„Die Masse braucht keinen Führer“

Betrachtungen zum Phänomen Massenpsychologie, von Elias Canettis Hauptwerk „Masse und Macht“ ausgehend

„Ich wurde zu einem Teil der Masse, ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand zu dem, was sie unternahm”, zitiert sie mit sonorer Stimme. Ausgangspunkt der Vorlesung über Massenpsychologie von Prof. Dr. Marianne Gruber ist das Hauptwerk des späteren Nobelpreisträgers für Literatur, Elias Canetti (1905-1994), „Masse und Macht“. Es war seine Obsession, an der er über zwanzig Jahre arbeitete – „ein ausuferndes Werk, angesiedelt zwischen Anthropologie, Sozialpsychiatrie, Soziologie, Ethnologie, Philosophie und Mythenüberlieferung“, liest man auf Wikipedia. „Canetti beschreibt verschiedene Massenformen sehr eindringlich“, motiviert Gruber die Wahl des Themas. „Den Hintergrund erklärt er nicht“, wie sie betont. Er wehrte sich jedoch gegen Sigmund Freud mit seiner Interpretation, das hätte etwas mit Libido zu tun. Literatur als Ausgangspunkt für psychologische Betrachtungen – warum nicht, wenn sie Zugang zu historischen Ereignissen vermittelt?

Canetti schöpft seine Erkenntnisse immerhin aus zwei selbst erlebten Massenbewegungen: einmal eine Demonstration am Justizpalast, einmal die Tumulte nach der Ermordung des deutschen Außenministers Walther Rathenau (1922). Ähnliches erlebte auch Erich Kästner, fährt die Gast-rednerin aus Wien fort, die zum Anlass der Feierlichkeiten zum 25. Jubiläum der Österreich-Bibliothek am 31. März in der Bukarester Zentralbibliothek „Carol I.“ mit diesem ungewöhnlichen Thema die Hörer augenblicklich in ihren Bann schlägt.  Kästners Beispiel illustriert, wie sich die Macht der Masse über logisch Fassbares und emotionell Nachvollziehbares einfach hinwegsetzen kann. Der „ungeliebte Deutsche“, dessen Bücher 1933 im Dritten Reich verbrannt worden waren, erlebte es am eigenen Leib: Großer Aufmarsch in Berlin. Der Führer kommt im offenen Wagen die Chaussee entlanggefahren. Kästner sieht nichts in der Menge, die Höhe des Führerwagens kann er nur anhand des näher kommenden Jubels ermessen. Auf einmal schnellen alle Hände in die Höhe. Überrascht sieht er sich von diesem Sog erfasst, der auch ihn die Hand hochreißen lässt. Nur mit größter Mühe nimmt er sie wieder runter.

„Physikalischer“ Sog

„Die Masse braucht keinen Führer“, schreibt Canetti. Sie ist ihre eigene Kraft. Das Phänomen erinnert an die Anziehung der Massen, wie wir sie im Gymnasium lernten, vergleicht Gruber. „Die Erde zieht den Apfel an – aber auch der Apfel die Erde.“ Der Einzelne ist in der Position des Apfels, wenn er in den Bereich der Anziehungskraft der Gruppe kommt. Über Slogans, Sätze und Wörter geht er in der Menge auf. Doch wenn wir uns in einiger Entfernung aufhalten, sodass die „Physik“ sich nicht durchsetzt, spinnt sie den Gedanken weiter, dann reagieren wir ganz anders auf die Masse: meistens durch Aus-dem-Weg-Gehen. Zwei Beispiele erhärten ihre These. Das eine beobachtete sie im Fernsehen: Eine Flüchtlingsgruppe, die auf den ungewissen Zeitpunkt ihres Weitertransports wartet und sich plötzlich einfach in Bewegung setzt. Die Polizei erklärte dazu: Es gab keinen Rädelsführer, es kam spontan zu der Bewegung, der sich alle automatisch anschlossen. Man hätte schießen müssen, um sie zu stoppen. Das zweite ist selbst erlebt: Mit Freunden besucht sie ein Café auf der Wiener Ringstraße. Der Kellner warnt, sie müssten leider drinnen sitzen, denn gleich käme die „Donnerstagsdemo“ vorbei – eine politisch motivierte Kundgebung, schon seit Monaten jede Woche wiederholt – da werde auf der Straße nicht serviert. Sie könnten das Spektakel jedoch gerne von draußen aus beobachten und dann zu ihrem Tisch zurückkehren. Die zunächst friedliche Demo droht plötzlich aus dem Ruder zu laufen, als ein paar Störer fünf junge Polizisten umzingeln, an die Wand drängen und lautstark als Faschisten beschimpfen. Mit dem eigentlichen Thema der Demo hat dies nichts zu tun. Trotzdem macht der gesamte Zug kehrt, bewegt sich geschlossen auf die Akteure zu. Ein erfahrener Polizeibeamter kann in letzter Minute deeskalieren: „Ja, ja, ist ja schon gut! Aber jetzt geht wieder demonstrieren, deswegen seid ihr doch hier.“ Das Beispiel zeigt: Der „physikalische“ Sog der Masse kann ganz leicht missbraucht werden.

Mimetisches Begehren

„Was hatte ich beobachtet?“ fragte sich Gruber. Was hatte das Umschlagen einer friedlich demonstrierenden Menge in eine aufgeregte Hetzmasse bewirkt? Sie kommt zu dem Schluss: Es war der Rhythmus, mit dem die Parolen skandiert wurden. Es war die ununterbrochene Wiederholung, die stimmliche Lautstärke, das unmelodiöse Stakkato im selben Takt wie Marschmusik. Doch was motiviert den Einzelnen, sich diesem Sog hinzugeben? Mimetisches Begehren nennt René Girard das Phänomen. Man stelle sich vor, zwei Kinder tun oder besitzen etwas, und ein drittes kommt hinzu:„ich auch“ ist dessen natürliche, erste Reaktion. Sie steht im Spannungsfeld zum „ich bin anders“. Es geht nicht um den Gegenstand oder die Tätigkeit selbst, sondern um die Entscheidung, zur Gruppe gehören zu wollen – oder sich davon abzugrenzen.
Mimetisches Begehren ist es auch, was der Gruppe ihre Stoßrichtung verleiht. „Das Massenerlebnis nimmt uns das Ich, es wird Bestandteil eines größeren Körpers, wie ein Schwarm kleiner Fische, der vortäuscht, ein großer zu sein“, erklärt Gruber. Vor allem bei Jugendlichen sei der Effekt häufig zu beobachten. Fünf oder sechs tun das Gleiche – und der Siebente muss eine Entscheidung treffen – ich auch? Oder bin ich anders und lehne damit diese Gruppe ab?

Eros: Begehren jenseits von Moral

Marianne Gruber beschreibt ein Erlebnis auf einer Friedensdemo. 300.000 Menschen hatten sich in der Wiener Innenstadt versammelt. „Wir sind mit den Kindern hingegangen, ich habe dort viele Bekannte wiedergetroffen, neue Telefonnummern getauscht, habe schnell Brot beim Bäcker gekauft und bin weitergegangen.“ Es herrschte kein Gedränge, es war wie ein lockerer Spaziergang, erinnert sie sich. Was vereinte, war der Gedanke zu zeigen, „dass wir Frieden wollen“. Ansonsten war es fast wie ein erotisches Erlebnis, provoziert sie – und mahnt: „Behalten Sie Eros im Kopf – der wird gleich noch eine Rolle spielen!“ Im mimetischen Begehren hat die Masse ein einziges Ziel: dass keine anderen Ziele mitvertreten werden! Alle für einen, einer für alles. Eros hingegen kann vielerlei gleichzeitig begehren: Essen und Wein, Tanz und Unterhaltung sind kein Widerspruch. Doch selbst wenn man liebt, gibt es ein Mitbegehren: Man verehrt vielleicht einen Schauspieler oder einen Fußballer, oder einen Kollegen.

Das Begehren von Eros können wir nicht verbergen: Wir können nicht wollen, dass unsere Augen glänzen oder nicht glänzen. Und wenn die Vernunft nicht einschreitet und „Abbruch!“ ruft – dann haben wir uns – schwupps - verliebt. Erlaubterweise – oder nicht. Ob das moralisch oder gar strafrechtlich relevant ist, interessiert Eros nicht. „Da muss unsere Sozialisierung eingreifen, die dann ein Signal setzt“, erklärt Marianne Gruber. Und fragt: „Aber können wir das noch, wenn wir Teil einer Masse sind?“ Canetti schreibt sinngemäß: Nichts fällt uns schwerer als die Berührung durch Unbekanntes. Es ist die Masse allein, durch die der Mensch von seiner Berührungsflucht geheilt werden kann. Geboren werden wir anders: Ein Baby braucht Berührung, die fehlende Mutter kann durch eine Fremde ersetzt werden. Historische Experimente haben gezeigt, dass ein Kind, das alles bekommt außer Berührung, nicht überlebensfähig ist.

Die Masse braucht keinen Führer – doch der Führer die Masse

Wenn Nähe durch individuelles Fremdes Angst macht – bietet Masse dann Schutz in der Anonymität? Diktatoren scheinen genau dies für Manipulation zu nutzen: Durch bestimmte (populistische) Aussprüche mobilisieren sie Massen, schützen sich dadurch selbst und geben dem einzelnen das Gefühl, der Führer schütze sie. Als Beispiel nennt Gruber den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan: Mit Schlagworten zwischen den Sätzen emotionalisiert er die ihm Zuhörenden. Das Schlagwort liefert den Fokus, ein einzelner markanter Satz prägt sich tief ein. Dies nutzen nicht nur Radikale, sondern alle Populisten, erklärt sie. „Was hat Haider so lange unwidersprochen sein lassen? Er hat ein Faktum hergenommen, das alle kannten. Dann hat er es verknüpft mit einer verqueren Idee in einem guten, schlagwortartigen Satz.“ In allen Diskussionen wird lang geredet, analysiert die Sprachwissenschaftlerin – doch kein Zuhörer behält die komplexen  Argumente. „Haider aber hat nur immer wieder einen Satz gesagt – den haben sich alle gemerkt.“  Canetti beschreibt in seinem Werk nicht nur menschliche Massen – und wurde dafür vielfach kritisiert. Doch die Aktualität des in den 60er Jahren erschienenen Buches – erste Notizen gab es bereits 1926 – ist bis heute groß, sagt Gruber. In einer Zeitung fand sie einen dazu passenden Titel: „Es gibt ihrer Millionen auf der Welt – die meisten sind tödlich: Viren“. Auch hier funktioniert die Manipulation mit der Angst. Die Abschottung einer Idee geschieht durch Bildung einer Masse, die keine anderen Meinungen zulässt.

Canettis Beschreibungen regen zum Nachdenken an, bekennt Marianne Gruber. „Man kann sich nicht vorstellen, dass er einfach nur erzählt. So beschäftigt man sich damit – auch wenn man seine Überzeugungen vielleicht nicht teilt.“ Literatur sei immer auch ein soziologischer, psychologischer Bericht, erklärt sie. Gerade das mache sie so wertvoll: „Man kann Dinge über die Sprache entlarven, ohne dass man sie als Faktum entlarven muss. Ohne dass man in irgendeine Falle hineintappen muss.“ Was lernt man aus dem Diskurs? Dass es wichtig ist, den Effekt des Massensogs und den Mechanismus von Massenmanipulation zu kennen: Gebetsmühlenhaft wiederholte Formeln, das feindselige Ausschließen von Gegenargumenten Andersdenkender, aber auch das wunderbare Solidaritätsgefühl unter Demonstrationsteilnehmern, das man sonst in unserer Gesellschaft so schmerzlich vermissen muss, sollten einen stets aufhorchen lassen. Überzeugung und Manipulation bedienen sich idealerweise beide des Vehikels der Gefühle, weil diese das Scheunentor zur Seele erst öffnen. Doch nur erstere kennt die Diskussion und hält einer logischen Prüfung der Argumente stand.