Die Komfortzone des eigenen Denkens verlassen

Mehr säkulare Binnenkritik kann das christliche Rumänien stärken

Im wachsenden Weltdorf werden Kirchenmänner sich nicht mehr hinter vorgespielter Glückseligkeit verstecken können. Collage: Florin Viorel / Foto: Klaus Philippi

„Viele meiner Freunde haben sich schon lange von der Kirche abgewendet. Sie wirkt auf sie unglaubwürdig, veraltet, vergilbt, festgefahren, unbeweglich, geradezu unmenschlich und somit haben die meisten sich auch von Gott abgewendet. Wenn sein Bodenpersonal so drauf ist, wie muss er selbst dann erst sein … wenn es ihn überhaupt gibt! Geh mir weg mit Gott, sagen leider die meisten. Ich sehe das anders.“, hält Kabarettist Hape Kerkeling (Jahrgang 1964) auf halber Wegstrecke seines Tagebuch-Romans „Ich bin dann mal weg“ fest. 2001 hat des Entertainer‘s bekannte Kunstfigur Horst Schlämmer alle Maskierung von Kopf bis Fuß abgestreift und sich in Haut und Knochen des Christen und Homosexuellen Hans-Peter Kerkeling auf dem Jakobsweg die Pilgerurkunde mit einer Muschel darauf hart erlaufen. Vom französischen Pyrenäen-Bergdorf Saint-Jean-Pied-de-Port bis in den spanischen Dom der Altstadt von Santiago de Compostela.

Kerkelings autobiografischer Schmöker über die Erfahrung von sechs Wochen Fußmarsch auf dem Camino Francés erschien 2006 im Piper Verlag. Die 2009 veröffentlichte Taschenbuchausgabe brachte es zum Kassenschlager. 350 Seiten, die sich in zigfacher Auflage verkauft haben: „Gott ist ‘das eine Individuum’, das sich unendlich öffnet um ‘alle‘ zu befreien. Und das Gegenteil der Göttlichkeit ist meiner Ansicht nach die Umkehrung dieses Satzes: ‘Alle‘, die ‘das eine Individuum‘ erdrücken und sich dabei selber zerquetschen.“

Fragiles Einvernehmen und einschneidende Störung rücken auf dem rot pikanten Bild anbei – einer Collage aus zwei handgroßen Papierschnitzeln zweier Ausgaben der Zeitschrift „Spiegel“ – eng zusammen. Florin Viorel, Lehrer am Kunstgymnasium Sibiu, hat es am 28. Februar 2020 in einem Klassenraum des Samuel-von-Brukenthal-Gymnasiums Hermannstadt auf den Tisch eines Workshops der internationalen Erasmus-Schülerbegegnung „Entrepreneurial Journey – Reanimating Craftsmanship“ gezaubert und vorgezeigt, wie das Mischen symbolischen Zündstoffs geht, der im Nu Zwiespalt religiöser Motivation entfacht. Vorsichtshalber hatte er den minderjährigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops untersagt, beim Basteln religiöse Vokabeln oder Zeichen zu verwenden. „Weil die trotz nicht böser Absicht großen Krach anrichten können“ (siehe Jugendseite der ADZ von Freitag, dem 27. März).

Abseits jugendlicher Blicke jedoch gönnte Florin Viorel sich den Plakat-Fingerzeig. Nicht etwa als Affront, um bestimmte Weltreligionen und Hauptakteure mit verunstaltender Kritik abzustrafen. Aber doch als hohe Messlatte, die ohne Umschweife anzeigen könnte, „was in fortschrittlicher Gesellschaft gesagt werden dürfen soll, ohne dass Sozietät dadurch aus ihrem Gleichgewicht stolpert.“ Es geht um die Bereitschaft zu religiöser Debatte. Und folglich auch um forschendes Fragen nach Schwächen einer Schnittmenge von Staat und Kirche. Auf seinem Selbstbild tut Rumänien sich schwer, sakrale und säkulare Farben gegeneinander auszutarieren.

Die Orthodoxe Kirche Rumäniens (BOR) fällt zunehmend in Ungnade. Überzeugte Katholiken und Protestanten, aber auch orthodoxe Staatsbürger wollen im Kanon der BOR ein Regelwerk erkannt haben, das dem 21. Jahrhundert schwere Steine in den Weg legt. Auf der Höhe der Covid-19-Krise mussten Ostern, Notstand und Ausgangssperre in Einklang gebracht werden. Dass die BOR sich hierin teils verlaufen hat, dürfte nicht verwundert haben. Dennoch muss national-orthodoxe Starrheit nicht zwangsläufig einen Wertverlust universaler Orthodoxie bedeuten. Entrücktes Auftreten der BOR in der Öffentlichkeit und Offenheit reflektierter Vertreterstimmen der nicht theologisch berufstätigen Mehrheitsgesellschaft haben wenig gemeinsam. Forscherin Anca Manolescu bricht in ihren Essays auf dem Feuilleton  „...DIN POLUL PLUS“  der intellektuellen Wochenzeitung „Dilema Veche“ regelmäßig eine Lanze für die BOR. Doch im Artikel „Biserica în vremea coronavirsului“, der Montag, am 11. Mai, auf der Homepage www.dilemaveche.ro veröffentlicht wurde, rügt auch sie dezidiert die leise Hemmung der BOR, das schrittweise Lockern der öffentlichen Sicherheitsmaßnahmen geduldig kooperierend zu unterstützen.

Nicht-orthodoxe Christen sollten versuchen, Rumäniens nationaler Konfessionsgemeinde mit Verständnis statt in Ablehnung zu begegnen. Obwohl Satiren wie beispielsweise der Chanson „Sei wachsam!“ (1996) von Liedermacher Reinhard Mey noch immer treffend schildern, wie auf hoher Ebene von Staat und Kirche zuweilen verhandelt wird („Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm:/Halt´ Du sie dumm, ich halt´ sie arm!“), steckt das wachsame Rumänien heute in einer Kursänderung hin auf säkulare Zukunft.

Innenminister Marcel Vela hatte wenige Tage vor dem orthodoxen Auferstehungs-Fest eigenmächtig eine  Sonderregelung mit dem Patriarchat der BOR vereinbart, worauf Protestant und Staatspräsident Klaus Johannis zu striktem Daheimbleiben aufrief, „da wir sonst nach den Feiertagen Beerdigungen erleben werden!“ Erzbischof Teodosie Petrescu, Metropolit des orthodoxen Bistums von Konstanza/Constanța, meldete sich in reaktionärem Vergeltungston zu Wort: „Die Ausdrucksweise von Johannis ist wie eine Art Fluch. Solche Behauptungen sollen nicht mehr geäußert werden!“ –  auch die Holding www.adevarul.ro brachte die Nachricht und förderte sage und schreibe 82 Leserkommentare zutage, die den hochrangigen Kleriker der Dobrudscha hämisch verurteilen. Kann ein Kirchenstaat weiter auf stumme Folgsamkeit einer Einzugsgesellschaft setzen, die das laute Reflektieren für sich entdeckt?

Gefängnispfarrer, Seelsorger und Romancier Eginald Schlattner gibt dem fragenden Autor Radu Carp im Interview „Dumnezeu  mă vrea aici“ (Editura Lumea Credinței, 2018) auf Rumänisch die Antwort eines außenstehenden Freundes: „Die Orthodoxe Kirche muss, und dies sage ich mit solidarischer Besorgnis, Aufmachung und Inhalt ihrer Nachricht an die Welt achtsam und feinfühlig vermitteln. Eine Generation junger Menschen, die nach Wort und Wahrheit lechzt, ist erwachsen geworden.“ (freie Übersetzung d. Red.)

Unter Papst Johannes XXIII. haben der Vatikan und die römisch-katholische Kirche den italienischen Begriff „Aggiornamento“ geprägt. Auch Amtsnachfolger Paul VI. war einverstanden, den Dialog mit der modernen Welt „auf den Tag bringen“ zu lassen, lehnte aber das Diskutieren über die Unfehlbarkeit des Papstes ab und hielt am Zölibat sowie am Verbot von Verhütungsmitteln fest. Für viele Laien hat erst Johannes Paul II. Brücken zwischen dem Stuhl Petri und der Welt von Heute gebaut. Sein Rumänien-Besuch im Mai 1999 hat schwere Türen geöffnet. 2020 wäre er hundert Jahre alt geworden. Papst Benedikt XVI. schließlich erreichte nicht jene allgemeine Beliebtheit, die Papst Franziskus seit März 2013 genießt. Opfer sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche können nicht länger zum Schweigen gezwungen werden und dürfen ihr Recht auf Entschädigung einklagen, seit der amtierende Bischof von Rom 2019 das „Päpstliche Geheimnis“ außer Kraft gesetzt hat.

Zu den Ehrengästen des Besuches von Papst Franziskus im Sommer 2019 in Rumänien zählte auch Murat Iusuf, Mufti der Mosle-mischen Union Rumäniens. Ihm haften Korruptions- und Plagiatsvorwürfe an. Christoph Strack dagegen berichtete für die Deutsche Welle von seiner Anwesenheit an der Papst-Begegnung in Blasendorf/Blaj.

Bei aller Freude über den liberalen Kurs des ersten Jesuiten auf dem Thron des Vatikan darf eines nicht vergessen werden: Franziskus bezeichnet Schwangerschaftsabbruch ohne jede Rücksicht auf Nuancen als „Auftragsmord“. Das „Aggiornamento“ mag zwar ein Laufschritttempo wie noch nie zuvor erreicht haben, stößt aber auf Gegenwehr. Es gibt keine Konfessionsgemeinschaft ohne Fanatiker. Mit ihrem Widerstand gegen das Öffnen von Diskussionsthemen wie Sexualaufklärung in Schule oder Verantwortung im Gebrauch von Kelch und Löffel steht die BOR folglich nicht alleine auf weiter Flur. Dass im orthodoxen Führungszirkel mehrheitlich Vorkämpfer gestrenger Weltfremdheit bestimmen wollen, wo Rumänien zu sein hätte, erregt im Diskurs nicht-orthodoxer Konfessionsgemeinden auch mal gerne einen Hauch Schadenfreude, der jedoch all jene orthodoxen Gläubigen beleidigt, die nicht obrigkeitshörig sind und christliche Solidarität statt Überheblichkeit der Schwesterkirchen verdienen.

In der Föderation Jüdischer Gemeinschaften in Rumänien (FCER) gärt eine Meinungsvielfalt, die ihrem Vorsitzenden Aurel Vainer Kopfzerbrechen bereiten könnte. Silviu Vexler, Abgeordneter der FCER im Parlament Rumäniens, stimmte Anfang Juli 2018 offen für eine von der Regierungskoalition von Sozialdemokratischer Partei (PSD) und Liberaldemokratischer Allianz (ALDE) geforderte Änderung des Strafgesetzbuches, die von der Parlamentsmehrheit bestätigt wurde und zur Aufweichung des Korruptionsbegriffes beitrug. Fünfzehn Mitglieder der FCER, unter ihnen auch Andrei Cornea, Kolumnen-Autor der Zeitungen „Dilema Veche“ und „Revista 22“, missbilligten hierauf in einem offenen Brief an Aurel Vainer das Wahlverhalten ihres Repräsentanten („Votul dlui. deputat Silviu Vexler nu ne reprezintă“, veröffentlicht auf der Holding www.adevarul.ro). Konsequenzen blieben aus. Silviu Vexler hat sein Abgeordneten-Amt bis auf den heutigen Tag nicht eingebüßt.

Wie steht es um die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien (EKR), die ihre Präsenz stets auf den Diskurs des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR) abstimmt und den Schalter von einer Volkskirche der Zeit vor 1989 zu einer Diaspora-Kirche des 21. Jahrhunderts nach bestem Gewissen umzulegen versucht? Klein, aber fein! Die überwältigende Mehrheit der Mitglieder von EKR und DFDR ist mit beiden Organen vollauf zufrieden. Weder Kirche noch Forum eilt der Ruf voraus, Selbstbegünstigung auf dem Altar unlauterer Nationalpolitik zu opfern. Doch hat die Covid-19-Krise gezeigt, dass einzelne evangelisch-demokratische Stimmen das Dehnen von Filterblasen der Vergangenheit nur eingeschränkt begrüßen – wer in den Wochen des Notstandes täglich auf der Homepage www.evang.ro blätterte, konnte ein nicht reibungsloses Ringen um Ausrichtung erfühlen. Hilfreich, dass sich das von Pfarrer Stefan Cosoroab˛ geleitete „Geistliche Netzwerk“ der EKR eingeschaltet hat, um Spuren interner Öffnung auf Morgen zu vertiefen.

Im christlich-bürgerlich-konservativen Rumänien würde Hape Kerkeling es nicht einfach haben: „Gott ist für mich so eine Art hervorragender Film wie ‘Ghandi‘, mehrfach preisgekrönt und großartig! Und die Amtskirche ist lediglich das Dorfkino, in dem das Meisterwerk gezeigt wird. Die Projektionsfläche für Gott (…). Leinwand und Lautsprecher geben nur das wieder, wozu sie in der Lage sind. Das ist menschlich (…). Gott ist der Film und die Kirche ist das Kino, in dem der Film läuft. Ich hoffe, wir können uns den Film irgendwann in bester 3-D- und Stereo-Qualität unverfälscht und mal in voller Länge angucken! Und vielleicht spielen wir dann ja sogar mit!“