Durch die marginale Position auf eine gewisse Schieflage im Zentrum verweisen

Gespräch mit der österreichische Schriftstellerin Milena Michiko Flašar

Foto: Cristiana Scărlătescu

Vor Kurzem hielt die österreichische Schriftstellerin Milena Michiko Flašar auf Einladung des Österreichischen Kulturforums Bukarest und der Österreich-Bibliothek der Fremdsprachenfakultät an der Universität Bukarest einen Workshop zum kreativen Schreiben und eine sehr gut besuchte Lesung. Prof.  Dr. Mariana-Virginia Lăzărescu (Universität Bukarest) führte mit der Autorin ein Gespräch für die ADZ.

 

 Sie sind in St. Pölten bei Wien in Österreich geboren. Sie haben eine japanische Mutter und einen österreichischen Vater, wobei der Name Flašar böhmische Wurzeln hat. Was bedeutet das für Sie, in zwei Kulturen, der japanischen und der österreichischen, beheimatet zu sein?


Vor allem und in erster Linie eine Bereicherung. Da das Österreichische und das Japanische sehr weit auseinanderliegen (sowohl sprachlich als auch kulturell), bin ich sehr dankbar, beides in mir zu tragen, wobei es für mich auch etwas Selbstverständliches bzw. Normales ist. Beides geht in mir Hand in Hand, ist untrennbar miteinander verbunden.

Sie haben in Wien und Berlin Komparatistik, Germanistik und Romanistik studiert, leben mit ihrer Familie als Schriftstellerin in Wien, wo sie außerdem Deutsch als Fremdsprache unterrichten. Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?


Sehr früh (schon im Volksschulalter) habe ich begonnen, leidenschaftlich gerne zu lesen, und vom Lesen bin ich sehr bald zum Schreiben gekommen. Da war diese Faszination: Wie kann es gelingen, mithilfe von Sprache eine eigene kleine Welt zu erschaffen? Und wie kann es gelingen, Geschichten so zu erzählen, dass sie dem Leser/der Leserin an Hirn und Herz greifen? Von einem Text ging es zum nächsten – sowohl lesend als auch schreibend – und im Grunde habe ich – sobald ich das ABC konnte – in einem fort „durchgeschrieben“.

2008 veröffentlichten Sie im Residenz-Verlag den Roman „Ich bin“ und 2010 den Roman „Okaasan. Meine unbekannte Mutter“. Im November 2012 erhielten Sie für ihr Buch „Ich nannte ihn Krawatte“ den österreichischen Literaturpreis „Alpha“. 2018 erschien im Klaus Wagenbach Verlag der Roman „Herr Kato spielt Familie“. Außerdem haben Sie bei vielen Anthologien mitgewirkt. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Welches sind Ihre Lieblingsthemen, Ihre Vorbilder beim Schreiben?


Rückblickend sind es oft die Einsamen, die ich zu meinen Haupt- und Lieblingsfiguren gemacht habe, diejenigen, die nicht in der Mitte, sondern am Rand der Gesellschaft stehen und durch ihre marginale Position auf eine gewisse Schieflage im Zentrum verweisen. Ein literarischer Ort, der mich dabei besonders beschäftigt, ist die Familie: Ihre Mitglieder stehen zwar eng beieinander, sind aber oft genug durch tiefe Gräben voneinander getrennt. Sie sind sprachlos: Zwar reden sie miteinander, reden aber oft genug aneinander vorbei ins Leere. All das sind Themen, die mich interessieren, weil sie im Mikroskopischen das größere Ganze beleuchten.
Vorbilder per se habe ich keine, sehr wohl aber gibt es AutorInnen, deren Leben und Werk mich tief beeindruckt haben. Im deutschsprachigen Raum wären das Klaus Mann und Annemarie Schwarzenbach, im japanischen Dazai Osamu und – für mich eine Neuentdeckung – Fuminori Nakamura.

Es geht in Ihrem Buch „Herr Kato spielt Familie“ um einen Mann – seinen richtigen Namen erfährt der Lesende nicht –, der in den Ruhestand getreten ist und nicht recht weiß, wohin mit der Freiheit. Eine Krawatte braucht er nicht mehr, zu Hause steht er im Weg, die beiden Kinder sind längst ausgezogen, im Büro ruft er nicht an aus Angst, man könnte sich nicht an ihn erinnern. Für die Dinge, die er sich vorgenommen hat (Radio reparieren, Plattensammlung sortieren), fehlt ihm die Begeisterung. Und dann begegnet er auf dem Friedhof einer jungen Frau namens Mie, deren Agentur Laiendarsteller an Familien vermittelt. Er lässt sich von dieser Agentur, die den Namen „Happy Family“ trägt, mal als Opa, mal als Exmann, dann wieder als Vorgesetzter engagieren und trifft auf fremde Menschen und Schicksale. Er spielt seine Rollen gut, und seine Frau bekommt von alledem nichts mit. Auf diese Weise erfahren wir vieles über Erinnerungen und unerfüllte Träume, über Glücksmomente und Wendepunkte im Leben des Herrn Kato. Das Buch fordert zum Nachdenken auf, ob alt oder jung. Gibt es einen Unterschied im Hinblick auf die Rezeption des Werkes, was das Alter der Lesenden anbelangt?


Bei meinem vorletzten Buch „Ich nannte ihn Krawatte“ waren es vor allem die Jungen, die sich in Hiro, dem Hikikomori, wiedergefunden haben, gleichzeitig gab es seinen Counterpart, Tetsu, einen Arbeitslosen Mitte fünfzig, der wiederum die ältere Leserschaft angesprochen hat. In „Herr Kato spielt Familie“ geht es zwar um einen Rentner, ich denke aber, dass die Themen, die darin verhandelt werden, derart universeller Natur sind, dass sie letztlich jedermann betreffen. Aber so ist das ja immer in der Literatur: Sie lädt dazu ein, sich mit den Schicksalen von Menschen zu beschäftigen, die einerseits – so scheint es wenigstens – nichts mit einem selbst zu tun haben, einem andererseits aber einen Spiegel vorhalten. Für ein paar hundert Seiten läuft man in ihren Schuhen und erkennt sich im Idealfall ganz neu darin.

 In Ihrem Buch verschieben sich die Realitätsebenen immer wieder, man hat den Eindruck eines permanenten Spiels, das eine Mischung von Vorstellung und Selbsttäuschung darstellt. Der Mann lässt sich tagelang dahintreiben, während seine Frau einkauft, kocht oder in den Tanzunterricht geht. Viel zu sagen haben die beiden sich nicht. Warum? Herr Kato und seine Frau leiden unter dem Retired Husband Syndrome. Können Sie uns bitte näher erklären, was es mit diesem Syndrom für eine Bewandtnis hat?


Das Retired Husband Syndrome, kurz RHS, ist eine psychosomatische Erkrankung der (Ehe)Frau, die den jähen Ruhestand des Mannes, seine plötzliche Anwesenheit zu Hause als „Stress“ empfindet. Jahrelang war er auf der Arbeit gewesen und ihr dadurch gewissermaßen fremd geworden, nun ist er da (im Japanischen nennt man Ruheständler humorvoll „Sperrmüll“) und nimmt einen Raum ein, der zuvor frei gewesen war. Dieser „Stress“ kann sich in Hautausschlägen äußern, aber auch in depressiven Verstimmungen, er kann im schlimmsten Fall sogar zu Sprachstörungen führen. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Scheidungsrate unter den über Sechzigjährigen in Japan zuletzt rasant angestiegen ist. Eine traurige Tatsache: Man hat nebeneinander her gelebt. In dem Moment, in dem man endlich gemeinsam ein neues Kapitel aufschlagen könnte, klappt man stattdessen das Buch mit einem lauten (oder leisen) Knall zu.

 Sie haben ein besonderes Gespür für komische Einzelheiten wie beispielsweise zugenähte Hosentaschen, aber es stellt sich heraus, dass hinter der scheinbaren Harmlosigkeit des Alltags eigentlich Einsamkeit, Alterstraurigkeit, soziale Isolation stehen. Die Katos leben aneinander vorbei, bis die junge Schauspielerin auftaucht und den Ehemann für ihre Agentur rekrutiert. Ist das auch in Europa üblich oder nur in Japan, Schauspieler für privates Familienlügentheater zu buchen?


In Japan ist daraus tatsächlich eine Art „Business“ entstanden. Es gibt Agenturen, die für verschiedene Anlässe (Hochzeiten, Trauerfeiern oder aber auch alltägliche Situationen wie ein gemeinsames Abendessen) entweder Familienmitglieder oder Freundinnen und Freunde „stellen“, wobei es sich um ein Nischenbusiness handelt. Sehr empfehlenswert ist die Dokumentation „Rent a Family Inc.“, sie zeigt sehr gut, wie groß das Bedürfnis nach Austausch mitunter sein kann, auch wenn für alle Beteiligten klar ist, dass dieser Austausch kein „echter“ ist. Wir leben in einer Welt, in der das „Unechte“ aber oft „echter“ erscheint als das „Echte“. Ein gekaufter oder gemieteter Kontakt bietet einem die Gelegenheit, sich selbst – ohne die üblichen Masken und Verstellungen – frei zu bewegen. Vielleicht ist es das, wonach man sich sehnt: Nach einem Kontakt, der es einem erlaubt, man selbst zu sein.

Kann es sein, dass Ihr Roman nur scheinbar von der Altersdepression eines japanischen Rentners handelt? Wollten Sie nicht vielleicht Fragen, mit denen heute viele Menschen zu kämpfen haben, in den Vordergrund rücken, wie z.B. die Konzentration auf eigene Arbeit und Interessen, aus der sich Zeitmangel und Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen aus der nächsten Nähe ergibt?


Ja, das Thema „Alter und Ruhestand“ ist eine Folie. Worum es geht, ist das Darunterliegende: Die Fremdheit und Einsamkeit in der eigenen Familie, die Sehnsucht nach einer sinnvollen Betätigung. Das Buch soll auch die Verquickungen zeigen zwischen scheinbar „Echtem“ und scheinbar „Unechtem“: Oft handeln wir, als ob wir Schauspieler wären (wir borgen uns Phrasen und Gesten aus Hollywood-Filmen) und wir treiben das Spiel manchmal so weit, dass wir unsere echten Empfindungen gar nicht mehr wahrnehmen können. Es lohnt sich immer wieder, mal innezuhalten und sich zu fragen: Wer spricht hier gerade? Ich? Oder ein anderer, der ich vorgebe zu sein?

Ihr Protagonist erzählt nicht einfach das Geschehene, sondern als Leser und Leserin folgt man meist seinen Selbstgesprächen in Gedanken, die nicht immer chronologisch folgen. In Ihrem Buch wird mit wenigen Worten und Halbsätzen viel gesagt. Insgesamt ist es ein sehr melancholisches Werk über einen kurzen Zeitraum im Leben eines Rentners, ergänzt durch Rückblenden in Form seiner Gedankengänge. Ist es ein kritisches Gesellschaftsbild aus einer auktorialen Erzählperspektive?


Die Perspektive ist klar auf Herrn Kato gerichtet. Als Leserin oder Leser soll man ihm so nahe wie möglich kommen, auch wenn es manchmal unangenehm ist. Um ein kritisches Gesellschaftsbild handelt es sich insofern, als gerade im Privaten und Persönlichen die größeren Zusammenhänge sichtbar werden: Wie führen wir unsere Beziehungen? Diejenige zu uns selbst, die zu unseren Nächsten? Welche Lügen/Geschichten erfinden wir, um uns unsere eigene Authentizität zu bestätigen? Und welchen Mustern/Vorgaben versuchen wir dadurch zu entsprechen?

 Im Namen aller Leser und Leserinnen der ADZ danke ich Ihnen herzlich für das Gespräch.


Ich bedanke mich sehr für dieses Gespräch und vor allem für die Einladung nach Bukarest. Es war mir eine sehr große Freude, mit den Studierenden über meine Arbeit zu sprechen und ich hoffe, dass der eine oder andere dazu ermutigt wurde, Sprache als Instrument zu begreifen. In der Literatur geht es nicht zuletzt um einen sorgsamen und achtsamen Umgang mit Sprache, und auch im Alltag sollten wir Sprache immer mit Vorsicht verwenden. Wie wir etwas ausdrücken, davon hängt sehr vieles Unsagbare ab.