Es lebe die Freiheit

Oder vom Einmarsch von Demokratie und Kapitalismus in Libyen

„Hiermit erklären wir der ganzen Welt, dass wir unser geliebtes Land mit seinen Städten, Dörfern, Hügeln, Bergen, Wüsten und dem Himmel befreit haben“, erklärte am Sonntagabend (23. Oktober 2011) Abdel Hafis Ghoga, Vizepräsident des Nationalen Übergangsrates, in Bengasi. Ich würde mich sehr freuen, wenn es so wäre.

Nun sollen bis Mitte 2012 die nötigen Schritte zur Demokratisierung des Landes unternommen werden: Die Waffen eingesammelt, eine Übergangsregierung gebildet und die verfassungsgebende Versammlung sowie das Parlament gewählt werden. Libyen ist auf dem besten Weg nach der Jahrzehnte andauernden Diktatur. Seit 1969 führte Muammar al-Gaddafi das Land und seine Bevölkerung mit eiserner Hand. Der vorsichtige Kurs der Liberalisierung, den die Regierung seit 2002 eingeschlagen hat, scheint nicht vorsichtig genug gewesen zu sein. Das Volk spürte den gelockerten Griff und revoltierte im Februar 2011. Am 19. März begannen die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich mit den Luftangriffen „zum Schutz der Zivilbevölkerung“. Am 20. Oktober war Gaddafi tot. Die ganze Operation, die als „Bürgerkrieg“ verkauft wird, ist ein weiteres Beispiel für den Erfolg der „Demokratisierung“ der arabischen Welt.

Eigentlich sollte man sich für Libyer freuen. Der Diktator ist tot, die den „Frieden bringenden“ Luftangriffe hören ebenfalls auf. Die NATO hat noch nicht eindeutig entschieden, wann die Operation beendet wird, voraussichtlich am 31. Oktober. Von der NATO war zu erfahren, dass Frankreich und Großbritannien, die die Hauptlast des Luftkrieges gegen Gaddafis Regime getragen haben, noch ein paar Tage abwarten wollten, ob die Lage im Land wirklich sicher ist und der Übergangsrat ganz Libyen unter Kontrolle bekommt.

Was wird nun folgen? Langsam wird der Wiederaufbau der Infrastruktur betrieben. Das Schul- und Gesundheitswesen hat unter den acht Monate andauernden Unruhen und den Luftangriffen gelitten. Übrigens galt in der Gaddafi-Zeit Schulpflicht (von 6 bis 15 Jahre) und die medizinische Versorgung war kostenlos. Auch die Erdölindustrie braucht einen neuen Anstrich. Der libysche Staat, dessen Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2007 bei rund 57 Milliarden Dollar lag, wird es im Alleingang bestimmt nicht schaffen. Für die öffentlichen Einrichtungen könnten das alte Europa und eventuell die durch die Finanzkrise geschwächten USA aufkommen.

Die Erdölindustrie, die vor dem „Bürgerkrieg“ für 70 Prozent des BIP sorgte, muss wohl mit Privatmitteln wiederaufgebaut werden. Möglicherweise wird die neue Regierung diese Aufgabe den „Revolutionshelfern“ Frankreich, Großbritannien, den USA und Kanada aus Dankbarkeit überlassen. Viele hochrangige Manager der Ölkonzerne sitzen vermutlich schon auf ihren Koffern für die Reise in das befreite Libyen. Dabei geht es bestimmt nur um eine „Hilfsaktion“ und die schon wieder gestiegenen Ölpreise sowie die winkenden Konzessionen spielen bei dieser edlen Aufgabe keine Rolle. Doch dreht sich bei dieser Vorstellung ein Wort von Volker Pispers ununterbrochen in meinem Kopf: „Was hat sich der liebe Gott bloß dabei gedacht, einfach unser schönes Öl bei den Arabern zu verbuddeln?“ Da werden die Libyer noch einiges über den westlichen Kapitalismus lernen müssen, was sie in den vergangenen 42 Jahren vergessen haben.

Für Libyen habe nun „eine neue Zeitrechnung begonnen“, erklärte der deutsche Außenminister Dr. Westerwelle. „Angst und Unterdrückung sind der Hoffnung auf Frieden und Freiheit gewichen.“ Es ist wahrlich schwer, diese Hoffnung unterzukriegen. Mit der Freiheit wird es wohl etwas einfacher sein: Scharia sollte als Grundlage aller Gesetze eingeführt werden. Und der Frieden? Bei der Anzahl der Waffen im freien Umlauf und den in Abwesenheit eines gemeinsamen Feindes nicht mehr so geeinigten zahlreichen Milizen ist auch der Frieden eine sehr fragile Angelegenheit. Zu hoffen bleibt, dass diese „Befreiung“ nicht zur Schaffung eines weiteren Brennpunktes im „Hinterhof“ Europas führen wird. Die mächtigen Konzerne werden für das Ihre sorgen. Ob jemand für das libysche Volk sorgt, bleibt abzuwarten.