Es könnte beim nächsten Mal schlimmer kommen

Über die Rolle des modernen Menschen als Pandemien-Beschleuniger

Forscher empfehlen bereits die Entwicklung eines Impfstoffs für die nächste Bedrohung: den Schweinegrippevirus G4. Fotos: Pixabay

Gefährliche Übersprünge passieren, wo exotische Wildtiere heimischen Tieren oder Menschen unter hohem Stress unnatürlich nahe kommen.

Pandemie-Beschleuniger: das aggessive Eindringen in die Wildnis für die Viehzucht.

Am 6. Juli berichteten mehrere Medien über Fälle von Beulenpest in der Mongolei. Wilderer hatten sich an rohem Murmeltier-Fleisch angesteckt, das dort als Delikatesse gilt. Der Schwarze Tod, vom Bakterium Yersinia pestis verusacht, kostet unbehandelt 30 bis 60 Prozent der Infizierten das Leben. Heute kann man die Pest mit Antibiotika bekämpfen, doch im 14. Jahrhundert starben 50 Millionen Menschen auf drei Kontinenten. Trotzdem wurde in der Mongolei sofort Alarmstufe 3 des Mechanismus zur Kontrolle und Verhinderung von Epidemien aktiviert.

Nur wenige Wochen zuvor hatte das Wissenschaftsmagazin „Science“ vor der Gefahr einer zweiten Pandemie gewarnt: Der Schweinegrippe-Virus G4, in China zunehmend verbreitet, hat die Fähigkeit erworben, Menschen zu infizieren! Nun fehlt nur noch ein Schritt zur Epidemie: die Übertragung von Mensch zu Mensch. Zoonosen nennen Experten diese Übersprünge aus dem Tierreich. Und sie geschehen immer häufiger. „Wir werden uns an Pandemien gewöhnen müssen“, warnt Virologe Robert Webster vom St. Jude Children’s Research Hospital in Memphis gegenüber dem Wissenschaftsmagazin. „Das Virus interessiert es nicht, dass wir schon eine Pandemie haben.“ 

Wildleben unter Druck

Nicht nur Viren bieten das Potenzial für weitere Pandemien. Auch Bakterien könnten uns in der Zukunft wieder gefährlich werden, wenn sich Resistenzen gegen Antibiotika ausbreiten. Dann gewänne auch die Pest ihren Schrecken zurück. Doch was sind die Ursachen dafür, dass die Häufigkeit von Pandemien zunehmen soll? 

Im Falle von Bakterien ist längst bekannt, dass Antibiotika-Missbrauch in Medizin und Landwirtschaft Resistenzen hervorruft. Wenn sie in Massentierzuchten prophylaktisch in niedrigen Dosen gegeben werden, teilweise sogar in der Pflanzenzucht, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit. Bakterien geben ihre Resistenzgene an andere Bakterien weiter. Resistent wird also nicht der Patient, bei dem Antibiotika falsch zur Anwendung kommen, sondern - viel schlimmer -  der Erreger.

Dass die Gefahr von Viruspandemien zunimmt, hat andere Ursachen. Doch spielt Massentierzucht auch hier eine Rolle. Weitere Elemente sind der zunehmende Druck auf  den Lebensraum wilder Tiere, die unnatürliche Konfrontation von exotischen und dem Menschen nahestehenden Lebewesen und das aggressive Vordringen von Viehzucht und Landwirtschaft in die Wildnis.

Schweinezucht als Brutstätte

Begeben wir uns auf einen kleinen Ausflug in die Virologie: Am 29. Juni berichtete „Science“, dass der Schweinegrippe-Virus G4 das Potenzial erworben habe, den Menschen zu befallen. Bisher wurde er nur von Schwein zu Schwein übertragen, nicht von Mensch zu Mensch. Erst wenn letzteres der Fall ist, besteht die reale Gefahr einer neuen Pandemie. Der vorletzte Schritt vor diesem, die Übertragung vom Schwein auf den Menschen, ist vor Kurzem beobachtet worden, zwei Fälle sind bisher bekannt. Wie lange es nun dauert, bis der Virus auch die Fähigkeit erwirbt, sich von Mensch zu Mensch zu verbreiten, ist Sache des Zufalls. Man weiß nur, dass die Anpassung bei intensivem Kontakt zu infizierten Schweinen umso schneller geschieht. Eine chinesische Studie untersuchte  230 Probanden auf das Vorhandensein von Antikörpern als Zeichen für eine bereits erfolgte Konfrontation mit dem Virus. 4,4 Prozent der Probanden hatten Antikörper - für Angestellte in Schweinezuchten war der Prozentsatz mehr als doppelt so hoch.

Genetischer Austausch auch zwischen Viren

Wie aber erwerben Viren neue Fähigkeiten, zumal sie nicht wie Bakterien durch „sexuellen“ Kontakt Erbmaterial austauschen können? Ein Virus ist lebloser Träger seines eigenen Bauplans, fest eingekapselt, bis er zufällig an eine Zelle andockt, Einlaß erhält und diese zwingt, statt ihres eigenen „Programms“ Viruskopien zu produzieren. Doch wenn verschiedene Viren dasselbe Tier befallen, kann ein Virus auch „versehentlich“ mal ein Stück des anderen einbauen. So findet genetischer Austausch zwischen Viren stets in einem tierischen Wirt statt. Ist einer der Viren in der Lage, Menschen zu befallen oder sich über Menschen zu verbreiten, kann es zufällig genau diese Eigenschaft an den anderen übertragen. Dann entsteht ein neues Virus, mit dem der Mensch bisher nicht konfrontiert war und das sein Immunsystem noch nicht kennt.

Das G4-Virus ist in dieser Hinsicht besonders gefährlich, weil es sich ursprünglich um einen  Vogelgrippevirus handelte, für das Menschen keine Immunität besitzen, andererseits aber mehrere Säugetiergene und Abschnitte des Influenza-Virus H1N1 enthält, das bereits 2009 eine Pandemie auslöste. Edward Holmes, Evolutionsbiologe an der Universität von Sydney, erklärt gegenüber „Science“, G4 sei daher prädestiniert dafür, sich von Mensch zu Mensch zu verbreiten. Die Lage müsse aufmerksam überwacht werden. Experten empfehlen, bereits jetzt mit der Entwicklung eines Impfstoffs zu beginnen.

Es ist bekannt, dass Influenzaviren von Schweinen häufig auf den Menschen überspringen. In China ist die Verbreitung von G4 in Schweinen seit 2016 sprunghaft angestiegen. Man mag sich jetzt fragen: Warum schon wieder China? Doch die Antwort ist simpel: China besitzt die größte Schweinepopulation weltweit. Und: In Massenzuchten können sich Viren besonders effizient verbreiten.

Ein Reservoir für weitere Coronavirus-Pandemien

Wie SARS-CoV-2 entstanden ist, ist Forschern noch nicht genau bekannt. Coronaviren kommen häufig in wilden Fledermauspopulationen vor. Doch die Konfrontation mit dem Menschen ist selten, die Wahrscheinlichkeit, dass daraus eine Pandemie entsteht, eher gering. So begann die Suche nach der Tierart, die sich an den Fledermäusen angesteckt haben könnte und in der die Transformation stattfand. Infrage kommen Tiere, mit denen der Mensch in engem Kontakt steht - oder wilde Tiere, die in großen Mengen auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden, etwa das Schuppentier.  Tatsächlich hat man im Schuppentier einen sehr engen Verwandten von SARS-CoV-2 isoliert. Doch gehen Forscher mittlerweile davon aus, dass dieser Virus nicht der direkte Vorfahre ist. Das Schuppentier hat sich wohl selbst auf den Schwarzmärkten angesteckt. Dies prädestiniert es dennoch als möglichen Auslöser von weiteren Coronavirus-Pandemien. Der Schwarzhandel muss dringend unterbunden werden!

Weil Coronaviren in Fledermäusen ein Reservoir für weitere Pandemien bilden, ist das Auffinden und Überwachen des Zwischenwirts, in dem ähnliche Anpassungen stattfinden könnten, essenziell. Bisher wurde eine Reihe an Tieren identifiziert, die sich mit Covid-19 anstecken können, zum Beispiel Katzen oder Nerze. Doch Katzen stecken sich an Menschen an, nicht umgekehrt, legt eine chinesische Studie nahe. Wesentlich mehr Hauskatzen als Straßenkatzen hatten Antikörper gegen SARS-CoV-2 gebildet.

Die Vorfahren von SARS-CoV-2 sind wahrscheinlich bereits seit 40 bis 70 Jahren in Fledermäusen vorhanden, erklärt Prof. Mark Pagel von der Universität Reading im „Nature Briefing“ der BBC News.  So lange hatte dasVirus bereits die Fähigkeit, Menschen zu infizieren. Doch ohne Mensch zu Mensch Übertragung hatte man ihn nicht bemerkt. Und so mag es viele unidentifizierte Viren in anderen Wirten geben, die jederzeit auf den Menschen überspringen können. Es wäre wichtig, sie zu finden und ihre Entwicklung zu überwachen.

Der Mensch als Beschleuniger

Der Mensch ist der Beschleuniger des natürlichen Phänomens der Anpassung von Viren. Massive Übergriffe in die Lebensräume wilder Tiere durch Rodungen und das Vordringen der Landwirtschaft in die Wildnis  machen neue Pandemien wahrscheinlicher. Der Übersprung kann aber auch auf Märkten geschehen, wo exotische Wildtiere mit anderen Wild-, Haus- und Zuchttieren zusammentreffen, was in freier Wildbahn nie geschähe. „Wir haben den perfekten Sturm entfesselt für Krankheiten, die auf den Menschen überspringen und sich rasch über die Welt verbreiten“, schreibt BBC News-Wissenschaftskorrespondentin Victoria Gill.  „In den letzten Jahren hatten wir sechs bedeutende Bedrohungen: SARS, MERS, Ebola, Vogelgrippe und Schweinegrippe“, zitiert sie Prof. Matthew Baylis von der Universität Liverpool. „Fünf Bällen sind wir ausgewichen, der sechste hat uns getroffen. Und dies wird nicht die letzte Pandemie sein, mit der wir konfrontiert werden“, sagt Baylis. Er arbeitet an einem Früherkennungssystem, das Datenbanken über Wildtier-Krankheiten durchsuchen und potenzielle Bedrohungen identifizieren soll.

Vom Menschen beeinflusste Ökosysteme mit niedriger Biodiversität gehen häufig mit erhöhtem Infektionsrisiko für den Menschen einher, erklärt auch Prof. Kate Jones vom University College London. Am gefährlichsten sind Wildtiere, die die Anwesenheit des Menschen tolerieren. Nagetiere oder Fledermäuse zum Beispiel.

Betrachten wir den ersten Nipah Virus Ausbruch 1999 in Malaysia: Obstfressende Fledermäuse hatten die Schweine einer direkt am Waldrand gelegenen Farm infiziert. Diese fraßen vom Baum gefallene, angenagte Früchte, steckten sich und 250 Menschen an. Über 100 Menschen starben, denn am Nipah Virus sterben 45 bis 50 Prozent aller Infizierten!

2006 hatte eine Mutation des Vogelgrippevirus vom Typ H5N1 gerade begonnen, auf Menschen überzuspringen: 50 Prozent der Infizierten starben! Eine Pandemie konnte gerade noch gestoppt werden - dank der italienischen Virologin Ilaria Capua, so die Neue Zürcher Zeitung (NZZ). Capua hatte den genetischen Code des Virus geknackt und ihre Ergebnisse im im Internet veröffentlicht, obwohl die WHO sie für ihre eigene Datenbank gefordert hatte und nur den 20 weltweit führenden Labors Zugang gewähren wollte. Doch fünf Jahre später reagierte auch die WHO mit einem Kurswechsel und gibt den Zugang zu solchen Daten seither frei. Dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass beim Wettrennen zur  Entwicklung eines Impfstoffs gegen Covid-19 alle Daten frei verfügbar sind.

Neue Krankheiten tauchen drei bis viermal im Jahr auf, überall auf der Welt,  erklärt Prof. Eric Fevre von der Universität Liverpool der NZZ. Sie müssten alle dringend auf ihr Potenzial, Pandemien auszulösen, überwacht werden.

Hotspots für Übersprünge

Rund 89 Prozent der bekannten 180 RNA-Viren, die den Menschen befallen, stammen aus dem Tierreich: HIV von Menschenaffen, Ebola von Fledermäusen, die Influenza-Gattungen H5N1 und H1N1 von Vögeln und Schweinen. Intensive Ausbeutung von Wildleben durch Jagd und Wildtierfarmen zur kommerziellen Fleischproduktion erhöht die Gefahr des Übergreifens. Beim Schmuggel und auf Märkten sind Wildtiere Stress und immunschwächenden Bedingungen ausgesetzt, sie infizieren sich leicht untereinander. Dies sind die Hotspots für Zoonosen. Aber auch die Praxis des rituellen Essens von lebenden Tieren, verbreitet in Asien, teilweise auch Afrika und Brasilien, erhöht die Gefahr.

Was tun?

Wegen der großen Anzahl an Viren, die jederzeit auf den Menschen überspringen können, müssten Spezies, über die das Virus weiter übertragen werden kann, dringend identifiziert werden. Für den Umgang mit diesen sollten besondere Regeln gelten. Dabei besteht jedoch die große Gefahr, dass diese Tiere aus Angst von Menschen stigmatisiert und ausgerottet werden. Bewusst machen sollte man sich, dass es tatsächlich der Mensch ist, der sie misshandelt und brutal in ihren Lebensraum eingreift! 

Doch was tun? Setzt man auf den Wettlauf mit der Zeit und entwickelt prophylaktisch Impfstoffe für alle Viren, deren Übersprung erwartet wird? Bringt das Impfen in Massentierhaltungen die Lösung? Oder sollte man das Übel an der Wurzel packen, an den Ursachen für die Häufung von Zoonosen? Letzteres wäre sinnvoll auch aus Gründen des Klimawandels. Das aggressive Vordringen von Landwirtschaft und Viehzucht in die Wildnis schafft nicht nur neue Berührungszonen, sondern vernichtet auch Sauerstoffquellen der Erde. Wissenschaftler warnen schon lange, dass der weltweite Konsum von Fleisch und Milchprodukten dringend zurückgefahren werden müsste. Viehzucht leistet einen erheblichen Beitrag zur Entstehung von Treibhausgasen. So wirkt die Coronavirus-Pandemie fast wie eine Warnung: Covid-19 hat eine Letalität von rund 6 Prozent - nicht über  50 Prozent wie Nipah Virus, H5N1 oder Ebola! Es könnte beim nächsten Mal tatsächlich schlimmer kommen.