„Die EU muss eine Gemeinschaft gemeinsamer Werte sein, und an diese Werte haben sich alle zu halten“

ADZ-Gespräch mit dem Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien, Cord Meier-Klodt

Der Diplomat Cord Meier-Klodt ist seit Januar 2017 Deutschlands Botschafter in Rumänien. Foto: Deutsche Botschaft Bukarest

Ob politische oder Rechtsstaatlichkeitskrisen, der Kampf um Europa anlässlich der EU-Wahl sowie die Angst vor einem europaweiten Vormarsch der Populisten, ob Brexit, die Migrationskrise oder Straßenproteste gegen Autokraten und Korruption – das politische Jahr war bisher ein heißes, sowohl für Europa als auch für Rumänien. Über die Zukunft Europas im Jahr des 30. Jubiläums des Falls der Berliner Mauer sprach ADZ-Redakteurin Lilo Millitz-Stoica mit dem Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien, Cord Meier-Klodt.

Sehr geehrter Herr Botschafter, die EU-Kommission hat jüngst einen jährlichen Grundwerte-Check für alle EU-Staaten beschlossen; mit dem neuen Verfahren soll offenkundig Vorwürfen einiger mittel- und osteuropäischer Staaten, darunter auch Rumänien, über einen bisher allzu einseitigen Fokus Rechnung getragen werden. Welche Konsequenzen für Rechtsstaatssünder könnte das neue Verfahren vorsehen?

Als allererstes: Die EU zeigt damit, dass alle Partner sich an unsere gemeinsamen Werte zu halten haben. Jüngere und ältere Mitglieder gleichermaßen! Künftig will die Europäische Kommission einen jährlichen Zyklus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten einrichten. Denn ein regelmäßiges Monitoring zeigt früher auf, wann und wo Rechtsstaatlichkeit gefährdet ist. Dann kann besser und zielgerichteter gegengesteuert und Unterstützung angeboten werden. Letztlich kann so auch  eine größere Sensibilität und ein besseres Verständnis in den Mitgliedstaaten geschaffen werden. Ich halte deshalb diesen Überprüfungszyklus für ein sinnvolles Instrument. So kann vorgebeugt werden, bevor Rechtsstaatsdefizite in den Mitgliedstaaten ein Ausmaß annehmen, das ein Eingreifen der EU etwa in Form von Vertragsverletzungsverfahren oder Sanktionsmaßnahmen gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags erfordert. 

Die rumänischen Behörden haben sich – mit Ausnahme des Staatspräsidenten – bisher wenig beeindruckt von Gutachten europäischer Experten (Venedig-Kommission; Staatengruppe des Europarats gegen Korruption/GRECO) oder Jahresberichten (Kooperations- und Kontrollmechanismus der EU-Kommission/CVM) gezeigt. Weshalb sollte sie das neue Verfahren mehr beeindrucken?

Der angekündigte Überprüfungszyklus setzt primär auf Zusammenarbeit und Dialog. Er soll zu einer Kultur der Rechtsstaatlichkeit führen und damit dazu beitragen, dass es gar nicht erst zu Defiziten kommt. Er soll verhindern, dass rechtsstaatliche Reformen, die etwa durch das Eingreifen der EU zustande gekommen sind, zurückgedreht werden. Und dieser Mechanismus gilt für alle! Dies ist mir sehr wichtig zu betonen. Damit läuft auch der Vorwurf von doppelten Standards ins Leere, den wir manchmal hören. Ich gehe daher davon aus, dass der neue Grundwerte-Check auch in Rumänien auf offene Ohren stoßen wird. Die rumänische Regierung hat sich ja nach den Europawahlen deutlich zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der EU-Kommission zur Stärkung des Rechtsstaats und der Korruptionsbekämpfung verpflichtet. Sie kann gerade jetzt durch zügige, konkrete Schritte in die richtige Richtung Zeichen setzen und Vertrauen unter Partnern zurückgewinnen.

Die gewählte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zählte im Europaparlament als ihre Prioritäten zunächst die Politikfelder Sicherheit, Klimaschutz, Wohlstand, gleiche Lebensverhältnisse und Digitalisierung auf, bevor sie auch auf Rechtsstaatlichkeit und Migration zu sprechen kam. Rechnen Sie damit, dass das Thema Rechtsstaatlichkeit für die neue EU-Kommission etwas in den Hintergrund rückt?

Noch einmal: Das Herzstück unserer europäischen Identität sind doch unsere gemeinsamen Werte – Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte. Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat deshalb vor dem Europäischen Parlament unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit eine zentrale Priorität der Kommission bleibt. In diesem Sinn hat die Kommission mit ihrer im Juli veröffentlichten Mitteilung bereits eine Vielzahl konkreter Maßnahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und zur Beseitigung von Rechtsstaatsdefiziten in der EU und ihren Mitgliedstaaten angekündigt. Der bereits genannte neue Überprüfungszyklus ist eine davon. 

Mit Ursula von der Leyen ist erstmals eine Frau an die Spitze der EU-Kommission gewählt worden – eine zweifelsfrei historische Wahl. Allerdings wurde mit ihr auch jemand vorgeschlagen und gewählt, der kein Spitzenkandidat bei der Europawahl war. Bescheinigt dieses Posten-Geschacher nicht auch der EU ein Demokratiedefizit?
Ein Demokratiedefizit kann ich darin nicht erkennen, wohl aber eine durchaus noch im Fluss befindliche und sehr lebhafte Debatte zum Kräftegleichgewicht von Europäischem Parlament und Europäischem Rat. Es ist ja Aufgabe des Rates, dem Parlament einen Kandidaten – oder eine Kandidatin! – für das Amt des Kommissionspräsidenten vorzuschlagen, und zwar unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Europawahlen. Mit Frau von der Leyen hat der Europäische Rat eine Kandidatin jener Parteifamilie vorgeschlagen, der die Bürgerinnen und Bürger in den Wahlen die meisten Stimmen gegeben haben. Und das aus diesen Wahlen hervorgegangene Europäische Parlament hat Frau von der Leyen nach intensiven Gesprächen und auf Grundlage der von ihr vorgestellten Leitlinien mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt. 

Zugleich muss und wird die Debatte weitergehen, wie die europäische Demokratie zusätzlich gestärkt werden kann, z. B. durch das Instrument des „Spitzenkandidaten“. Frau von der Leyen selbst hat vorgeschlagen, den Spitzenkandidatenprozess zu verbessern und auch das Thema der transnationalen Listen anzugehen. Sie will eine Konferenz zur Zukunft Europas einberufen, die hierzu bis Sommer 2020 konkrete Vorschläge machen soll. Das begrüße ich.

Die rumänischen Bürgerinnen und Bürger haben sich bei dem zeitgleich mit der EU-Wahl organisierten Referendum über die Justizreform mit überwältigender Mehrheit für einen harten Antikorruptionskurs ausgesprochen. Konnte die rumänische Zivilgesellschaft damit das schlechte Image ihres Landes zumindest einigermaßen aufpolieren?
Lassen Sie mich dazu zunächst sagen, dass ich seit dem ersten Tag meines Dienstantritts in diesem schönen Lande von seiner lebhaften und engagierten Zivilgesellschaft schwer beeindruckt bin. Ich habe zahllose Menschen kennengelernt, die sich mit Verve für ein modernes Europa einsetzen, wie es auch mir für die Zukunft unserer Kinder und Enkel vorschwebt. Ich nehme aus meinen vielen Gesprächen an Schulen und Universitäten in Rumänien immer wieder mit: Die jungen Menschen haben verstanden, dass es von ihnen abhängt, wie unser Europa und unsere Welt von morgen aussehen werden. Die Tatsache, dass Rumänien bei den kürzlichen Europawahlen eine rekordverdächtige Steigerung von 50 Prozent in der Wahlbeteiligung an den Tag legte und auch das nötige Quorum beim Referendum deutlich übertraf, ist ein weiterer schlagkräftiger Beleg. Das macht Mut für die Zukunft Rumäniens. Ich finde, dass all dies verdient, europaweit wahrgenommen und gewürdigt zu werden. Wir als Botschaft haben diese gute Nachricht jedenfalls nach Kräften weitergetragen.

Seit Monaten drückt die Mehrheit der Rumänen der angesehenen früheren obersten Korruptionsjägerin Laura Kövesi die Daumen im Rennen um den Posten des ersten Europäischen Chefanklägers. Rechnen Sie mit einem Happy End, etwa im September, dieser „unendlichen Geschichte“?

Wenn Sie mit „Happy End“ meinen, dass es jetzt bald eine Entscheidung in dieser Sache geben sollte, dann bin ich hundertprozentig einverstanden. Fakt ist: Für die Besetzung des neuen Amts eines Europäischen Generalstaatsanwalts ist Einvernehmen zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat der EU erforderlich. Das Parlament favorisiert erkennbar weiterhin Frau Kövesi; eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten hat sich dagegen bisher im Rat für den französischen Bewerber ausgesprochen. Wichtig ist, dass das Verfahren nach der Sommerpause zügig fortgesetzt wird. Denn die neue Europäische Staatsanwaltschaft unter der Leitung eines Generalstaatsanwalts bzw. einer Generalstaatsanwältin muss nun schnell aufgebaut werden, um die aktive Tätigkeit so bald wie möglich aufnehmen zu können.

In wenigen Wochen steht in Ihrem Land ein Jubiläum an – 30 Jahre Mauerfall. Die deutschen Medien widmen sich diese Tage ausgiebig der Frage, wie es um die Einheit Deutschlands im Jubiläumsjahr bestellt ist und ob wohl „jetzt zusammenwächst, was zusammengehört?“ Was würden Sie darauf antworten?

Ich antworte darauf: Willy Brandt hat Recht behalten - in Deutschland ist zusammengewachsen, was zusammengehört! Nicht perfekt, nicht in allen Bereichen, auch heute noch bestehen Unterschiede zwischen Ost und West fort. Aber ebenso gut ließe sich von Unterschieden zwischen entwickelten und weniger entwickelten Gegenden im alten Westen der Bundesrepublik oder unter den neuen Bundesländern selbst sprechen. Insgesamt jedenfalls betrachte ich das Zusammenwachsen der beiden deutschen Teile in den letzten 30 Jahren als einen eindrucksvollen Erfolg. Natürlich für uns Deutsche, aber auch für unsere europäischen Freunde. Denn Europa ist und bleibt der Leitstern der deutschen Einheit und deutschen Außenpolitik. Aber, die Geschichte war eben doch 1989 nicht zu Ende! Wir stehen heute weltweit vor ganz neuartigen Transformationsprozessen, aus denen wir uns nicht ausklinken können. Zum Beispiel, wie sich das Thema Arbeit in einer digitalisierten Welt ausgestalten lässt. Oder beim Thema Migration mit all seinen Facetten wie Toleranz, Sicherheit, Diversität, Integration, Heimat. Diese Aufgaben betreffen auch die Menschen in Deutschland, in Ost und West gleichermaßen. Deshalb gilt für uns in Deutschland genau das gleiche wie auch für Europa: Wir dürfen die Antworten gerade auf die schwierigen Fragen von heute nicht den populistisch-extremen Politikern überlassen, die den Menschen einfache Lösungen vorgaukeln, wo es solche einfachen Lösungen nicht gibt. Nicht geben kann!

Wie begeht die Deutsche Botschaft in Bukarest dieses besondere Jubiläum des Mauerfalls?

Unsere Jubiläumsfeierlichkeiten fangen schon einmal damit an, dass wir zum diesjährigen Nationalfeiertag Anfang Oktober die Stadt Leipzig als besonderen Partner eingeladen haben. Mit den sogenannten „Montagsdemons-trationen“ und dem Ruf „Wir sind das Volk“ haben die Menschen dieser Stadt im Herbst 1989 wesentlich dazu beigetragen, den Widerstand der DDR-Obrigkeit zu brechen und den Weg für die friedliche Revolution zu ebnen. Das möchten wir gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern Bukarests feiern. In der „Leipzig-Woche“ vom 1. bis 4. Oktober erinnern wir mit Ausstellungen, Lesungen, Konferenzen und Konzerten an dieses Ereignis. Näheres dazu werden wir beizeiten auf der Facebook-Seite der deutschen Botschaft veröffentlichen. 

Besten Dank für Ihre Ausführungen.