Dreizehn entscheidende Buchstaben

Gute Kommunikation ist die halbe Miete auf Rumäniens Verkehrsrouten

Studierende in Rumänien haben die Möglichkeit, kostenlos mit den Zügen der Rumänischen Eisenbahngesellschaft zu fahren. Foto: Valentin Atițoaiei

Sommerzeit ist Reisezeit. Der Bürohengst wirft Krawatte und Anzughose über Bord, entpuppt sich als Sonnenanbeter, und die Vorzimmerdame tauscht Stöckelschuhe gegen trendiges Badenixen-Outfit. So in etwa stellt man sich Urlaub wohlhabender Bürger eines Industriestaates vor. Ein pauschales Gesellschaftsbild, das in bestimmt nicht wenigen Fällen mit der Realität übereinstimmt. Mit dem Wort „Industriestaat“ verbindet man gerne materielle Sicherheit, die Sorglosigkeit des Morgen. Aber es gibt auch den Sozialstaat, der es im Guten wie im Schlechten in sich haben kann. Was für ein Staat ist Rumänien? Beides! Rückständiger Industriestaat und kranker Sozialstaat zugleich. Er blutet aus, verliert Studierende und Berufseinsteiger an das Ausland.

Die Gründe hierfür sind auch an unzureichender Verkehrsinfrastruktur festzumachen. Wo beispiels-weise in Deutschland die natürliche Belastungsgrenze der Bebauung der Umwelt mit Autobahnen und Hochgeschwindigkeitsbahnstrecken fast erreicht wurde und das Bündnis90/Die Grünen Aufwind spürt, ist Rumänien noch immer weit davon entfernt, den Bau von Schienenverkehrsnetzen und Autobahnkilometern aus ökologischer Rücksicht einschränken zu müssen.

Sicherheit geht vor Geschwindigkeit

Unter allen 28 EU-Mitgliedsstaaten ist Rumänien das Land der meisten tödlich endenden Autounfälle. Von Großwardein/ Oradea bis Konstanza/ Constanța und zwischen Temeswar/ Timișoara und Jassy/ Iași sind unzählige Autofahrer unterwegs, die als Folge ihres persönlichen Temperaments oder gar geschäftlichen Zeitdrucks einen Fahrstil an den Tag und in die Nacht legen, der Chauffeure und Passagiere mit augenblicklicher Stoßwirkung in den Leichenwagen befördern kann. Ein zweischneidiges Schwert, vor so einem Hintergrund Fahrschüler zu sein und die praktische Fahrprüfung bestehen zu wollen. Der Führerschein erlaubt das Autofahren und schützt doch nicht vor Unfällen. Manch eine Person hinter dem Steuer spielt Katz und Maus mit einer Verantwortung, der sie sich gar nicht bewusst ist. Und die Regierung des Staates Rumänien? Die weiß von ihrer Bringschuld Bescheid, tausende Autobahnkilometer finanzieren und bauen lassen zu müssen, um die Fortbewegung der Arbeitskraft und der Urlaub machenden Bevölkerung auf neue Geschwindigkeitsspuren stellen zu können, pfeift aber auf ihre Verantwortung. Ganz zu schweigen von dem Nebeneffekt, dass zusätzliche Autobahnkilometer einen Rückgang der Verkehrsunfälle brächten.
Zählt man sich selbst weder als Autofreak, noch als Mitglied der Zivilklasse von Vorzimmerdamen und Bürohengsten, winkt einem das Kursbuch der Rumänischen Eisenbahngesellschaft CFR als Option im digitalen Bücherregal. Vorausgesetzt, dass man bereitwillig eine Zutat einplant, ohne die jedes Fortkommen mit dem Feuerross erschlafft: Zeit. Sehr viel Zeit. Wer sie verweigert, ist als Nicht-Autofahrer in Rumänien hoffnungslos verloren. Dennoch ist Zeit ein nicht zu verachtendes Alltagsprodukt. Bei Unachtsamkeit geht sie einem schnell, unbemerkt und leicht durch die Lappen. Ist jedoch der Hamsterrad-Effekt als bittere Dauerstressquelle enttarnt worden, kann eine Reise mit der eigentlich maroden CFR Wunder wirken. Einsteigen, reservierten Sitzplatz ansteuern, Gepäck verstauen, niedersetzen, zum Fenster rausschauen. Und gemütlich Buch oder Zeitung aufschlagen.

Einfaches Verkehrsmittel

Leicht gesagt und doch schwierig umzusetzen. Jeder einzelne Waggon der dünn bestückten Flotte der CFR hat das Zeug zu einem Überraschungspaket, das hin und wieder gleich zu Fahrtantritt mühsam auf Herz und Nieren geprüft werden muss, ehe man sich an seinem Sitzplatz ins Reiseerlebnis einlullen kann. Funktionsunfähige Klimaanlagen lassen an heißen Sommertagen den oftmals ätzenden, aus der WC-Kabine austretenden Geruch zum Lotteriespiel in Korridoren und kleinen wie großräumigen Abteilen ausarten. Luftgebläse an Wagenabteilfenstern können aber auch mit einer Kraft hochschießen, die den Lichtvorhang tanzen macht und direkt davor sitzenden Passagieren den Schnupfen in die Nase treibt. Die CFR fährt rekordverdächtiges Untertempo, steckt im Schuldensog und steht Beweis für Inkompetenz des Sozialstaates Rumänien im Bereich Schienenverkehr.

Wie verhalten sich Fahrgäste in dieser Schieflage? Sind Rumäniens Bahnreisende als eigene Sozialkategorie zu verstehen? Klar ist: Bürohengste und Vorzimmerdamen sind hiermit nicht gemeint. Die CFR ist kein öffentliches Dienstleistungsunternehmen nach westeuropäischem Vorbild. Zwar sind Sauberkeit, modisches Geschäftsbewusstsein und dezentes Benehmen überall in Rumänien anzutreffen, sie werden aber in Zügen der CFR erstickt. Wo immer möglich, bleiben Gutverdiener Bahnhöfen ihres Heimatlandes 30 Jahre nach Sturz der Ceaușescu-Diktatur fern. Wer es noch nicht zum Gutverdiener gebracht hat und hartnäckig um dicke Hose und Sozialaufstieg kämpfen möchte, kann die Züge Rumäniens nicht als Sprungbrett gebrauchen. In dem ein oder anderen Fahrgast der CFR steckt darum auch mal eine Person, die es gerne nach oben geschafft hätte, ihr Wunschziel jedoch kläglich verfehlt hat.

Heikel, die Fahrt mit Unbekannten teilen zu müssen, die unter Umständen einen Minderwertigkeitskomplex in sich tragen und wie angeschossene Tiere auf belanglose Kleinigkeiten antworten. Harte Worte bis hin zu lautem Streit zweier Fahrgäste, deren persönliches Auftreten nicht gegensätzlicher sein könnte, gehören mit zum Spielfeld der CFR und bestätigen barsche Umgangsformen innerhalb der Bevölkerungsstrukturen abwärts der Mittelklasse. Hermannstadt/Sibiu (07.12 Uhr) ist Station auf der Strecke des internationalen Nachtzuges Nummer 473 von Budapest (19.10 Uhr) nach Bukarest (12.30 Uhr). Verspätet der Zug nicht, dauert die Fahrt nach Kronstadt zwei Stunden und 38 Minuten (Ankunft 09.50 Uhr). Je nach Reservierung im Voraus oder wenige Minuten vor Abfahrt beträgt der volle Preis einer Fahrkarte 2. Klasse 37 bis 45 Lei. Klein- oder Großraumbustickets des öffentlichen Straßenverkehrsangebots auf derselben Strecke sind um ein paar Lei günstiger. Da meine Körpergröße jedoch 190 Zentimeter überschreitet, ich es meist nicht eilig habe und unterwegs gerne auch mal ein paar Schritte gehe, anstatt mehrere Stunden lang bewegungslos im Sessel ausharren zu müssen, kaufe ich jeweils ein Bahnticket.

Spiegelbild sozialen Alltags

Als ich am 17. Juli in Hermannstadt in den Waggon 2. Klasse des Nachtzuges Nummer 473 einsteige, haben Passagiere, die offensichtlich in Ungarn oder kurz nach dem rumänischen Grenzübergang zugestiegen sind und die Nacht halb sitzend verbringen mussten oder wollten, ihr morgendliches, aus Dehnübungen und Frühstück bestehendes Ritual gerade abgeschlossen. Die Luft im Großraumabteil ist getränkt vom Atem einer Reisegesellschaft, die sich aus Personen armer bis mittelmäßiger Brieftasche summiert. Menschen eben, die sich den Flieger von Ferihegy nach Otopeni nicht leisten können. Aus mehrfacher Erfahrung kenne ich das Sozialklima dieses Nachtzuges, finde es aber nicht weiter schlimm und bin gerne Fahrgast.

Auch eine junge Dame im Studentinnen-Alter steigt zu. Sie zieht einen Reisekoffer weiß glänzender Hartschale hinter sich her, hat einen Designerrucksack geschultert und läuft in fluoreszierenden Turnschuhen und farbenfrohen Leggins durch den Waggon in der Hoffnung auf einen Sitzplatz, der Ausdünstungen mitreisender Langzeitfahrgäste nicht ausgeliefert ist. Die Chancen sind gleich null. Die junge Passagierin entscheidet sich für einen freien Platz am Ende des Großraumabteils, wo auch ich vor mich hin dösen möchte. Auf der anderen Seite des Mittelganges hockt ein hagerer Mann mit Brille, Glatze und grauem Haarkranz im Sessel. Er ist ungefähr im Rentenalter und legt zwei große, randvoll mit Gepäck gefüllte Polypropylen-Einkaufstaschen ab. Sowohl die Studentin, als auch der schrullige Mann sprechen Rumänisch. Augenblicke später zeigt sich Muttersprache als eine Gemeinsamkeit, die krassen Unterschieden nicht den Wind aus den Segeln nehmen kann.

Um frische Luft in das Großraumabteil hereinwehen zu lassen, kippt die zart besaitete Passagierin zwei kleine Fenster. Aus heiterem Himmel ertönt nach wenigen Minuten der Kriegsruf von nebenan. Das bisschen Zugluft ist dem knorrigen Fahrgast absolut zuwider. Er verschwendet keine einzige Sekunde dafür, der Mitreisenden seine Empfindlichkeit zu beschreiben und fährt sofort polternd aus der Haut. Die Urlauberin mit fest installierter Zahnspange versucht, ihrem Gegenüber freundlich zu antworten und handelt sich unfreiwillig ein raues Wortgefecht ein, an dem sich alleine der cholerische Fahrgast zu erfreuen scheint. Als der Schaffner die Fahrkarten lochen will, zieht ihn der Streitsüchtige auf seine Seite: „Geben Sie Acht, das Fräulein hier ist wohl psychisch krank!“ Aber auch am Schaffner scheitert die junge Dame mit ihrem Wunsch nach Schlichtung.

Zauberwort Kommunikation

Anders gibt sich derselbe Schaffner im Gespräch mit einer bundesdeutschen Passagierin eines anderen Waggons, die ihm auf Englisch erklärt, ein Zugbeamter habe ihre Fahrkarte in Budapest entgegengenommen und ihr versichert, sie werde das Ticket in Bukarest zurückerhalten. Unser guter Schaffner in der Uniform der CFR kann kein Wort Englisch, benötigt spontane Übersetzungsdienste einer anderen Passagierin. Ihm wird das Heimatland der Fragenden genannt, worauf er Städtenamen radebricht: Hamburg, Hannover, Kaiserslautern, Berlin. Obwohl er sich nicht aus eigenem Mund verständlich machen kann, setzt er plötzlich Freundlichkeit auf. Was hätte die junge Dame von vorhin anders anstellen müssen, um nicht Gleichgültigkeit und Schimpftiraden beider Grobiane zu ernten?

Sie hätte den stacheligen Umgangston ihrer Opponenten einkalkulieren und sich selbst  folglich geschickter erklären müssen. Sture Menschen lassen sich nicht durch harte Worte zur Räson bringen. Ihre Taktik erfordert Bekämpfung mit noblen Tricks. Sprache bedeutet Wortwahl und ist das wichtigste Werkzeug von Kommunikation. Höfliche Kritik durch zielgerichteten Einsatz neutralen Wortschatzes kann Streitsüchtige zwar nicht zu freundlicheren Personen umerziehen, aber zumindest den Fluss von Verbalattacken unterbrechen. In den Zügen der CFR werden Mauerblümchen kaputtgetreten, wenn das Düngemittel Sprachvirtuosität fehlt.

Läuft Kommunikation in Bahnhöfen und Waggons schief, pflanzt sich Spott bis an die Spitze des Verwaltungsressorts hinauf. Juli 2019 warf Petrișor Țucă, Vorsitzender der nationalen Studentenvereinigung, dem Verkehrsministerium Rumäniens zurecht vor, nur die Hälfte der verfügbaren Waggons der CFR ins Rennen zu schicken. Minister und Bürohengst Răzvan Cuc beschwerte sich hierauf in einer Pressekonferenz frech über die sommers erhöhte Anzahl der von Studenten getätigten Fahrkartenreservierungen. Mit Vorderbeinen und Hinterhufen ausschlagende Alpha-Tiere können gebändigt werden. Nicht mit Gewalt, sondern durch souveräne Kommunikation. Und die kommt nur durch Training.


Gratisfahrten mit den CFR-Zügen

Studierende, die an akkreditierten Universitäten in Rumänien immatrikuliert sind und ein Präsenzstudium betreiben, dürfen kostenlos mit den Zügen der Rumänischen Eisenbahngesellschaft (CFR) fahren. Diese Maßnahme wurde im Jahr 2017 durch eine Eilverordnung eingeführt und galt zunächst für Studierende bis 26 Jahren. Im April 2018 wurde das Alterslimit durch eine Gesetzesänderung aufgehoben.
Somit dürfen sowohl Bachelor-Studierende, als auch Masteranden und Doktoranden kostenlos mit den CFR-Zügen durch Rumänien verkehren. Um von den kostenlosen Fahrten profitieren zu können, müssen die Studierenden ihren Personalausweis und einen von der Universität ausgestellten Fahrausweis am Schalter vorzeigen. Auch Kinder im Alter von bis zu 5 Jahren fahren kostenlos. Schülerinnen und Schüler haben diesen Vorteil nicht: Sie haben den halben Preis einer Zugfahrkarte zu zahlen.
Trotz der angebotenen Gratisfahrten fahren Studierende nicht so viel Bahn. Die Statistiken der CFR zeigen, dass lediglich ein Fünftel aller Fahrgäste in Rumänien Studenten sind.