Die Ära der Vernunft

Das 18. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch die „Ära der Aufklärung“. Ihre Zeitgenossen erhoben die menschliche Vernunft zur höchsten Richterinstanz. Nach ihrer Überzeugung entscheidet allein die menschliche Vernunft über Wahrheit und Irrtum. Nur was sie für „vernünftig“ erklärt, hat allgemeine Geltung. Damit verwiesen die „Rationalisten“, also die Vernunftgläubigen, Gott ins Altenstübchen. Bei solchem Tun erhebt sich aber die fundamentale Frage: In welchen Menschen soll die Vernunft, diese höchste aller Instanzen, verkörpert sein? Auf unserem Erdball sind doch alle Menschen mit Vernunft ausgestattet. Die Vernunft welcher Menschen soll maßgebend sein? Die Vernunft des Philosophen Kant oder die des chinesischen Eseltreibers; die Vernunft des Königs Salomon oder die seines Hofnarren? Man müsste sich also darauf einigen, was schon der weise Plato anriet, nur die Vernunft der „Geistesaristokraten“ soll maßgebend für alle Vernunftinhaber sein. Dadurch werden aber diese zu Göttern erhoben und die Vernunft wird zum „goldenen Kalb“, das angebetet wird.

Da tut sich aber eine unüberbrückbare Schwierigkeit auf. Es müssten alle „Supervernünftigen“ die gleichen Antworten auf alle Fragen des Lebens haben. Ihre Antwort müsste „unisono“, also gleichlautend sein. Aber gerade das geschieht nicht. Es bewahrheitet sich vielmehr das Sprichwort: „So viele Köpfe, so viele Meinungen!“ Das zeigen die vielen philosophischen Systeme, von Demokrit bis Kant; die zahlreichen politischen Überzeugungen, angefangen von der englischen Demokratie bis zur chinesischen Mao-Diktatur. Wer hat recht? Nach welcher Doktrin sollen wir uns richten? Es stellt sich leider heraus: Die menschliche Vernunft, auf sich allein gestellt, kann den gordischen Knoten aller unserer Fragen und Erwartungen nicht lösen. 

Gehen wir einen Schritt weiter. Als vernünftige Menschen stellen wir die Grundfrage unserer Existenz. Sie lautet kurz und bündig: „Woher – wohin?“ Zum „Woher“: Wir alle kommen aus dem Mutterschoß! Die Frage: Wer hat den Mutterschoß erdacht und erschaffen? Keinesfalls die menschliche Vernunft! Dann muss es doch, logisch gedacht, eine übermenschliche Vernunft geben, die sich diese Lebensquelle ausgedacht und physisch geschaffen hat. 

Nun zur Frage „Wohin?“: Die menschliche Vernunft, gezwungen durch die Erfahrung des Lebens und des Sterbens, muss bekennen: „Ins Grab!“ Dort aber erlischt endgültig unsere hochgepriesene Vernunft. Da kann man nur in das Studentenlied der „Aufklärungszeit“ mit einstimmen: „O alte Burschenherrlichkeit! Wohin bist du entschwunden?“
Es gibt in unserer physischen Welt so viele Naturgeheimnisse, die unsere viel gepriesene Vernunft zwar erkennen, aber nicht erklären kann. Seit Leibniz wissen wir, dass es eine Anziehungskraft der Erde gibt. Wir können sie nicht sehen und die Vernunft kann sie nicht erklären, muss sie aber annehmen. Die menschliche Vernunft kann auch nicht erklären, was Magnetismus, was Elektrizität ist. Sie kann nur deren Wirkung feststellen und sie gebrauchen. Sie kann auch nicht erklären, wie in einem 60-80 Meter hohen Baum Wasser bis in die letzten Zweige steigt, ohne dass ein mechanisches Pumpwerk nötig ist. Es gibt noch viele andere Geheimnisse der Natur, die wir feststellen, aber nicht erklären können.

Die Rationalisten haben die menschliche Vernunft auf einen wackligen Thron gesetzt. Sie hat nicht die nötige Herrscherkraft, den Leib mit seinen Sinnen immer in Schach zu halten. Wie oft empören sich die niederen Leidenschaften gegen die Vernunft und überwinden sie. Zu oft steigt im Menschen das Böse, als das Unvernünftige, über das Gute, also das Vernünftige. Es gibt leider viel mehr Sünder als Heilige, mehr, die auf die Unvernunft als auf die Vernunft hören. Wie heißt es doch in Goethes Faust: „Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, um tierischer als jedes Tier zu sein!“ Ein Vernunftwort lautet: „Nemo dat, quod non habet! – Niemand kann geben, was er nicht hat!“ Wir haben uns die Vernunft nicht selbst gegeben. Sie ist eine Gabe der ewigen, alles umfassenden Vernunft Gottes. Nehmen wir dankbar dies so herrliche Geschenk Gottes an. Missbrauchen wir es nicht, um uns zu absoluten Herren über Gott und seine Schöpfung zu überheben. Die gesunde Vernunft soll uns helfen, Gott in seiner Schöpfung zu erkennen, Ihn zu preisen und mit dem Apostel Paulus fröhlich zu bekennen: „Oh Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!“ Das begründet die wahre „Ära der Vernunft“.