„Einem Bauern passiert wahrscheinlich ein Lotto-Sechser eher, als dass er kontrolliert wird…“

ADZ-Gespräch zur Situation der Erntehelfer in Österreich – mit Aktivistin Elisa Kahlhammer und Gewerkschafter Karl Orthaber

Ein Standbild aus dem Video, in dem das Wichtigste zum österreichischen Arbeitsrecht erklärt wird – und an wen man sich wenden kann, wenn dieses nicht eingehalten wird. Die deutsche Version findet sich auf sezonieri.ro, die rumänischsprachige auf sezonieri.at/ro.

Sorge breitete sich diesen Frühling in Österreich aus: Keine Spargelcremesuppe, keine Erdbeertörtchen – weil niemand kommt, um Spargel zu stechen und Erdbeeren zu ernten? Diese Katastrophe trat nicht ein – aber es trat zutage, welch bedeutende Rolle osteuropäische Arbeitskräfte in der westeuropäischen (Land-)Wirtschaft spielen. Aber wie bei den meisten Berufsgruppen, deren Tätigkeit seit Ausbruch der Corona-Pandemie als „systemrelevant“ bezeichnet wird, spiegelt sich die Relevanz der geleisteten Arbeit nicht in deren Entlohnung wieder – vielmehr wird häufig von Missständen wie Lohnbetrug oder gesetzeswidrigen Arbeitsbedingungen berichtet. Um dies zu ändern, wurde 2014 die Sezonieri-Kampagne gegründet – eine Kooperation ehrenamtlicher Aktivistinnen  und Aktivisten und Österreichs größter Arbeitergewerkschaft PRO-GE sowie verschiedener NGOs, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Erntehelferinnen und Erntehelfel über ihre Rechte aufzuklären und sie bei der Durchsetzung derselben zu unterstützen. Dafür wurden etwa Videos und Folder erstellt, in denen in den acht Sprachen der häufigsten Herkunftsländer Grundlegendes zum österreichischen Arbeitsrecht erklärt wird.  Elisa Kahlhammer ist eine der Aktivistinnen, die sich für die Kampagne engagieren; Karl Orthaber ist Branchensekretär, unter anderem für das Landarbeitsgesetz, bei der PRO-GE.
 

In Österreich beträgt der Mindestlohn in der Landwirtschaft je nach Bundesland sechs, sieben Euro, in Deutschland dagegen 9,35 Euro – wieso gehen Erntehelferinnen und Erntehelfer nach Österreich?

K. O.: Wenn ich das richtigstellen darf – die 9,35 Euro sind der Bruttolohn, in Österreich ist der Nettolohn angegeben. Und dazu kommt, dass es in Österreich das Urlaubs- und Weihnachtsgeld gibt, und das Kindergeld – der effektive Nettolohn ist zum Schluss ähnlich oder höher als in Deutschland.

E. K.: Überhaupt sind die Unterschiede, was die Organisation von Arbeitsbeziehungen angeht, relativ groß zwischen den zwei Ländern. In Österreich gibt es zum Beispiel die Pflichtmitgliedschaft zu den vom Staat eingesetzten Interessensvertretungen – im Fall der Beschäftigten in der Landwirtschaft ist das die Landarbeitskammer, für alle anderen unselbstständig Beschäftigten die Arbeiterkammer. Das ist ein sehr spezifischer Aspekt in Österreich: Fast alle unselbständigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben eine Interessensvertretung. Es gibt auch keinen Mindestlohn wie in Deutschland, sondern branchenspezifische Kollektivverträge, die Interessensvertretungen von Arbeitgebern und -nehmern aushandeln. Diese legen branchenspezifische Mindestlöhne fest – und die sind rechtsverbindlich. 

Werden die auch gegenüber migrantischen Saisonarbeitskräften eingehalten?

K. O.:
Der Mindestlohn wird inzwischen, sagen wir mal, annähernd bezahlt – was die Sonderzahlungen betrifft, speziell die Überstundenzuschläge, da haben wir große Zweifel.

E. K.: Die Sezonieri-Kampagne gibt es ja aus diesem Grund: Dass es so offensichtlich wurde, wie oft die kollektivvertraglichen Mindestlöhne nicht ausbezahlt werden. Es gibt keine Forschung darüber, wir haben keine systematische Erhebung – aber, als Beispiel: Es ist ja gerade ein neuer Fall öffentlich geworden. Eine rumänische Erntehelferin in Mannsdorf an der Donau berichtet, dass sie zu elft in einem Zimmer geschlafen und mit einer einzigen Pause von sechs in der Früh bis spätabends gearbeitet hätten – für vier Euro die Stunde! Und solche Verhältnisse entdecken wir eben immer wieder. 

Die Leute sind also schon offiziell angestellt, werden aber nicht korrekt bezahlt?

K. O.:
Früher hat es viele gegeben, die gar nicht angemeldet waren, aber das ist seit dem Lohn- und Sozialdumpinggesetz fast verschwunden. Aber ob sie richtig angemeldet sind, das ist wieder ein anderes Thema. 

E. K.: Wir fahren ja regelmäßig auf Felder und versuchen, mit den Leuten in Kontakt zu kommen. Was wir da erfahren, ist auch, dass die Leute am Ende irgendwelche Schmierzettel mit Lohnabrechnungen ausgehändigt bekommen, wo dann vielleicht einmal ein bisschen was ausbezahlt wird als „Urlaubsgeld“ – aber viel wird auch nicht regulär abgerechnet. 

Können die Erntehelfer das überhaupt kontrollieren?

E. K.:
Aus diesem Grund ist Sezonieri aufgesetzt als Aufklärungs-Kampagne. Um in erster Linie das Bewusstsein über die Arbeitsrechte, die allen zustehen, zu stärken. Da der gewerkschaftliche Organisierungsgrad in der Branche sehr gering ist, ist es quasi unmöglich, von dieser Seite aus Druck aufzubauen. Deswegen haben wir ein umfassendes Programm, mit Informationsfoldern für jedes Bundesland und in unterschiedlichen Sprachen.

K. O.: Seit heuer ist das Landarbeitsgesetz geändert worden, jetzt ist der Arbeitgeber verpflichtet dazu, die Sozialversicherungsanmeldung dem Arbeitnehmer zu überreichen. Wenn man da jetzt kontrolliert, hat man eine Handhabe, ob jemand korrekt angemeldet ist oder nicht. 

Kontrolle ist ein gutes Stichwort: Wie sieht es damit aus?

K. O.: (lacht) ... kontrolliert wird fast gar nicht. Es gäbe gute Möglichkeiten, durch die Gebietskrankenkassen, durch das Finanzamt und auch das Land- und Forstarbeitsinspektorat. Aber: Der Agrarbereich ist nicht auf Bundesebene angesiedelt, sondern in den Bundesländern, also sind die Landesregierungen zuständig. Da ist Unabhängigkeit schon fast ausgeschlossen, und deshalb wird fast nicht kontrolliert. Zudem sind die Land- und Forstwirtschaftlichen Inspektorate mit sehr wenigen Ressourcen ausgestattet. Also – einem Bauern passiert wahrscheinlich ein Lotto-Sechser eher als dass er kontrolliert wird.

E. K.: Als Beispiel: In Tirol gibt es, wie mir erzählt wurde, genau einen zuständigen Inspektor, der die Arbeitsbedingungen kontrollieren sollte. Die Arbeiter auf dem Schotthof, wo dieser Streik 2013 stattfand, erzählen, dass der befreundet ist mit dem Bauern. Das eine Problem sind also die mangelnden Ressourcen, aber das andere ist die Verbandelung mit den Arbeitgebern.

Die Bauern wiederum klagen ja, dass die mächtigen Supermarktketten, die die Preise diktieren, an der Misere schuld sind?

E. K.:
Die Nicht-Einhaltung des Kollektivvertrages ist ein Gesetzesbruch. Und schon alleine dieses Bewusstsein ist, kommt uns vor, in dieser Branche nicht weit verbreitet.

K. O.: Es kann nie ein Mittel sein, deswegen Lohn- und Sozialbetrug zu betreiben. Ich kann doch nicht sagen, weil der Handelsbetrieb – angeblich – mehr Macht hat, deshalb kann ich jetzt den Arbeiterinnen und Arbeitern weniger bezahlen. Es gibt schon die, die kaum über die Runden kommen, aber das hat am wenigsten mit dem Lohn der Erntearbeiter zu tun.

E. K.: Uns ist auch wichtig, die Bauern und die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber differenziert zu sehen, wir arbeiten zum Beispiel mit der Initiative „Via Campesina“ zusammen, der weltweiten Organisation von Kleinbäuerinnen und -bauern. Und die haben ganz andere Interessen als die Agrarindustrie-Betriebe. 

Würden also stärkere Kontrollen das Problem lösen?

K. O.:
Vorrangig ist sicher, dass man einmal die Kontrollen so weit ausbaut, dass die Gesetze eingehalten werden. Man kann den besten Kollektivvertrag machen – wenn er nicht kontrolliert und eingehalten wird, dann ist der für die Fische. Die zuständigen Arbeitsinspektorate auf Bundesebene zu geben und damit unabhängig zu machen wäre auch sehr sinnvoll.

E. K.: Ein grundsätzliches Problem ist auch: Transnationale Arbeitsverhältnisse sind in ganz vielen Bereichen Realität, wie jetzt in der Corona-Krise sehr deutlich wurde. Aber gleichzeitig ist es weder auf Ebene der Angleichung der Lohnniveaus noch der Anpassung der arbeits- und sozialrechtlichen Rahmenbedingungen gelungen, dadurch entstehende Nachteile für Beschäftigte abzuschwächen. Auch den europäischen Gewerkschaftsverbänden ist es bisher nicht gelungen, Strukturen zu schaffen, die transnationale Arbeitskämpfe wirklich möglich machen. Beschäftigte in der saisonalen oder anderen Formen der Pendelmigration sind damit besonders stark von Ausbeutung betroffen. Da müssen sich europäische Gewerkschaftsverbände meines Erachtens neue Strategien überlegen, um ihre Macht zu stärken.

K. O.: Da widersprechen sich die Gewerkschaften auch gegenseitig, weil jedes Land komplett andere Interessen hat.

Arbeiten Sie auch zusammen mit Organisationen in den Herkunftsländern der Arbeiterinnen und Arbeitnehmer?

E. K.:
Leider bisher relativ wenig. Wir haben aber zum Beispiel eine rumänische Aktivistin, die hat dort die Partei Demos mitgegründet, über sie gibt es zum Beispiel Netzwerke nach Rumänien – aber wirklich eine Zusammenarbeit mit Gewerkschaften... da gibt es bisher ganz wenig, wir wollen das in Zukunft aber ausbauen. Mein Eindruck bisher ist, dass viele Menschen aus den ehemaligen Ostblockstaaten skeptisch gegenüber gewerkschaftlichen Organisationen sind. Zudem besteht kein Wissen über die österreichischen Gewerkschaften und andere Institutionen. Ob diesen Vertrauen entgegengebracht wird oder nicht, ist aber ein sehr großer Faktor, damit Menschen sich auch trauen, sich gegen Ausbeutung zu wehren.

K. O.: Ich hab das bei einer Feldaktion auch miterlebt, dass man sagt: Die Gewerkschaft, das ist eine korrupte Organisation – das wird von vielen Erntearbeitern so wahrgenommen.

Wie reagieren denn allgemein die Leute, wenn sie auf die Felder fahren?

E. K.:
Es ist sehr, sehr unterschiedlich. Wir klappern in kleinen Grüppchen Regionen ab – und wenn wir Leute auf den Feldern arbeiten sehen, versuchen wir ins Gespräch zu kommen. Manche Chefs finden das voll okay, dass wir Informations-Materialien austeilen, und andere jagen uns mit dem Hund davon… 
Am Anfang, als Aktivistinnen und Aktivisten angefangen haben auf die Felder zu gehen, waren die Bauern schockiert – weil das eine neue Strategie der Gewerkschaft ist. Wir haben inzwischen auch einen Ruf: Als wir letzten Herbst im Burgenland waren, hat ab dem zweiten Bauern jeder gewusst, dass wir kommen, weil die sich gegenseitig vorwarnen… 

Was hat sich in Österreich durch Corona an der Situation geändert? Ist das Thema medial präsenter?

E. K.:
Ganz extrem! Seit Corona gab es plötzlich wöchentlich zehn, fünfzehn Medienberichte – wir archivieren diese auf unserer Homepage, und wir haben auch selbst an diversen Interviews, Radiosendungen etc. teilgenommen. In Österreich wurde zu Beginn der Krise eine Plattform organisiert, wo sich Freiwillige melden können, um die Erntearbeiterinnen und -arbeiter zu ersetzen. Es war ein staatlicher organisierter Aufruf zum „nationalen Schulterschluss“. Das ist extrem gut angekommen, es haben sich sehr viele gemeldet. Aber dann haben die Bauern angefangen zu klagen: Die Leute wollen nur Teilzeit arbeiten! Und was die für Lohnvorstellungen haben! Und plötzlich war der Ruf nach „unserem qualifizierten Fachpersonal aus Rumänien“ sehr laut. Für uns ist klar warum, denn die Chance, dass sich migrantische Saisonarbeiterkräfte gegen Lohndumping und Ausbeutung wehren, ist weitaus geringer und der Profit für die Arbeitgeber damit höher. Und genau dagegen kämpfen wir an.

Wie sieht ihre Bilanz nach sechs Jahren Kampagne aus?

E. K.:
Wir beobachten, dass die Anzahl der Anzeigen zurückgeht – aber auch, dass die Zugriffszahlen auf unsere Homepage sehr hoch sind.

K. O.: Also, dass jemand direkt zur Anzeige gehen möchte, da muss schon sehr, sehr viel passieren – in den seltensten Fällen will wer wirklich eine Klage gegen den Bauern einreichen.

E. K.: Und da sind wir bei dem Problem wieder – was sind die Konsequenzen von transnationalen Arbeitsverhältnissen? Wenn ich Erntearbeiterin aus Rumänien in Österreich bin und am Ende feststelle, dass ich weniger Geld bekommen habe als mir zusteht, brauche ich einen sehr langen Atem, um Dinge auch aus der Ferne durchboxen zu können. Hier braucht es einfach ein stärkeres, zumindest europäisches Zusammenwachsen, um Arbeitsrechte auch vor Gericht erkämpfen zu können. 

Vielen Dank für das Gespräch!