„Ein geborener Freund“, der Ceaușescu verspottete

Freunde erinnerten sich an den Architekten und Bühnenbildner Sergiu Singer

(V.l.n.r.) Cătălin D. Constantin, Dr. Radu Comșa und Victor Rebengiuc (4.v.l.) erinnerten sich an ihren Freund, Sergiu Singer, (Mitte) und lasen aus seinem Buch (r.) über das einstige Bukarest und seine Gesellschaft vor.

In seiner Grafik „Die Heiligen Väter“ (1963), die als Illustration für den Gedichtband des Dichters Romulus Vulpescu gedacht war, verbindet Sergiu Singer die Illustrationskunst spielerisch mit der Architektur in der Darstellung der Kopfbedekung der Kirchenoberhäupter als eigentliche Kirchen. | Foto: die Verfasserin

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Donnerstagsdiskussionen“ des Bukarester Stadtmuseums (MMB) sind der Schauspieler Victor Rebengiuc, Meister der rumänischen Bühne und des Kinos, Dr. Radu Comșa, Dozent an der Fakultät für dekorative Künste und Design der Kunstuniversität Bukarest sowie der Buchverleger und Kulturjournalist Cătălin D. Constantin, zusammengekommen, um Erinnerungen an ihren Freund, den Architekten und Bühnenbildner Sergiu Singer (1928-2018), öffentlich zu teilen. 

Sergiu Singer wurde 1928 in einer kleinbürgerlichen Familie jüdischer Herkunft in Ploiești, Kreis Prahova, geboren. Er hat das Gymnasium „Sf. Petru și Pavel“ in seiner Heimatstadt besucht und 1954 die Architekturuniversität in Bukarest beendet. Nach Universitätsabschluss arbeitete Singer eine Zeit als Assistent für renommierte Bühnenbildner wie W. Siegfried und Toni Gheorghiu und machte Plakatgestaltung für Theateraufführungen. 1956 erlangte Singer die Mitgliedschaft des Verbandes der Architekten in Rumänien (UAR). Im Folgejahr wurde er als Bühnenbildner am Staatstheater Ploiești und später am Jugendtheater in Bukarest angestellt. 1963 flüchtete Sergiu Singer aus dem kommunistischen Rumänien und siedelte in die Bundesrepublik Deutschland über, wo er seine Tätigkeit als Bühnenbildner und Architekt zuerst in Hamburg und dann in Bremen fortsetzte, wo er auch heiratete. Nach der Wende reiste er oft in die alte Heimat und veröffentlichte zwei Bücher. Sergiu Singer ist 2018 mit 90 Jahren in Bremen gestorben.

Ein Buch schlägt eine Brücke über die Zeit

Der Ausgangspunkt der Veranstaltung war die Buchspende eines Architekten an den Verband der Architekten in Rumänien. „Lavandă și usturoi sau murmurul caselor” (Lavendel und Knoblauch oder das Raunen der Häuser), geschrieben von Sergiu Singer und veröffentlicht 2002, löste die Idee einer dem Autor gewidmeten Diskussionsrunde bei seinem Freund, Cătălin D. Constantin, Buchverleger, Kulturjournalist und Gastgeber der „Donnerstagsdiskussionen” aus, die er bald darauf im Bukarester Stadtmuseum organisierte. Er erfüllte dabei eine Doppelrolle als Moderator und Diskussionsbeteiligter. 

Singer hatte er als Jugendlicher kaum ein Jahr nach dem Abschluss der Fakultät für Geisteswissenschaften kennengelernt, als er Literaturchroniken für die Zeitschrift „România Literară” schrieb, und „Lavendel und Knoblauch oder das Raunen der Häuser” für eine Rezension zufällig in seine Hände fiel. So schließt sich ein Kreis 20 Jahre später, ebenfalls durch reinen Zufall...

Der Autor entdeckte Bukarest nach der Wende 1989 wieder und schrieb 2002 das erwähnte Buch auf Rumänisch. Cătălin D. Constantin betonte, das Buch sei nur scheinbar ein Kochbuch und eigentlich eine Collage von einer besonderen Raffinesse. „Das Rezept dafür ist leicht, im eigentlichen wie im übertriebenen Sinne: Jedes Rezept steht in Beziehung mit der Geschichte eines Hauses. Unter dem Vorwand, dass er in jedem einzelnen Haus ein besonderes Gericht gegessen oder dessen Rezept erfahren hatte, stellt Sergiu Singer eigentlich die Geschichte dieser Häuser aus dem Bukarest der Zwischenkriegszeit vor, das begann, zusammen mit seiner früheren Gesellschaft, langsam verloren zu gehen.“ Weil ihm jene Rezension am meisten gefallen hatte, setzte sich der Autor in Verbindung mit dem jungen Literaturkritiker, was der Anfang einer schönen Freundschaft und vieler gemeinsam mit der Familie Singer verbrachter Sommerferien in Deutschland war.

Freundschaft über die Zeit hinaus

Der beste rumänische Freund von Sergiu Singer bleibt jedoch der Schauspieler Victor Rebengiuc, den er stets nur mit Kosenamen „Victoraș“ (Viktorchen) ansprach. Dieser eröffnete seine Rede mit der Beobachtung, dass Singer ein geselliger Typ war, der leicht Freunde gewann. „Sergiu war ein geborener Freund und ein unvergesslicher Mensch“. Der Schauspieler freundete sich mit ihm 1956 am Stadttheater in Craiova an, als Singer dort als Bühnenbildner-Assistent arbeitete, und hörte nachher jahrelang, bis zum Fall des Kommunismus, nichts mehr von ihm, da Singer geflüchtet war und die in der Heimat Verbliebenen zu deren eigener Sicherheit nicht mehr kontaktiert hatte. 

Als Singer nach der Wende wieder in die Heimat reiste, suchte er Rebengiuc sofort und nahm den Kontakt mit ihm wieder auf. Ihre Familien lernten sich gegenseitig kennen, es folgten viele Besuche und gemeinsames Ausgehen. 

Zum Vergnügen des Publikums las Victor Reben-giuc beim Donnerstagsgespräch Abschnitte aus dem Buch „Lavendel und Knoblauch…“, als Zwischenspiel  nach jedem Vortrag vor. 

„Singer – wie die Nähmaschine“

Seine Art und Weise, sich vorzustellen, war auch sonderbar und unvergesslich, erinnerte sich Dr. Radu Comșa. „Ich heiße Singer – wie die Nähmaschine“, pflegte er zu sagen. 

Dr. Comșas erster Kontakt zu Sergiu Singer erfolgte, noch ehe er ihn kennenlernte, durch ein von Singer entworfenes, unüblich „fröhliches“, übertrieben dekoratives Architekturornament und einen abnehmbaren eisernen Balkonkasten à la Harlechino, die beide am stalinistischen Gebäude des Bukarester Boulevard Iancu de Hunedoara Nr. 33 auch heute noch hervorstechen. Durch den Entwurf jener Fassade hatte Singer mit 27 Jahren die stalinistische Baupolitik überlistet. 

Aufgrund seiner Vorliebe für Ornamente wurde Singer von seinen Professoren nach Universitätsabschluss in die Richtung Theaterszenografie verwiesen. Der Vorschlag seines ehemaligen Gymnasialkollegen, niemand anderer als der rumänische Bühnen- und Filmmeister Toma Caragiu, bei dem von ihm geleiteten Staatstheater in Ploiești als Bühnenbildner zu arbeiten, zog Sergiu Singer 1957 wieder an seinen Heimort zurück. Noch im selben Jahr gewann Singer den Jugendpreis für die Szenografie der Komödie „De Pretore Vincenzo“ von Eduardo De Filippo, die großen Erfolg auch beim rumänischen Publikum erzielte.  Er arbeitete auch am Bühnendekor für Produktionen des Ungarischen Theaters in Neumarkt/Târgu Mureș und Sathmar/Satu Mare, des Staatstheaters in Bacău und Bârlad und des Bukarester Stadttheaters.

1962 war ein außergewöhnlich lukratives Jahr für Singer: Er wurde Mitglied des Verbandes der Bildenden Künstler in Rumänien (UAP), beteiligte sich mit Bühnenentwurfsskizzen für die Produktion von Shakespeares „Hamlet“ an der Szenografie-Ausstellung in Paris, die von der UNESCO organisiert wurde, und trat seine neue Stelle als Bühnenbildner und -maler am hauptstädtischen Jugendtheater an.

Ceaușescu verspottet

Singer hatte bis 1963, als er in die BRD umsiedelte, auch hierzulande eine solide Laufbahn, betonte Cătălin D. Constantin. In seinem autobiografischen Roman „Pioneze și hârtie albastră“ (Reißzwecken und blaues Papier) gesteht Singer, dass es ihm auch unter dem kommunistischen Regime zwar nicht schlecht gegangen war, aber es bestand die Gefahr, dass sich seine Situation über Nacht hätte verschlechtern können, weil er während seiner Studienjahre bei der Architekturuniversität eines Tages ein stotterndes Parteimitglied bei dessen Rede vor den Studierenden ironisiert hatte. „Was stotterst du so?! Sag schnell, was du zu sagen hast, und hau ab!“ hatte er dem Stotterer zugerufen. Dieser war der spätere Diktator Nicolae Ceaușescu. Dieser stieg schnell in der Parteihierarchie auf und noch ehe er zum Staatsoberhaupt wurde, fühlte Singer das Damoklesschwert über seinem Haupt hängen. In den 60er Jahren veranlasste ihn dieser ständige psychische Druck, nach Deutschland zu fliehen. Er schaffte es rechtzeitig, genau zwei Jahre bevor Ceaușescu an die Macht kam.

Leben in Deutschland

In Deutschland setzte Singer seine Arbeit als Bühnenbildner und Architekt fort, erzählt Dr. Comșa. Er arbeitete an der Szenografie für Theaterproduktionen des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, des Deutschen Theaters Göttingen, der Bühnen in Frankfurt am Main, Oberhausen, Köln, des Schlossparktheaters Berlin, der Landesoper Hannover, des Opernhauses Kiel usw. sowie für Fernsehsendungen und Filmproduktionen der ZDF, des Süd-West Funks Stuttgart und von Radio Bremen TV. Gleichzeitig entwarf er die Pläne oder gestaltete die Innenräume im postmoderistischen Stil für verschiedene Privatwohnungen und Villen, Diskos, Restaurants, Hotels, Betriebssitze in Bremen, einschließlich seines eigenen romantischen Restaurants „Das kleine Lokal“ und der Apotheke seiner Ehefrau Uta. 

Außerdem hat Sergiu Singer auch Illustrationen für seine beiden Bücher, für Gedichtbände des Dichters Romulus Vulpescu usw. geschaffen.  

Ein weiteres Buch, das Singer in seinen letzten Jahren in seinem charakteristischen geistreichen Stil verfasst hatte, „Baliverne și puțin ardei iute“ (Flunkereien und ein wenig scharfer Paprika) schaffte er nicht mehr zu Lebenszeiten zu veröffentlichen. Doch vielleicht bringen es seine Freunde, die das Manuskript haben, doch noch in den Buchhandel.