Eine neue verlorene Generation

Die rumänische Gesellschaft und ihre verlorene Jugend Anno 2011

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Der Begriff „verlorene Generation“(lost generation) stammt bekanntlich von der Amerikanerin Gertrude Stein. Sie wandte diese Etikette auf ihre Landsleute, die etwa 30.000 ziellosen aber nicht unbemittelten Auslandsamerikaner, darunter auch Ernest Hemingway, an, die sich Mitte der 20er Jahre im selbstgewählten Pariser Exil tummelten. Diese Amis wären alle respektlos und tränken zu viel, behauptete Frau Stein, wahrscheinlich mit Recht.

Es ist klar, dass Mrs. Stein nicht mit den Verhältnissen aus Osteuropa von gestern und schon gar nicht mit den rumänischen Verhältnissen von heute vertraut sein konnte. Der Gedanke an eine verlorene Generation zwingt sich einem unwillkürlich nach dem Fiasko auf Landesebene beim letzten Abitur auf: Nach zwölf Jahren Schulbesuch fielen 100.000 Jugendliche bei der ersten ernsthaften Prüfung ihres Lebens kläglich durch.

Es sind 100.000 gesunde, arbeitsfähige Bürger, die den studentischen Nachwuchs für unsere Hochschule stellen, oder frische Kräfte, die ältere, abgenutzte Generationen auf dem rumänischen Arbeitsmarkt ersetzen sollten.

Insgesamt stellten sich heuer 212.763 Abgangsschüler, 55,53 Prozent bzw. 118.147 Kandidaten schafften es nicht. Erstmals nach der Wende hatte man auf Anordnung des Bildungsministeriums in allen Prüfungssälen die Überwachung durch die Lehrer mit elektronischen Überwachungskameras ersetzt und es dadurch unmöglich gemacht, das Abitur durch Betrug zu schaffen.

An die Ergebnisse der vorangegangenen 20 Prüfungen seit 1990 möchte niemand, weder Schulämter und Bildungsministerium, noch Lehrer oder ehemalige Schüler, gern erinnert werden. Deren Korrektheit und Rechtlichkeit erscheint nach dem Jahr 2011 mehr als fraglich. Die ehemaligen Abiturienten haben nun einen Hochschulabschluss, vielleicht gar mit Doktortitel dazu, alle ihre Diplome sind anerkannt, sie sind schon angesehene Junglehrer, -ärzte, -ingenieure usw.

Keine Lösung für den Nachwuchs 2011

Was geschieht nun mit dem Nachwuchs von 2011, der dieses hierzulande ungewöhnliche Pech, diese Unglückssträhne erwischt hat? Praktisch werden diese Jugendlichen in den Statistiken als eingetragene oder nicht eingetragene Arbeitslose geführt: Alle hätten laut Gesetz das Recht auf eine staatliche Arbeitslosenhilfe von monatlich je 250 Lei für eine Zeitspanne von sechs Monaten, also insgesamt 1500 Lei.

Wie viele dieser Jugendlichen haben es jedoch geschafft, nach diesem Schock rechtzeitig, in der gesetzlichen Frist von 60 Tagen, beim zuständigen Arbeitsamt all die erforderlichen Unterlagen einzureichen? Die wenigsten.

Und die zweite Prüfungssession im September brachte wie die sommerliche ähnlich katastrophale Ergebnisse. Bei der gegenwärtigen Situation des Staatshaushalts, der anhaltenden Flaute auf dem Arbeitsmarkt, wäre es für den rumänischen Staat auch eine Sache der Unmöglichkeit, nahezu 42 Millionen Euro, über 177 Millionen Lei, für die Begleichung von Arbeitslosenhilfe für 100.000 neue Arbeitslose auszugeben.

Gibt es wohl andere Lösungen für diese Jugendlichen? Die wenigsten werden im derzeitigen Angebot von freien Arbeitsstellen etwas Passendes finden: So zum Beispiel bietet das Temescher Arbeitsamt für die Zeitspanne zurzeit wohl über 400 freie Arbeitsstellen an, es sind jedoch 120 Plätze für Hilfsarbeiter (schwere körperliche Arbeit in der Baubranche oder im Transport), 110 Stellen als Näherinnen, je sechs in der Metallindustrie und in der Kautschukverarbeitung.

Man fragt sich aber auch, ob Arbeitgeber eigentlich lern- und arbeitsscheue Jugendliche, ohne Fachausbildung oder Erfahrung einstellen möchten? Wer möchte schon einen neuen Mitarbeiter haben, der nicht einmal den Ehrgeiz entwickelt hat, sein Abitur zu schaffen?

Für Lyzeumsabsolventen ohne Abitur gibt es zudem die Möglichkeit, in postlyzealen Schulen weiter zu lernen.

Eine Alternative, die eigentlich vielen Jugendlichen eher zusagen würde, wäre die Auswanderung, irgendein weit besser als im Inland bezahlter Job. Leider quälen sich alle Länder der EU mit den gleichen Problemen herum: schwindende Arbeitsplätze, immer größere Zahlen von jugendlichen Arbeitslosen.

Wenn man die europäischen Statistiken betrachtet, kann man entdecken, dass das Fiasko der rumänischen Jugend keine Ausnahme darstellt: In 19 von 27 EU-Staaten beträgt die offizielle Jugendarbeitslosigkeit (junge Erwachsene zwischen 15 und 24 Jahren) über 20 Prozent.

Vor dem Zusammenbruch der US-Bank Lehmann Brothers und der folgenden Finanzkrise, im Frühjahr 2008, lag die Jugendarbeitslosigkeit bei durchschnittlich 15 Prozent. In Spanien (ein unrühmlicher erster Platz) hat sie sich gar auf 46 Prozent verdoppelt. Sehr hoch ist sie auch in der Slowakei (37),in Litauen (34),Griechenland und Lettland (33) . Nicht ganz so weit davon liegen die Zahlen aus Bulgarien (23), Rumänien und Portugal (22). Eine Ausnahme macht Deutschland, die EU-Wirtschaftsmacht, mit nur 9,1 Prozent Jugendarbeitslosigkeit.

Wie wird also der weitere Weg dieser neuen verlorenen Generation Rumäniens aussehen? Dieses große Zukunftspotenzial kann man doch nicht einfach nach zwölf Jahren unter den Tisch fallen lassen. Wie die Lage steht, ist aber zu befürchten, dass sich Staat und Regierung nicht durchringen können, diesen 100.000 Jugendlichen effektiv mit großzügigen Maßnahmen beizustehen.

Die ganze Last wird wie stets den Angehörigen, den Familien dieser erst gestern großjährig Gewordenen überlassen werden. Auf dem Lande werden diese Jugendlichen wahrscheinlich zu den vielen anstehenden Arbeiten in Hof, Garten und auf dem Feld angehalten werden. In der Stadt wird ein Großteil, mit dem Ziel, es im nächsten Jahr nochmals zu probieren, ihren von allerhand Schwierigkeiten geplagten Familien schwer auf der Tasche liegen bleiben. Keine Sorge also. Die rumänische Bevölkerung hat seit vielen Jahrzehnten Erfahrung im Meistern von Altlasten und im Umgang mit verlorenen Generationen.

Noch etwas: Damit es beim Abitur 2012 nicht zu der gleichen Katastrophe kommt, müsste das Bildungsministerium schleu-nigst in allen Schulen ein neues Lehrfach mit gründlicher Information über Betrug in der Schule und Betrug im Leben einführen. Was ist Mogeln, was ist Abschreiben, was ist Plagiat, was Betrug? Wie wird man straffällig? Um sicher zu gehen, könnte man auch ein paar Stunden für die Lehrer einführen.