, ergibt sich also nicht automatisch das Recht auf den sofortigen Zugang zu allen sozialen Leistungen. Angesichts des enormen Wohlstandsgefälles in der EU ist es grundsätzlich legitim, wenn Staaten Übergangszeiten definieren, in denen ein ausländischer EU-Arbeitnehmer zunächst Ansprüche auf Leistungen erwirbt, bevor er sie in Anspruch nimmt.

Eine vierjährige Übergangszeit, wie sie von Cameron auf den Tisch gebracht wurde, ist aber überzogen und unfair, denn so muss jemand sehr lange arbeiten und dem britischen Staat Steuern zahlen, ohne Ansprüche auf Gegenleistungen zu bekommen. Überschaubare, begründete und faire Übergangsregelungen, die kompatibel mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind, sind demgegenüber für rumänische Arbeitnehmer unproblematisch, denn die Umfragen zur Abwanderung aus Rumänien zeigen klar, dass Auswanderungswillige dorthin gehen wollen, wo sie auf Arbeit und bessere Einkommen hoffen können und nicht etwa dorthin, wo es großzügige soziale Sicherungssysteme gibt. Die Orientierung auf Arbeit ist ganz klar erkennbar.  

Wie groß schätzen Sie dabei die Gefahr eines „Schneeballeffekts“ in der EU ein, zumal einige EU-Staaten ja noch vor dem jüngsten EU-Gipfel ihre Forderungen nach gekürzten Kinderbeihilfen für „gewisse EU-Bürger“ prompt  erneuerten?

Die Bürger ausgewählter EU-Staaten von Leistungen auszuschließen, wäre ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot in der EU. Eine solche Regelung hätte keinen Bestand. Es ist wichtig, die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Nicht-Diskriminierung als Prinzipien zu erhalten. Zugleich müssen soziale Ungleichheiten innerhalb der EU abgebaut werden. Denn es sind diese Ungleichheiten bei Einkommen und Lebenschancen, die für die Zuwanderung aus ärmeren EU-Staaten in reichere EU-Staaten verantwortlich sind. Und die sozialen Sicherungssysteme der reicheren EU-Staaten sind weder dafür da, noch sind sie in der Lage, den wachsenden sozialen Schieflagen in der EU zu begegnen. Das geht nur über Investitionen und über eine bessere Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in den Herkunftsstaaten. Dabei sind zunächst die Regierungen dieser Länder gefordert. Aber auch die EU sollte dringend der sozialen Dimension der Europäischen Integration mehr Aufmerksamkeit widmen, beispielsweise durch eine EU-weit koordinierte Mindestlohnpolitik, durch Mindeststandards bei sozialen Leistungen oder der öffentlichen Daseinsvorsorge.

Und last but not least – welches sind die Schwerpunkte Ihres Büros im laufenden Jahr, welchen Themen wollen Sie sich 2016 widmen?

Die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen für Rumänien und die EU, der deutsch-rumänische Dialog, die aktuelle Flüchtlingskrise und die wachsende Gefahr von rechtsextremen und rechtspolitischen Parteien für die Demokratie in Europa sind Themen, zu denen wir 2016 in Rumänien arbeiten. Daneben setzen wir unser Engagement im Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und unsere Arbeit mit rumänischen Gewerkschaften fort. Wir widmen uns zudem der Debatte um ein Wirtschafts- und Sozialmodell für Rumänien, das sich an den Prinzipien von guter Arbeit, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit orientiert.

Herzlichen Dank für Ihre Ausführungen.