Ein Kapitel Ortsgeschichte als Hitparade

Theaterproduktion über das Schlagerfestival Mamaia am Stadttheater Konstanza

„10 Dinge, die ich beim Mamaia-Festival verloren habe” von Gabriel Sandu. Regie: Elena Morar und Gabriel Sandu. Bühne, Video, Lighting design: Miruna Croitoru. Sound design: Alexandru Neș. Choreographie: Stela Cocârlea. Muskalische Vorbereitung: Inga Postolache. Bühnenbild-Assistenz: Nicoleta Ivan. Mit: Florin Aioane, Liliana Cazan, Dana Dumitrescu, Laura Iordan, Lucian Iftimie, Cristiana Luca, Ecaterina Lupu, Luiza Martinescu, Ștefan Mihai, Ramona Niculae, Mirela Pană, Theodor Șoptelea. | Fotos: Marian Adochiței

Es sind die weißen Treppen im  Bühnenbild von Miruna Croitoru, die plötzlich Erinnerungen aufleben lassen. Die Vorstellung im Staatstheater Konstanza hat noch nicht begonnen, und schon entsteht vor meinen Augen ein Bild: ein Schwarzweiß-Fernseher auf dem Wohnzimmerschrank, auf dem Bildschirm erscheint eine weiße Treppe, die eine zierliche Frau im Abendkleid hinunterschreitet. Dann nimmt sie das Mikrofon und fängt an, zu singen. Vielleicht ist es Mădălina Manole, vielleicht Angela Similea oder Mirabela Dauer, oder vielleicht ist es keine von ihnen, sondern eine Sängerin, die man inzwischen vergessen hat. Ich weiß es nicht mehr genau. Später werde ich mit einer Spraydose als Mikrophon vor dem Spiegel stehen und das Lied üben. Mit den Kindern aus dem Wohnblock spielen wir den ganzen Sommer über „Mamaia-Festival“. Ein weißes Leintuch wird über die Treppen gelegt, die zum Keller führen. Andere Kinder sitzen im Publikum und applaudieren. 

Da es im Fernseher nur wenig Zeichentrickfilme gab, da man bei einer Serie eine Woche lang auf die nächste Folge warten musste, war das Mamaia-Festival in seinen Glanzjahren Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre ein absolutes Erlebnis für Groß und Klein. Die meisten Rumänen verfolgten den Schlagerwettbewerb aus ihren Sesseln im Wohnzimmer. Für viele war es ein Anlass zum Träumen, in eine ferne Welt voller Glamour einzutauchen. Als Generator eines nationalen Kulturphänomens hat das Festival nicht nur die Stadt Konstanza an der Schwarzmeerküste dynamischer gemacht, sondern auch Jahr für Jahr wichtige Namen der lokalen Musikszene zusammengebracht. Viele Musiker wurden dank des Festivals bekannt. 

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit 

Heute lässt man diese Musik entweder bei Retro-Partys aufleben (wie etwa bei der Partyreihe „Discoteca“, wo Sängerinnen wie Stela Enache oder Silvia Dumitrescu auftreten) oder man mixt sie mit Elektromusik. Schlagerfestivals gehören der Vergangenheit an. Wie gestickte Tischdecken, Porzellanballerinas oder Audiokasetten, die man auf Flohmärkten findet. 

Für die meisten Zuschauer, die Anfang November bei der Premiere der Aufführung „10 lucruri pe care le-am pierdut la Festivalul Mamaia“ (10 Dinge, die ich auf dem Mamaia-Festival verloren habe) von Gabriel Sandu, in der Regie von Gabriel Sandu und Elena Morar anwesend waren, löste wenigstens ein Moment der Aufführung Erinnerungen aus. 

Eine wichtige Aufgabe des Theaters ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Im Falle eines Stadttheaters sollte es verpflichtend sein, wenigstens eine Produktion auf dem Spielplan zu haben, die sich mit der Vergangenheit der Stadt befasst. In Konstanza hat man diese Aufgabe auch wahrgenommen. In „Seaside Stories“, die letzes Jahr den UNITER-Preis für die beste Theaterprodukion gewann, hat der Regisseur Radu Afrim acht Kurzgeschichten zeitgenössischer rumänischer Autoren und ein Gedicht von Nina Cassian, die alle an der Schwarzmeerküste spielen, zusammengetragen. Nun folgt mit „10 Dinge, die ich beim Mamaia-Festival verloren habe” eine andere Geschichte, die sich am Schwarzen Meer abspielt: die des im Jahr 1963 gegründeten Schlagermusik-Festivals in Mamaia. Die Aufführung, in der Fiktion und Wirklichkeit wie mit einem Zauberpulver zusammengemischt werden, ist nicht nur mehrschichtig und tiefgründig, sondern auch eine Show im wahrsten Sinne des Wortes. Mit Glamour, mit ein wenig Kitsch, mit tollen musikalischen Darbietungen, mit Glitzer, mit Tränen, und vor allem mit viel Humor – am Ende des dreistündigen Theaterabends fühlt man sich als Zuschauer so, als ob man aus einer Achterbahn aussteigt und wieder von vorne anfangen möchte. 

Elf einsame Menschen 

Durch elf Monologe erfahren wir die Geschichten von elf fiktiven  Figuren, in deren Leben das berühmte Leichtmusikfestival eine wichtige Rolle gespielt hat. Das sind aber, mit einer Ausnahme, keine großen Musikstars. Sondern es sind diejenigen, die nie auf dem Podium standen. Die man vergessen hat. Die trotz guter Stimme und Talent kein Glück hatten. Denn „10 Dinge, die ich beim Mamaia-Festival verloren habe“ handelt vom Scheitern. 

Jedem Monolog folgt ein Schlager, so dass sich die Aufführung wie eine Hitparade anfühlt. Zwischen den Szenen kann man auf Bildschirmen ein paar Momente des Festivals aus dem Fernseharchiv verfolgen. In ihrer Dokumentationsarbeit wurden die Künstler vom Experten Mircea Nicolau begleitet, der die Geschichte des Festivals gut kennt. 

Der Rahmen für die elf Geschichten ist auch originell: Mireille Plume, ehemalige Sängerin und Kuratorin für zeitgenössische Kunst, wurde ausgewählt, Rumänien auf der Biennale von Venedig mit ihrer performativen Installation „10 Dinge, die ich beim Mamaia-Festival veloren habe“ zu vertreten. Während der sechs Monate, die sie in der italienischen Stadt verbringen, lassen zehn Performer reale oder fiktive Erinnerungen aus der Geschichte des Festivals aufleben. Sie handeln von großen Stars, kleinen Sternchen und Kometen am Schlagerhimmel, aber vor allem von unerfüllten künstlerischen Schicksalen, die nicht im Fernseher und auch nicht aus dem Zuschauerraum zu sehen sind.

Eine musikalische Zeitreise

Für einen Teil des Publikums ist es eine musikalische Reise in die Vergangenheit – die einstigen Hits von Mihaela Mihai, Angela Similea, Adrian Daminescu oder Mihaela Runceanu, exzellent interpretiert von den Schauspielern in Konstanza, wirken wie eine Zeitmaschine, die sie in ihre Jugend in den 70ern oder 80ern Jahren transportiert. 

Für andere Leute aus dem Publikum stellen die elf Monologe das Highlight der Aufführung dar. Geschichten wie die des Mädchens mit neureichen Eltern Anfang der 90er Jahre, dessen Gangster-Vater genug Schmiergeld zahlt, damit sie in die Festival-Auswahl kommt, und die nur dann gut singt, wenn sie Marina Voica imitiert, oder die der Geliebten eines Sponsors des Festivals, die auf Hochzeiten singt und im Racheakt ein Auto anzündet, oder die des jungen Mannes, der schon als Jugendlicher in einen Kinderstar verliebt war, vergisst man lange nach Vorstellungsende nicht. Alle Figuren sind einsame Menschen, deren Schicksal auf die eine oder andere Weise mit dem Festival an der Schwarzmeerküste verbunden ist. 

Für andere Zuschauer wirft die Aufführung Fragen auf über die Rolle der Kunst und des Künstlers in diesen Tagen und auch über die Relevanz rumänischer Kunst im Ausland. Die Angst, in Vergessenheit zu geraten, der brennende Wunsch, auf einer Bühne zu stehen, die Erfahrung, dass eine gute Stimme allein nicht genug ist, sondern dass man auch Glück braucht, um Karriere zu machen – das alles spürt man, während man gebannt den elf Geschichten folgt, die zum Nachdenken anregen.

Die Zeitreise endet Anfang der 2000er Jahre. Jetzt haben selbstbewusste Teenager den Platz der scheuen jungen Frauen im Abendkleid eingenommen, die über Liebe und Gefühle sangen. Schlager sind out, Popmusik ertönt jetzt aus allen Lautsprechern. Es ist auch nicht mehr wichtig, eine gute Stimme zu haben. Viel mehr zählt der originelle Look und das gewisse Etwas. Die Gewinner der Mamaia-Trophäe im Jahr 2002 sind eine kleine Meerjungfrau, die ihre Stimme verloren hat und aus dem Publikum mit Plastikflaschen attackiert wird und ein Mitglied einer Boyband, das mit seinem Erfolg nicht klarkommen kann. Die Welt hat sich geändert und nichts wird so sein wie früher. Die Sterne am Schlagerhimmel sind erloschen, nur manchmal leuchten sie für kurze Zeit auf, wenn jemand einen Kommentar auf Youtube schreibt: „Wie schade, dass es solche Musik nicht mehr gibt“. Mamaia, die einstige Perle an der Schwarzmeerküste, hat ihren Glanz verloren. Auch das Festival, das in diesem Sommer wieder aufgenommen wurde, ist beim Publikum nicht mehr beliebt. Leichtmusik wird als altmodisch angesehen. Stattdessen gibt es das Neversea-Festival mit Elektro-Musik und Tanzen bis zum Morgengrauen. 

Kulturtourismus in der Nebensaison 

Andere werden es mögen, dass sie die Vorstellung mit einem Wochenend-Trip ans Meer verbinden können. Auch in der Nebensaison. Im Staatstheater von Konstanza, wo übrigens auch viele andere gute Aufführungen zu sehen sind, scheint man zu verstehen, was Kultur-Tourismus bedeutet. Das Theater organisiert oft Tagesausflüge aus Bukarest, „Autostrada spre mare” genannt. 

Die Zuschauer machen eine Stadtführung mit, essen frischen Fisch, gehen am Strand spazieren, besuchen das Kunstmuseum, wo immer interessante Ausstellungen zu sehen sind, und gehen am Abend ins Theater. Danach bringt sie der Bus wieder in die Hauptstadt. Die Kosten für den kulturellen Ausflug betragen 150 Lei und können auf mystage.ro erworben werden. Das Angebot lohnt sich auf jeden Fall, da ein Zugticket der 2. Klasse für Hin- und Rückreise schon diesen Preis überschreitet. Und wenn man schon da ist, um gutes Theater zu sehen, sollte man sich die Stadt an der Schwarzmerküste nicht entgehen lassen. Besonders in der Nebensaison. Die nächste Vorstellung folgt am Samstag, dem 13. Januar und es gibt noch einige Plätze.