erlebnisse steigen wie papierdrachen auf

Richard Wagner zum Siebzigsten

Als Aufklärer von IM-Verstrickungen nahm Richard Wagner auch persönliche Einbußen in Kauf, hier als Angeklagter in einem Securitate-Prozess beim Landgericht München im Januar 2011.
Foto: Konrad Klein

Richard Wagner wurde am 10. April 1952 in Lowrin im Banat (Rumänien) geboren. Er studierte Germanistik und Rumänistik in Temeswar, arbeitete als Deutschlehrer und Journalist. Wagner war Mitgründer und Mitglied der Aktionsgruppe Banat (1972-1975), zu der unter anderen Gerhard Ortinau, Rolf Bossert, William Totok, Johann Lippet, Anton Sterbling, Albert Bohn, Werner Kremm und Ernest Wichner gehörten und der Herta Müller, Balthasar Waitz, Horst Samson und Helmuth Frauendorfer nahestanden. Die „Aktionsgruppe Banat“, eine literarisch-politische Vereinigung junger deutscher Autoren, hatte es sich zum Ziel gesetzt hatte, eine zeitgemäße, westlich orientierte Literatur zu schreiben und gleichzeitig für eine kritische Öffentlichkeit im realsozialistischen Rumänien zu plädieren. Nach der Zerschlagung der Gruppe durch den Geheimdienst Securitate im Herbst 1975 kam es wiederholt zur Einschränkung der Publikationsmöglichkeiten. Wagner verlor 1983 seinen Job als Redakteur bei der Karpatenrundschau. Nach der Protestaktion 1984, die unter der Schlagzeile „Brief an die Macht“ bekannt wurde, bedrohte die Securitate den Sprecher der Gruppe, Horst Samson, und später auch Johann Lippet. Im März 1987 verließen Wagner, Müller und Samson Rumänien, im Sommer folgten Totok und Lippet, im Herbst Frauendorfer. Richard Wagner und seine damalige Ehefrau Herta Müller ließen sich in Berlin nieder.

Richard Wagner, der schon seit einiger Zeit an Parkinson erkrankt ist, ging immer sehr offen damit um. Seine Krankheit personifizierte er sogar als Herrn Parkinson und widmete ihr ein ganzes Buch (2015). Dies ist ein lebendes Beispiel dafür, was Richard Wagner trotz schwerer Krankheit alles erreicht hat. Zurzeit lebt er in einem Seniorenheim in Berlin.

Richard Wagner – einem konsequenten Intellektuellen und Schriftsteller zum 70. Geburtstag.

Um für Richard Wagner etwas zu seinem 70. Geburtstag zu schreiben, hätte man sich friedlichere Zeiten in Europa und in der Welt, eine in vielen Hinsichten günstigere Lage unseres Landes wie auch eine bessere gesundheitliche Verfassung des Geehrten gewünscht. Aber wie er – mit viel mehr aufgeklärtem Realismus und analytischem Verstand als die meisten Zeitgenossen – sicherlich weiß, kann man sich weder seine Zeit aussuchen noch viel an deren Verlauf und nicht selten verhängnisvollen Entwicklungen ändern. Es ist wohl nicht möglich, sein umfassendes und eindrucksvolles literarisches, essayistisches und vielfach auch wissenschaftlich reflektiertes Werk in wenigen Sätzen zu würdigen, doch werden wir im Folgenden versuchen, einige Grundzüge seines intellektuellen Profils zu verdeutlichen. Richard Wagner erscheint uns stets als aufmerksamer Beobachter wie auch Teilhaber an zwei verschiedenen „Lebenswelten“ und ihres jeweiligen „geistigen Universums“: der östlichen, südosteuropäischen Welt seiner Banater Herkunft und der westlichen, abendländischen Kultur. Dies dürfte auch eine wichtige Voraussetzung sein, sich von diesen zugleich weitgehend zu lösen und ihnen ebenso unvoreingenommen wie kritisch entgegentreten zu können. Mit einem eigenen, unabhängigen und unbestechlichen Blick, wobei natürlich auch das besondere intellektuelle Verhältnis und die Sensibilität des Schriftstellers, des Künstlers, zur Welt für solche geistige Unabhängigkeit grundlegend erscheinen.

Sicherlich verstehen sich nicht alle Schriftsteller so ausdrücklich und konsequent als Intellektuelle, wie Richard Wagner dies seit Anfang seiner Schreibtätigkeit tut, indem er deutend, sinngebend und kritisch wertend am aktuellen kulturellen, sozialen und politischen Weltgeschehen teilnimmt. Diese Stellungnahme liegt der schriftstellerischen und künstlerischen Tätigkeit zwar nahe, ergibt sich daraus aber keineswegs zwingend, denn nahezu jede intellektuelle Betätigung setzt den Künstler, vor allem in einem kommunistischen Herrschaftssystem, zusätzlichen Bedrohungen aus und gefährdet ihn in der einen oder anderen Weise, wenn er sich auf das umstrittene Gebiet politischer oder moralischer „praktischer Bewertungen“ begibt.

Richard Wagner zählt ohne Zweifel zu jenen deutschen Gegenwartsschriftstellern, die sich regelmäßig neben ihrer literarischen Arbeit nahezu mit gleicher Vernehmbarkeit und ähnlichem Gewicht auch als Intellektuelle artikulieren. Dabei fallen seine Stellungnahmen, die sich zunächst schwerpunktmäßig – wenngleich keineswegs ausschließlich – auf Gegebenheiten und Wandlungsprozesse im östlichen Teil Europas bezogen, durch eindringliche und unbestechliche Beobachtungen, auch wissenschaftlich kaum anfechtbare Sachkenntnis, umsichtige Kritik und ein unverwechselbares, scharfsinniges eigenes Urteil auf. In seinen vielfach ungewöhnlichen Betrachtungsweisen und Bewertungen, die sich nicht nur kritisch verstehen, sondern nicht selten auch im spannungsreichen Dissens zu öffentlich gängigen Meinungen, zum „Zeitgeist“, befinden, zeigt sich die besondere Relevanz seiner intellektuellen Beiträge.

Richard Wagner entwickelt seine Überlegungen stets im Sinne eines konsequenten Eintretens für die Werte der Demokratie und Freiheit, die sich für ihn nicht nur mit weitgehender intellektueller Unabhängigkeit und Selbstverantwortung des Individuums verbinden, sondern deren Ursprung und Grundlage von ihm auch immer wieder in der historischen und geistesgeschichtlichen Tradition des abendländischen Rationalismus und der europäischen Aufklärung verortet werden. Insofern sollte das besondere Schicksal Deutschlands, um das es ihm oft hauptsächlich geht, auch unverbrüchlich in der westlichen Wertegemeinschaft verankert werden und bleiben, so ein immer wiederkehrendes Motiv und Anliegen seines Denkens.

Von dieser Grundposition aus erfolgt vielfach eine schonungslose ideologiekritische Auseinandersetzung mit linken Intellektuellen. Der entschiedenen Kritik unterzogen werden Weltuntergangsentwürfe und apokalyptische Denkfiguren, die von zu „Grünen“ gewandelten Linken immer wieder demagogisch und weltfremd in die öffentliche Diskussion geworfen und nicht zuletzt politisch geschickt instrumentalisiert werden. Ebenso der Gestus der moralischen Selbstbezichtigung der Deutschen unter Hinweis auf ihre unauslöschliche historische Schuld, der von den sich mit der Opferrolle identifizierenden „linken Moralisten“ zugleich zur eigenen hypermoralischen Sonderstellung und Selbstüberhöhung genutzt wird. In ähnlicher Weise hat das Lagerdenken der „Linken“ sie den Verbrechen der kommunistischen Diktaturen gegenüber weitgehend immunisiert und angesichts autoritärer Gefahren blind gemacht. Die Verharmlosung und die fehlende intellektuelle Auseinandersetzungsbereitschaft mit den diktatorischen Zügen und Verbrechen der kommunistischen Herrschaft, wie auch der dabei erkennbar gewordene Realitätsverlust werden von ihm mithin besonders eindringlich und entschieden hinterfragt. Wie Recht hat er doch angesichts der „Zeitwende“, des „Desillusionierungsrealismus“, den wir zurzeit nach dem brutalen Überfall der Ukraine durch Russland erleben.

Richard Wagner tritt uns stets als ein entschiedener Vertreter der Idee der Freiheit, der individuellen Selbstverantwortung und der geistigen Unabhängigkeit entgegen. Er zeichnet sich durch scharfsinnige Beobachtungen, treffsichere analytische Urteile, klare Standpunkte, geistreiche Assoziationen, kenntnisreiche Überlegungen sowie pointierte Formulierungen und denkwürdige Sprachbilder, mitunter auch durch gelungene Polemik, aus. Seine geistige Durchdringungskraft ergibt sich wohl aus dem doppelten Blickwinkel einer profunden Kenntnis der deutschen Befindlichkeit und Wirklichkeit, einschließlich ihrer historisch-kulturellen Tiefenschichten, einerseits und der unbefangenen Distanzierungsfähigkeit auf Grund seiner südosteuropäischen Biographie und Erfahrungen andererseits.

Richard Wagner veröffentlichte ab 1969 Gedichte und Kurzprosa im Neuen Weg, in der Neuen Banater Zeitung und Neuen Literatur. Wichtige literarische Werke sind: Klartext. Gedichtbuch, Bukarest 1973; der anfang einer geschichte, Klausenburg 1980; Hotel California 1, Bukarest 1980; Hotel California 2, Bukarest 1981; Rostregen. Gedichte, Darmstadt-Neuwied 1986; Ausreiseantrag. Eine Erzählung, Darmstadt 1988; Begrüßungsgeld. Eine Erzählung, Frankfurt a.M. 1989; Der Himmel von New York im Museum von Amsterdam. Geschichten, Frankfurt a. M. 1992; Giancarlos Koffer, Berlin 1993; Der Mann, der Erdrutsche sammelte. Geschichten, Stuttgart 1994; In der Hand der Frauen. Roman, Stuttgart 1995; Habseligkeiten. Roman, Berlin 2004; Das reiche Mädchen. Roman, Berlin 2007; Belüge mich. Roman, Berlin 2011; Herr Parkinson, München 2015. Essaybände und Sachbücher: Sonderweg Rumänien. Bericht aus einem Entwicklungsland, Berlin 1991; Völker ohne Signale. Zum Epochenbruch in Osteuropa, Berlin 1992; Mythendämmerung. Einwürfe eines Mitteleuropäers, Berlin 1993; Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan, Berlin 2003; Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes, Berlin 2006; Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte, Berlin 2008; Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt, Hamburg 2014; Die Deutsche Seele, München 2011 (mit Thea Dorn).


anfrage des dichters oder kleine unstimmigkeiten beim ausdenken der ars poetica
den wohlstandsbeflissenen

ich weiß ihr habt euch schrebergärten
in den köpfen eingerichtet
und euer bewußtsein schleppt ihr mehrmals täglich
von der küche ins schlafzimmer und wieder zurück
aus euren worten aber spricht die sattheit
und eure weiber gehn immer zärtlicher um
mit dem luxus der meinungslosigkeit
mit zäher ausdauer schleppt ihr die schwäne
der familienfeste zwischen die vier wände
eurer bunker schneidet die torte der anekdoten
in gleichmäßige teile schlitzt den wörtern
den bauch auf trinkt das blut aus den
leitungen der gewohnheit und die geduldigen zellen
regenerieren sich ununterbrochen und die zirkulation des
stumpfsinns verläuft einwandfrei ihr eckt nicht an
an den tischen an denen ihr sitzt die haut des tischtuchs
auf das ihr starrt weist keine einschußlöcher auf
alles einwandfrei jeder abend eine weiße weste
jedes auge träge einen schirm vor sich her
und jeder blick ist mit der fußspitze vertraut
die straßen rollen behutsam unter euch weg
ihr suhlt euch in der wiege der zeit der kohl
aus euren schrebergärten stopft euch den mund

was aber sollen wir anfangen mit euch
die wir die schlote der worte hochziehen
die spitzen hochhäuser der literatur
die wir in den kränen der poesie hocken
und aufbauen die tribünen des sozialismus
stück für stück
(Gedichtband „Invasion der Uhren“, Kriterion 1977)