Ein Mikrokosmos in den Alpen

Rätoromanen in der Schweiz kämpfen um den Erhalt ihrer Sprache

Die malerische Ortschaft Scuol am Fuße der Alpen
Foto: Szeghalmi Örs

Ein kalter Abend Ende Oktober. Die roten Waggons der Rhätischen Bahn fahren durch den Vereinatunnel in der östlichen Schweiz. Mit seinen 22,54 Kilometern ist er der weltweit längste Meterspur-Eisenbahntunnel. Dreimal umsteigen muss man vom Flughafen Zürich (am Hauptbahnhof, in Landquart und in Klosters Platz) bis man nach drei Stunden die Endstation der Rhätischen Bahn und den östlichsten Bahnhof der Schweiz erreicht: Scuol Tarasp.
In der Dunkelheit kann man die schneebedeckten Berge, die die Ortschaft umringen, nicht sehen. Nach 21 Uhr funktioniert der Busbetrieb der Schweizerischen Post nicht mehr, aber es gibt Kleinbusse, die die vier Kilometer bis ins Zentrum der Ortschaft fahren. Pünktlich um 21.35 Uhr geht es los. Der Fahrer unterhält sich mit einem Fahrgast in einer Sprache, die wie eine Mischung  aus Latein, Portugiesisch und Italienisch klingt. Die Sprache ist Rätoromanisch (Rumantsch) und ist die Muttersprache von vielen Bewohnern dieser Gegend. 

Am frühen Morgen erwacht man in einer Bilderbuchortschaft mit frischer Luft. Man kann sich an der Landschaft nicht satt sehen. Scuol ist ein Bergressort mit Gondeln, die zu Skipisten hoch in die Berge führen. Der Hausberg, der sich stolz über die Ortschaft erhebt, heißt Motta Naluns und ist Ausgangspunkt für Wanderer, Radfahrer und Gleitschirmflieger. Über 25 Mineralquellen gibt es in diesem Gebiet, die als Heilquellen benutzt werden. Aus vielen Brunnen in der Ortschaft sprudelt Mineralwasser. Auch das berühmte Wellness-Bad Bogn Engiadina wird von vier der Heilquellen gespeist. Zwischen dem 23. und dem 25. Oktober war die kleine Ortschaft in den Alpen Gastgeber der Konferenz „Kleine Völker Europas ohne eigenen Staat“, die vom Internationalen Zentrum für Minderheiten „Convivenza“ in Zusammenarbeit mit der Europäischen Akademie Bozen (EURAC) organisiert wurde. Vertreter mehrerer Minderheiten aus Europa trafen sich für drei Tage zum Austausch. Mit welchen Problemen konfrontieren sich die Minderheiten in Europa? Wie kann man Sprache, Kultur und Identität erhalten? Um diese Fragen drehten sich die meisten Diskussionen.

Das multikulturelle  Graubünden

Dass man ausgerechnet Scuol für die Tagung ausgewählt hat, ist kein Zufall. Es ist ein multikultureller Ort, in dem Deutsche, Italiener, Franzosen, Rätoromanen und neuerdings auch viele Portugiesen zusammenleben. Scuol liegt im Kanton Graubünden, der flächenmäßig der größte und gleichzeitig der einzige dreisprachige Kanton der Schweiz ist. Minderheiten sind hier ein wichtiges Thema vieler Veranstaltungen. Zum Beispiel fand hier im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft 2008 „Europeada“ statt, die erste Fußball-Europameisterschaft der sprachlichen Minderheiten, die von der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen organisiert wird. In Graubünden leben laut Angaben von Wikipedia 196.000 Einwohner, davon 64 Prozent Deutsche, 13 Prozent Rätoromanen und 11 Prozent Italiener. Obwohl es der größte Kanton der Schweiz ist, hat er die niedrigste Einwohnerdichte im Land: nur 21 Personen pro Quadratkilometer. „Die Gegend konfrontiert sich zurzeit mit einer großen Depopulation“, weiß Jon Domenic Parolini, Regierungsrat des Kantons Graubünden.

Hauptsächlich betreibt man in dieser wunderschönen Gegend Tourismus, es ist laut seiner offiziellen Webseite (graubuenden.ch) „Das Ferienziel Nr.1 der Schweiz“. In anderen Bereichen gibt es aber kaum Arbeitsplätze. Das ist auch der Grund, weshalb viele junge Laute in die Großstädte, nach Zürich oder Basel, ziehen. Hier sprechen sie hauptsächlich Deutsch und verwenden ihre Muttersprache kaum. „Wir müssen diese Sprache verwenden. Anderenfalls wird es schwer sein, sie an andere Generationen weiterzugeben. Das müssen wir nicht nur in der traditionellen Region tun, sondern auch in den Großstädten. Viele junge Leute ziehen weg aus ihren Heimatortschaften. Die Kinder müssen die Sprache hören. Radio, TV und Internet – überhaupt alle Medien spielen dabei eine bedeutende Rolle. Es ist wichtig, Medien in dieser Sprache zu haben. Wir mussten in der Vergangenheit kämpfen, wir werden in Zukunft kämpfen müssen, das ist Teil unseres Lebens“, meint Parolini.

„Unsere Stärke ist die Zweisprachigkeit“

Wie wichtig es ist, Medien in der Sprache der Minderheiten zu haben, betonen auch die Redakteure der zweisprachigen Tageszeitung „Engadiner Post“. Der Hauptsitz der Zeitung befindet sich im 60 Kilometer entfernten St. Moritz, ein zweites Büro liegt in Scuol, unweit vom Wellness-Bad Bogn Engadina. Es gibt zwar rätoromanische Zeitungen, wie „La Quotidiana“ mit dem Sitz in Chur, jedoch gibt es in der „Engadiner Post“ Artikel sowohl auf Deutsch als auch auf Rätoromanisch. „In der Schweiz gibt es nur zwei zweisprachige Zeitungen. Die deutsch-französiche „Biel-Bienne“ und uns. Unsere Stärke ist die Zweisprachigkeit. Wir sind in jedem zweiten Haushalt aus Ober- und Unterengadin präsent“, erklärt Redakteur Nicolo Bass. Die „Engadinder Post/Posta Ladina“ erscheint dienstags, donnerstags und samstags, jeden zweiten Donnerstag in Großauflage.

Die sieben Redakteure in Scuol und St. Moritz machen alles: Sie schreiben für alle Ressorts, pflegen die Twitter-, Facebook- und Webseite der Zeitung. Zwar ist es sehr wichtig, dass Artikel auf Rätoromanisch erscheinen. Aber nicht am wichtigsten. „Unser Ziel ist es, die professionelle Arbeit in der Sprache unser Zielgruppe zu machen, und nicht die Erhaltung der Sprache“, meint Bass, der für den rätoromanischen Teil der Zeitschrift verantwortlich ist. Vor Kurzem wurde eine neue Stelle in der Redaktion ausgeschrieben, es meldeten sich nur zwei Bewerber. Keiner von ihnen ist als Journalist ausgebildet. Man wird denjenigen auswählen, der „das gewisse Etwas“ hat. Schreiben kann man mit der Zeit lernen, meinen die Redakteure. Viele Nachrichten nimmt die „Engadiner Post“ von der rätoromanischen Nachrichtenagentur Agentura da noviteds rumauntscha. „Regionalität ist Stärke. Es gibt keinen einzigen Artikel in unserer Zeitung, der keinen Bezug zu dem Engadin hat“, meint der Nicolo Bass.

Die kulturelle Identität bewahren

Dafür, dass Rumantsch als Sprache nicht ausstirbt, kümmert sich die Lia Rumantscha (Die Rätoromanische Liga). Die Dachorganisation aller rätoromanischen Sprach- und Kulturvereine  wurde 1919 gegründet. 1938 erkannte die Schweiz Rätoromanisch als Landessprache, die dem Deutschen, Französischen und Italienischen gleichgestellt ist, an. Diese nationale Anerkennung hilft den Rätoromanen, sich selber ihrer Identität bewusst zu werden. Im Rahmen des Projekts „Cafe Rumantsch“ treffen sich Einheimische und Gäste, um rumantsch zu reden, sich zu verbessern oder zuzuhören. Auch Rumantsch-Kurse werden organisiert. Es gibt eine Tendenz, der Tradition zu folgen. Dabei spielt Sprache eine wichtige Rolle. „Es existierte die Tendenz, mit den Kindern deutsch zu sprechen. Jetzt gibt es eine umgekehrte Tendenz. Man spricht zu Hause rumantsch“, meint Anna Alice Dazzi-Gross, Mitarbeiterin der Lia Rumantscha. Es wird permanent versucht, dem starken Rückgang des Rätoromanischen entgegenzuwirken und die kulturelle Identität der Minderheit zu bewahren. Heute verwenden laut Lia Rumantscha etwa 35.000 Personen das Rätoromanische als Erstsprache, dazu kommen etwa 25.000 Personen, die Rätoromanisch als Zweitsprache verwenden und weitere 40.000 Personen, die Rätoromanisch verstehen. Es gibt heute 30-40.000 Leute, die Rumantsch sprechen. Dass die jüngere Generation daran interessiert ist, die Sprache zu behalten, konnten auch die Teilnehmer der Diskussionen bestätigen.

Während der Vorstellung von Lia Rumantscha erzählt einer der Teilnehmer über einen Vorfall in einem Zug: „Es war eine größere Gruppe von Schülern, die Rumantsch sprachen. Sie spielten ein Spiel. Jedes Mal, wenn einer von ihnen aus Versehen ein Wort auf Deutsch sagt, muss er eine Geldmünze in einen Blechkasten werfen“. Ein anderer meint: „Man sagt, Rumantsch sei eine ausgestorbene Sprache. Trotzdem konnte ich es in den USA auf der Straße hören. Es ist mir auch im Flugzeug passiert. Man öffnet ein Buch auf Rätoromanisch, in der Hoffnung, von niemandem angesprochen zu werden, und dann sagt der Sitznachbar plötzlich auf Rumantsch, dass er das Buch kennt“. In Scoul geht die Sommersaison zu Ende. Die Hotels und Gaststätten bereiten sich auf  eine längere Pause vor. Erst nach Weihnachten, wenn die Touristen zum Skifahren kommen, werden sie wieder öffnen. Die Straßen von Scuol sind am Samstagnachmittag fast leer. „Allegra!“, grüßt eine Frau auf Rätoromanisch. Auf dem Haus, in das sie hineingeht, steht eine Beschriftung: „Cuitscha que tü voust a mai, il dubel detta dieu a tai“. (Auf Deutsch: Gönne mir was du willst, Gott möge dir das Doppelte geben). Sie wird alle überleben.