„Die EU ist keine perfekte Einrichtung, aber sie hat einen Vorteil: Sie reagiert auf Krisen und Situationen und versucht, sie zu lösen“

Interview mit Mitja Žagar, Professor an der Universität in Ljubljana, Slowenien

Prof. Dr. Mitja Žagars Schwerpunkte sind unter anderem vergleichende Politik- und Regierungswissenschaften, Verfassungsrecht, gute Nachbarschaftsbeziehungen, internationale Beziehungen und Menschenrechte, ethnische Studien, Konflikt- und Friedensstudien.
Foto: Zoltan Pázmány

Mitja Žagar ist Rechtswissenschaftler und Professor am „Institut für Ethnische Studien“ der Universität Ljubljana, wo er das Forschungsdepartement und das Forschungsprogramm koordiniert und das „Internationale Zentrum für interethnische Beziehungen und Minderheiten in Südosteuropa“ leitet. Er ist auch Professor an der Universität Primorska, wo er ein Doktorandenprogramm im Bereich „Management der Diversität“ koordiniert. Mitja Žagar hat an verschiedenen Universitäten in Europa, den USA, Kanada und Australien doziert und wurde mehrmals als Experte in interethnischen Beziehungen und Fragen der Minderheiten von der slowenischen Regierung herangezogen. Er hat im Laufe der Jahre auch als Experte  zahlreichen nichtstaatlichen sowie internationalen Organisationen gedient, darunter der  OSZE oder dem Europarat. Zwischen 2001 und 2003 war er Koordinator der Arbeitsgruppe für Menschenrechte und Minderheiten des Stabilitätspaktes für Südosteuropa. Über Minderheiten, Immigranten und Europa sprach er anlässlich eines Besuchs an der West-Universität Temeswar mit der ADZ-Redakteurin Ştefana Ciortea-Neamţiu.

Einer ihrer Forschungsschwerpunkte sind die ethnischen Minderheiten. Sie haben mir erzählt, dass sie schon einmal in den 1980er Jahren zu Besuch in Temeswar gewesen sind und jetzt bei einem Spaziergang durch die Stadt einige Änderungen bemerkt haben. Worum handelt es sich genau?

Außer den offensichtlichen Veränderungen wie etwa die neuen Gebäude, die neue Architektur, die vielen Menschen auf der Straße, ist mir aufgefallen, dass in den 1980er Jahren auf den Straßen Temeswars viel Deutsch, Ungarisch und Serbisch gesprochen wurde. Dieser Tage habe ich kaum noch eine dieser Sprachen auf den Straßen gehört. Das ist auf jeden Fall eine der Änderungen, die man bemerken kann.

Haben Sie denn andere Sprachen gehört, etwa Italienisch?

Ja, Italienisch, auch ein bisschen Deutsch und Englisch, aber es handelte sich vorwiegend um Touristen. Aber die Sprachen, die existiert haben und vor der Wende Teil des Umfeldes waren, kommen seltener im öffentlichen Raum vor, werden mehr privat gebraucht. Jeder erwartet, dass man Rumänisch spricht, wenn man seine Freunde trifft, die viel-leicht die Sprachen der ethnischen Minderheiten nicht so gut beherrschen. Die Funktion der gemeinsamen Sprache, die von den Bürgern angenommen wurde, hat das Rumänische übernommen.

Einer der Gründe ist, dass es eine sehr starke Auswanderungswelle der Deutschen gegeben hat, aber auch viele junge Ungarn haben sich für andere Lebensstandorte entschieden. Diese Gruppen aber waren sehr wertvoll für die Stadt, sie haben die Stadt bereichert. Wie denken Sie über ethnische Minderheiten?

Ich bin damit einverstanden, dass die Auswanderung, vor allem wenn sie so disproportional ist, ein Problem für die Minderheit in einem gewissen Umfeld sein kann, weil sich weiterhin der Prozentsatz der Minderheit reduziert. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass eben die jungen Menschen von vitaler Bedeutung für die Minderheit, für deren Existenz und Entwicklung sind. Sowohl die Minderheiten als auch das Umfeld, das sie verlassen haben, die Mehrheit also, haben dadurch nur zu verlieren, wenn es intensive Auswanderungen vorwiegend der sehr produktiven, jungen Mitglieder der Gemeinschaft gibt.

Sie sind Experte im Bereich der ethnischen Minderheiten. Welches ist die größte Herausforderung in Europa zum Thema Minderheiten heute? Handelt es sich um die Integration der Roma oder um die Immigranten aus dem Norden Afrikas, die über das Mittelmeer nach Europa kommen?

Es gibt mehrere relevante Themen. Auf jeden Fall ist das Thema Roma von großer Wichtigkeit, handelt es sich dabei doch um die größte und zugleich die marginalisierteste Minderheit in Europa.

„Rezepte gibt es nicht“

Gibt es denn ein Rezept für die Integration der Roma?

Nein, das gibt es nicht. Man muss ständig Aktionen zur Inklusion unternehmen. Eine in einem gewissen Umfeld erfolgreiche Methode muss in einem anderen Umfeld nicht unbedingt erfolgreich sein. Auch in den Ländern, in denen sehr viel für die Integration der Roma gemacht wurde, besteht Nachholbedarf.

Welches sind diese Staaten?

Die meisten EU-Staaten haben mittlerweile eine Integrationspolitik für Roma aufgestellt. Wenn wir Slowenien anschauen, sind die Roma durch die Verfassung geschützt, aber es gibt immer noch Probleme.

Was genau sieht die slowenische Verfassung in dieser Hinsicht vor?

Die Verfassung schützt explizit die Roma-Gemeinden, auch die ungarische und die italienische Minderheit werden explizit geschützt. Es kommt nicht oft vor, dass so etwas in der Verfassung spezifiziert wird. Trotzdem gibt es mehrere Probleme in der Integration, so ist die Arbeitslosigkeit unter den Roma immer noch am höchsten. Am wichtigsten ist meiner Meinung nach die Einbeziehung der Roma in den Bildungsprozess, nicht nur die Einbeziehung in den Bildungsprozess der Mehrheit, sondern auch die Einbeziehung ihrer Themenschwerpunkte und ihrer Lehrer. Sehr wichtig ist auch der Erhalt ihrer Kultur. Ich halte auch Maßnahmen für die bessere Inklusion der Roma auf dem Arbeitsmarkt für sehr wichtig. Eines der heißen Themen heute wäre allerdings die neue Immigrantenwelle: Was machen wir mit den Flüchtlingen und den Asylsuchern? Das sind alles Fragen, die von großer Relevanz sind, worauf zurzeit weder die EU noch einer der Mitgliedstaaten adäquate Antworten hat.

„Die EU braucht konstant Immigranten“

Man hat viel darüber geredet, dass Ungarn einen Zaun an der Grenze zu Serbien aufbauen will.
Glücklicherweise hat die ungarische Regierung dann doch erklärt, dass der Zaun nicht errichtet wird. Ich glaube, das wäre fürchterlich gewesen. Dass so etwas auch nur erwogen wurde, in Europa! Die europäischen Prinzipien wären dadurch verletzt worden. Europa soll das sein, was es verkündete, dass es sein wollte. Man braucht mehr Solidarität. Wenn wir uns die demografischen Daten anschauen, braucht die EU konstant Immigranten, um den heutigen Lebensstandard zu erhalten.

Sie meinen das Altern der Bevölkerung.

Dies, wie auch das Phänomen der Entvölkerung, das uns in manchen Regionen der EU begegnet. Um die aktuellen Standards und die aktuelle Entwicklung zu behalten, muss man konstant Immigranten aufnehmen. Man kann auch nicht nur denen gegenüber offen sein, die man zu einem gewissen Zeitpunkt braucht, sondern man sollte auch im Sinne der Solidarität agieren und denjenigen helfen, die es benötigen. Am besten wäre, zur Entwicklung der Regionen beizutragen, aus denen die Immigranten nach Europa kommen. Die Menschen verlassen ihre Heimat nicht, wenn sie sehen, dass sie dort eine Zukunft haben, dass es Möglichkeiten zur Entwicklung gibt. Wenn das fehlt, dann ist die realistische Option, zu emigrieren und andere Umfelder zu suchen, die besser sind. Auf lange Sicht ist das Beste, was Europa machen kann, dazu beizutragen, dass die Lebensstandards in den Herkunftsländern verbessert werden.

Sie haben vor der Wende zu einer Gruppe von Intellektuellen gehört, die sich vorgestellt haben, wie die Unabhängigkeit, die Selbstständigkeit Sloweniens aussehen könnte.


Eigentlich handelte es sich um Aktivisten aus neuen sozialen Bewegungen, nicht nur Intellektuelle, die sich für den Demokratisierungsprozess des damaligen Jugoslawien eingesetzt haben. Nicht alle waren für die Selbstständigkeit Sloweniens. Die erste Idee war, dass eine demokratische Bewegung von Nutzen war. Diese Bemühungen waren nicht nur bei uns zu spüren, sondern auch in Ungarn und in den späten 1980er Jahren, sogar auch hier in Rumänien.

Mit wem haben Sie in Rumänien zusammengearbeitet?

Ich habe einige Aktivisten aus Temeswar getroffen, aber nicht hierzulande, sondern in Budapest, bei einer Tagung. Wir haben unsere Erfahrungen ausgetauscht. Ich habe nicht an der Revolution hier teilgenommen, an der Initiierung des Prozesses. Grundsätzlich haben wir unsere Erfahrungen und Ideen ausgetauscht, Vorschläge formuliert. Meine Idee war, dass man alle Möglichkeiten der demokratischen Inklusion im Demokratisierungsprozess gebrauchen sollte. Ich habe damals gehofft, dass alle wirtschaftlichen und sozialen Rechte beachtet werden, also war ich ein idealistischer Optimist zu dem Zeitpunkt. Die Wirklichkeit und die Entwicklungen, die sich ergaben, waren ganz anders als meine Träume damals.

„Solidarität ist erforderlich“

Nähert sich die Sachlage heute mehr Ihren damaligen Vorstellungen?

Nein, ich glaube, dass es eine sehr hohe Diskrepanz in allen europäischen Staaten gibt. Auch die EU als solche hatte ich mir demokratischer und offener gegenüber den Bürgern vorgestellt. Ich hatte gehofft, dass die Bürger mehr in die Entscheidungsprozesse eingebunden, dass verschiedene Technologien besser genutzt werden, um die demokratischen Prozesse und die Entscheidungsprozesse zu verbessern. Eigentlich bin ich nicht wirklich enttäuscht oder ernüchtert, aber es gibt eine große Kluft zwischen dem, was ich erträumte, und dem, was wir haben. Wenn es um bestimmte Schwerpunkte wie Gleichberechtigung, Gerechtigkeit usw. geht, bin ich nicht so wirklich glücklich über das Ergebnis. Ich glaube, dass die Entwicklungen wichtig gewesen sind, ich glaube, dass wir einen Fortschritt gemacht haben, aber ich hatte mehr erwartet.

Glauben Sie, dass Serbien vorbereitet ist, Mitglied der EU zu werden?

Ich glaube, dass die EU alles daran setzen müsste, um Serbien und alle anderen Balkanstaaten, die noch nicht EU-Mitglieder sind, es aber wünschen, aufzunehmen. Ob Serbien bereit ist? Natürlich nicht. Aber war Rumänien vorbereitet? In einem gewissen Umfang, ja. Aber es war grundsätzlich eine politische Entscheidung, Rumänien aufzunehmen. So sollte auch die politische Entscheidung existieren, Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und andere Balkanstaaten aufzunehmen. Ich glaube nicht, dass es darum geht, ob sie vorbereitet sind. Sie werden es für eine geraume Weile nicht sein. Aber die bloße Aufnahme sendet ein Signal und kann die Hoffnungen steigern, die Menschen mobilisieren. Das ist der Grund, weshalb ich für die Aufnahme plädieren würde. Natürlich sollten diese Staaten auf bestimmte Standards, Kriterien vorbereitet sein, aber wir wissen auch, dass Rumänien und Bulgarien nicht alle Kriterien erfüllt haben und aus politischen Gründen wurden sie trotzdem aufgenommen. Wir wissen auch, dass Kroatien die Kriterien relativ gut erfüllt hat und trotzdem sind einige Probleme. Die EU ist keine perfekte Einrichtung, aber sie hat einen Vorteil: Sie reagiert auf Krisen und Situationen und versucht, sie zu lösen. Heute steht die EU größeren Problemen gegenüber als derAufnahme neuer Mitgliedstaaten. Es geht um die Griechenland-Krise und hier ist es offensichtlich, dass die existierenden Politiken und Strategien nicht die besten sind, Solidarität wäre in solchen Fällen zweifellos erforderlich.