Die gute Seele im Dorf

Besuch bei Sigrid Nikolaus in Heldsdorf

Vorfrühling im Burzenland. Jede Knospe ein Versprechen, die Weidenzweige – leuchtend gelbe Uferwächter an der Burzen. Ich bin unterwegs nach Heldsdorf/Hălchiu zu Sigrid Nikolaus und treffe sie im Hof. „Nur ein wenig, bis der Zucker verladen ist“, ruft sie hinter einer Dacia mit Anhänger hervor. Zeit, den Garten zu bewundern, der am Erwachen ist: Schneeglöckchen, Winterlinge und eine große Fläche, die auf Saat und Pflanzen wartet. Mittendrin ein Magnolienbaum, übervoll mit Knospen. Wenn der zu blühen beginnt…

Ihn hat Frau Sigrid zum Siebzigsten bekommen, vor zehn Jahren also, und er ist ihr ganzer Stolz. Wir schlendern zurück zum Haus, aber mein Blick bleibt an einer großen Tanne hängen. Hat der Sturm von gestern ihr nichts angetan? Gar nichts, lacht Sigrid. Für sie ist dieser Baum das Zeichen des Umbruchs. Zu Weihnachten 1989, sprudelt es aus ihr hervor, hatte man sie gebeten, das damals noch junge Tännlein mit Kerzen zu schmücken. Sie selbst, als staatliche Angestellte, war gerade erst aus der Arbeit gekommen und konnte nicht zum Gottesdienst gehen. Wenn die Dorfkinder aus der Kirche kämen, sollten ihre Augen leuchten, in Vorfreude auf die Bescherung. Der Gottesdienst zu Ende, Gewehrschüsse im Dorf, Panik, schreiende und weinende Kinder in der Nähe. Schnell löschte Sigrid alle Kerzen, presste das Hündchen in ihre Arme und verschwand im Haus. Als Karl, ihr Ehemann, endlich ankam – wie sah er aus! – herrschte Furcht und Ratlosigkeit. Wer hat geschossen? frage ich, obwohl die Antwort klar ist: Das weiß bis heute niemand.

Die neuen Zeiten haben tiefe Gräben gezogen. Plötzlich wollten alle weg. Warum nur, fragten damals Sigrid und Karli ihre Kränzchenfreunde. Nie zuvor war Deutschland ein Thema gewesen in ihren Gesprächen. Das Dorf leerte sich rapide. Wer nicht weg wollte, wurde nicht einmal gegrüßt. Sigrid hat es überlebt. Sie wurde zum Mittelpunkt und helfenden Anker für alle in Heldsdorf Verbliebenen und zu einer unverzichtbaren Anlaufstelle für die „Deutschländer“. Die HOG (Heimatortsgemeinschaft) ist eine der aktivsten im Burzenland. Wenn ein Treffen in der alten Heimat ansteht, füllt sich ihr Haus, aufs Backen und Kochen versteht sie sich wie keine andere. Sigrid stammt nämlich aus einer großen Familie, hat von klein auf in einem Haushalt mit neun Personen gelebt. Wäsche waschen, Essen kochen in den Zeiten nach dem Krieg, die Arbeit nahm einfach kein Ende. Das junge Mädchen musste 1954, nach der Grundschule, den Berufswunsch Säuglingsschwester aufgeben. Die Mutter hatte wirklich keine Möglichkeit, sie zu unterstützen.

Stattdessen: Geld verdienen in einer Baumschule, mit Männern zusammenarbeiten beim Pflanzen und Ausgraben der jungen Bäumchen, Rosen schneiden und pflegen. Ein „Sachsennest“ sei das gewesen, wo 18 Mädchen aus der Gemeinde ihr Auskommen fanden. Und wo man herrlich „blödeln“ konnte, wie das Witzeln im Burzenland so heißt. Sie selbst, erzählt sie mit Bitterkeit im Blick, musste zweimal wöchentlich zu Hause bleiben. Warum? Weil es zu viel Arbeit gab für die Mutter. Man stelle sich vor, Wäschewaschen im Bottich, dann Kochen mit Laugstein, Spülen, an der Sonne Trocknen. Und kaum war der Mittagstisch abgeräumt, musste das Abendessen gekocht werden. Nein, in ihrer eigenen Wirtschaft hat Sigrid später nie mehr warmes Abendessen gemacht. Zu viel Arbeit!

Karl und Sigrid Nikolaus haben keine eigenen Kinder, aber unendlich viele Freunde und Bekannte. Auf dem Hof herrscht Bewegung. Einiges vom Ertrag des landwirtschaftlichen Vereins Heltia lagert immer noch in ihrer Scheune. Mit ihnen berät man sich, sei es wegen der Zukunft des Vereins, sei es, wenn es um soziale Probleme geht. Verzweifelte Mütter haben ihre Kinder gelegentlich bei Frau Sigrid „deponiert“, wenn der Ehezwist eskalierte. Ein seltsamer Weihnachtsgast, im Visier der Polizei, vergisst nie, an Heilig Abend zu kommen um dann einfach wieder zu verschwinden. All das kann Sigrid mit Witz und Verve erzählen. Sie hält die Verbindung zu Heldsdörfern, die jetzt im Altenheim in Schweischer leben, sie weiß aber auch, wo das Original des Siebenbürgenlieds von Johann Lukas Hedwig lagert, dem begabten Musiker, der aus Heldsdorf stammt.

Bessi, der schwarze Haushund, hebt seine Pfoten auf meine Knie und nähert sich meinem Gesicht. Zeit zum Aufbruch, will er wohl sagen. Frau Sigrid erzählt noch, dass sie alle, aber auch alle Beiträge im ADZ-Jahrbuch lese. Die Zeitung selbst bekommt sie nur, wenn sie zur Post geht und am Freitag alle fünf Ausgaben nach Hause mitnimmt. Ihr Tor zur Welt ist außerdem der Fernseher im Wohnzimmer mit seinen deutschen Programmen.

Sigrid verabschiedet mich am Gassentor, nicht ohne mir zu zeigen, welche Sträucher im Hof besonders gepflegt werden. Im Herbst macht sie daraus siebzig Gestecke für den Friedhof. „Bei uns bleibt kein Grab ungeschmückt.“ Sie selbst? Die Familiengruft will Sigrid der HOG für Urnenbeisetzungen zur Verfügung stellen. Ihre eigene Asche, sagt sie wie nebenbei, soll in alle Winde verstreut werden.