Die Droge der kleinen siegreichen Kriege

Ein Gespräch zwischen Gazeta Wyborcza-Herausgeber Adam Michnik und Wissenschaftlerin Irena G. Gross zu Putin und Europa

Alexander Dubcek musste nach Zerschlagung seiner Reformbewegung und des Prager Frühlings durch sowjetische Truppen zurücktreten, trotz Breschnews Bruderkuss wenige Wochen zuvor. Das Foto zeigt ihn am 24. November 1989, der Nacht des Ende des Regimes, umarmt von Vaclav Havel.
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Bruderkuss II: Ein Graffito in Modena kritisiert die Nähe des Rechtspopulisten Matteo Salvini zu Putin.
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Adam Michnik
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Irena Grudzinska Gross
Foto: Klub Absolwentow UW

Adam Michnik war einer der Anführer der Solidarnosc-Bewegung des Jahres 1989 und Teilnehmer der Verhandlungen am Runden Tisch, die die kommunistische Herrschaft in Polen beendeten. Er ist Herausgeber der Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Irena Grudzinska Gross emigrierte nach den Protesten 1969 aus Polen in die USA und erhielt ihren PhD an der Columbia University, sie forscht zu Ost- und Mitteleuropäischer Geschichte und Literatur und ist unter anderem Professorin am Institut für slawische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

Irena Grudzinska Gross: Es war ungewöhnlich, dass US-Präsident Joe Biden eine Pressekonferenz über die Tötung des Anführers des ISIS abhielt; dieser hatte nicht annähernd die Bedeutung seines Vorgängers und schon gar nicht die von Osama bin Laden. War das eine indirekte Antwort auf die Wahrnehmung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass die USA – gedemütigt im Ausland und gespalten zu Hause – eine geschwächte Macht sind?

Adam Michnik: Putin ist mit Sicherheit überzeugt, dass der Westen heute schwächer ist denn je. Doch rührt sein Verhalten auch aus seiner antiamerikanischen Paranoia. Putin glaubt, dass sich alles, was die Amerikaner tun, gegen Russland richtet. Ich weiß nicht, ob das, was derzeit in Syrien passiert, mit den Ereignissen in Donezk in Verbindung steht. Aber in Putins Augen besteht mit Sicherheit eine derartige Beziehung. Das ist typisch für eine bestimmte Art von politischem Führer. Wir in Polen haben auch so jemanden. Jaroslaw Kaczynski (der Vorsitzende der regierenden Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS)) sieht hinter jedem Fehlschlag eine Verschwörung feindseliger Kräfte am Werk. Und die feindseligen Kräfte sind alle, die ihm nicht lautstark applaudieren.

Ich halte Biden für einen Politiker, der sich über Putins Russland keine Illusionen macht. Er möchte realistisch sein und will keinen Krieg, aber lehnt eine Politik des Appeasements und Zurückweichens ab. So verstehe ich die Aussagen der Amerikaner, seit Russland angefangen hat, Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzuziehen, und sie sind vernünftig. Das setzt natürlich vo- raus, dass die den Demokraten und Biden – und tatsächlich den Grundlagen der amerikanischen Demokratie selbst – feindselig gegen-überstehenden innenpolitischen Kräfte sich in den USA nicht durchsetzen. Ansonsten könnte sich dieser Ansatz als zahnlos erweisen.

Was genau sind Putins Ziele?

Als er begann, seine Truppen aufmarschieren zu lassen, hatte er etwas im Visier, aber dann kollidierte er mit etwas anderem. Vielleicht hatte er kalkuliert, dass der Westen und Biden in Schwierigkeiten wären und deshalb der Zeitpunkt zum Losschlagen gekommen sei. Eine entschlossene westliche Reaktion – oder zumin-dest der Anschein einer solchen – ist eine Überraschung für ihn. Es spielt keine Rolle, ob er an die außergewöhnlich harten Sanktionen glaubt, die zu verhängen der Westen angedroht hat, falls er in der Ukraine einmarschiert; man hat sie ihm vorbuchstabiert. Er will keine totale militärische Konfrontation, aber kluge Leute – nicht nur in der Ukraine – erinnern uns daran, dass auch keiner den Ersten Weltkrieg wollte.

Glauben Sie, es besteht eine unmittelbare Gefahr einer derartigen Entwicklung?

Ich glaube nicht, dass Putin offen angreifen wird. Ich denke, er wird tief verwurzelte russisch-sow-jetische Taktiken anwenden. Das heißt, er wird sich zurückhalten, solange die öffentliche Meinung im Westen mobilisiert bleibt, und abwarten, bis die Welt einen Seufzer der Erleichterung ausstößt, dass ein Konflikt vermieden wurde. Sie werden sich erinnern, so war das 1968 in der Tschechoslowakei. Der sowjetische Einmarsch in jenem August erfolgte drei Wochen nach einem Treffen in Cierna nad Tisou, wo (der tschechoslowakische KPC-Chef Alexander) Dubcek und (der sowjetische Generalsekretär Leonid) Breschnew einander in die Arme fielen. Es sah aus, als wäre die Krise abgewendet.

Die heutige Krise legt eine radikale Veränderung beim geopolitischen Status quo insbesondere in Europa nahe. Was ist passiert? Hat sich Europa derart verändert?

Europa hat sich nicht besonders stark verändert. Putin hat Europas tragende Struktur mit Tritten traktiert, und der dadurch angerichtete Schaden ist unübersehbar. Natürlich konsolidieren sich die antidemokratischen Kräfte, und die Europäische Union hat etwas von ihrer Attraktivität verloren. In Italien führen (Matteo) Salvinis Lega und Fratelli d’Italia den populistischen Angriff an. In Spanien gibt es Vox. Ich bin schockiert, dass der bekannte spanische Journalist Hermann Tertsch, ein guter Freund von mir, denen beigetreten ist.

Und dann ist da (der ungarische Ministerpräsident Viktor) Orbán, ein autoritäres Vorbild für Kaczynski. Orbán hat eine andere Vorstellung von Europa, dieselbe wie Marine Le Pen in Frankreich. Von einer jüngsten Konferenz der Euroskeptiker in Spanien ist Orbán direkt nach Moskau geflogen, um mit Putin Champagner zu trinken.

Die USA schicken nun 1700 Soldaten nach Polen. Besorgt Sie das angesichts der derzeitigen Spannungen?

Je besser die US-polnischen Beziehungen, desto besser für Polen. Das schließt die militärischen Beziehungen ein. Polens Pech ist seine Regierung. Es scheint, als stünde diese Regierung am Rande des Zusammenbruchs, doch sind die Wähler sehr anfällig für autoritäre, populistische, antideutsche, fremdenfeindliche, antisemitische, nationalistische und isolationistische Slogans. Durch internationalen Druck wird sich das Verhalten dieser Regierung nicht ändern. Wir Polen müssen diese Situation lösen. Der Westen tut bereits, was er kann, um zu helfen, und zwar eine Menge.

Ist diese Regierung zugleich auch antirussisch?

Das ist eine sehr interessante Frage. Rhetorisch ja. Doch richtet sich die PiS-Propaganda überwiegend gegen die EU und Deutschland. Es gibt ein polnisches Narrativ des Märtyrertums  – Katyn usw. –, aber irgendwelche konkreten Auswirkungen hat das nicht. Selbst Kaczynskis Unterstützung für alle möglichen Verschwörungstheorien über den Flugzeugabsturz 2010 in Smolensk, bei dem sein Zwillingsbruder, der damalige Präsident Lech Kaczynski, und 95 weitere Personen ums Leben kamen, hat nur zu mehr Verwirrung geführt.

Viele Menschen in Polen fragen sich, ob Kaczynski bewusst ist, dass er das Land in Richtung eines „Polexit“ aus der EU führt und eine prorussische Politik betreibt. Ich glaube nicht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob seine Entourage nicht vom russischen Geheimdienst infiltriert wurde. Auf jeden Fall werde ich wiederholen, was ich schon oft gesagt habe: Wenn ich jetzt in Moskau und Chef der Lubjanka wäre, würde ich täglich eine katholische Messe für Kaczynski lesen lassen und beten, dass er sich keinen Schnupfen holt. Einen besseren Verbündeten könnten sie dort nicht finden.

Und das betrifft nicht nur Kaczynski und die PiS. Die Grundeinstellung der europäischen extremen Rechten scheint pro Putin zu sein.

Womöglich ist das ein Gelegenheitsbündnis. Doch besteht kein Zweifel, dass sowohl Vox als auch Le Pens Rassemblement National in Kreml-Kredite verstrickt sind. Das ist natürlich nicht entscheidend; sie wären auch ohne russisches Geld europafeindlich. Das europäische Projekt ist trotz all seiner Fehler, Korruption und Schwäche ein liberales Projekt, das sich der Demokratie und der Freiheit des Individuums verschrieben hat. So ein Projekt wollen sie nicht.

Ich möchte gern noch einmal auf das Szenario für die kommenden Monate zurückkommen. Sie haben gesagt, dass Putin den Einmarsch verschieben wird.

In Russland ist faktisch alles von einem Mann abhängig. Wenn ich „alles“ sage, dann meine ich Entscheidungen. Putin ist womöglich nicht in der Lage, jedes Szenario umzusetzen, aber er hat die politische Macht noch stärker bei sich konzentriert als selbst Stalin das getan hat. Stalin waren zumindest formell durch sein „Politbüro“ Grenzen gesetzt.

Aber ich bin überzeugt, dass Putin nach 22 Jahren an der Macht nichts Positives zur russischen Politik mehr beizutragen hat. Welches Potenzial auch immer seine Führung einst für Russland barg: Es hat sich erschöpft. Und weil es keinen Mechanismus für einen friedlichen Machtwechsel im Kreml gibt, bleibt nur die düstere Dynamik fortgesetzten Verfalls. Das ist wie bei einem Fahrrad, das sich vorwärts bewegen muss, um sich aufrecht zu halten. Die Frage ist, wann das Fahrrad anhalten  wird und wie es dann fällt.

Es muss etwas passieren, weil Putin sich aufrecht halten will. Daher wird er sich für etwas entscheiden, was die Russen als „kleine siegreiche Kriege“ bezeichnen. Das kann Charkiw sein, Odessa, Moldau oder Kasachstan. Es wird ablaufen genau wie im Falle der Krim. Das ist ähnlich wie bei einem Narkotikum: Zuerst ist da Euphorie, auf die dann das Verlangen nach einer weiteren Dosis folgt.

Sie glauben also, dass es eine innere russische Dynamik in Richtung Aggression gibt?
Ich erinnere mich an die erstaunte Reaktion des Kremls auf die Wahl von Selenskyj. Die Russen hielten es für unmöglich, dass er gewählt werden könnte. (Der ehemalige Präsident Petro) Poroschenko hielt alle Trümpfe in der Hand: die Armee, Geld, Macht. Er musste gewinnen, weil er das zumindest in Russland getan hätte. Stattdessen verlor Poroschenko deutlich und akzeptierte seine Niederlage.

Der Kreml war fassungslos – und verfiel in Schweigen. Doch es dauerte nicht lange, bis sich Nervosität verbreitete. Wenn so einer – ein junger Schauspieler aus einer beliebten Comedy-Show im Fernsehen – die Präsidentschaftswahl in Kiew gewinnen konnte, dann könnte so etwas, Gott behüte, womöglich auch in Moskau passieren. Das ist, wo Russland heute steht. Das Regime ist besorgt, unsicher und weiß nicht, was passieren soll.

Das kann eine gewisse Zeit so bleiben; es ist eine Stabilität des Verfalls. Sie erinnern sich, wie das mit Breschnew war. Auch damals wussten alle, dass der Mann, der das Sagen hatte, eine wandelnde Mumie war. Doch sie hielten bis zu Ende an ihm fest, weil das Sowjetsystem nicht über einen verlässlichen Mechanismus verfügte, um einen Machtwechsel herbeizuführen. Daher lässt sich unmöglich vorhersagen, was mit Putin und Russland passieren wird. Aber passieren wird etwas. Schließlich konnte nicht einmal Stalin ein Dekret des Politbüros bewirken, dass den Tod verbot.

Aus dem Englischen
von Jan Doolan