„Es war so irre, tiefgläubige Mennoniten mit langen Kleidern so weit weg von Deutschland zu sehen!“

Jörg Müller erzählt über die Entstehung seiner Fotoausstellung „Im Spiegel der Migration. 5 x Deutschland in aller Welt“

Der Fotograf Jörg Müller vor einem seiner Werke, das die Schmalspurbahn in Oberwischau zeigt. Foto: Cristiana Scărlătescu

Der gebürtige Kölner Fotograf Jörg Müller studierte Kommunikation und Fotodesign an der Fachsuchschule Dortmund und begann nach dem Diplom 1991 seine Karriere als selbstständiger Fotograf in Hamburg, wo er seither lebt. Er fotografierte im Auftrag von „Greenpeace“, „National Geographic“ und der Zeitschrift „SPORTS“ sowie für die wichtigsten deutschen Printpublikationen. 2007 wurde Jörg Müller der Hansel-Mieth-Preis für seine Fotoreportage über chinesische Textilarbeiter, die Mode in Italien produzieren, verliehen. Die Arbeitsschwerpunkte in seiner kommerziellen Fotografie sind Wissenschaft und Forschung sowie Employer Branding und Business-Porträts. In seinen freien Arbeiten folgt er insbesondere Themen mit interkulturellem Hintergrund. Bei der Eröffnung seiner aktuellen Ausstellung „Im Spiegel der Migration. 5 x Deutschland in aller Welt“ hat sich Jörg Müller mit ADZ-Redakteurin Cristiana Scărlătescu über die Entstehung seines Projekts unterhalten.

Wie sind Sie auf die Idee des Projekts „5 x Deutschland in aller Welt“ gekommen?

Ursprünglich hatte ich einen Auftrag für National Geographic in Kirgistan. Dort gibt es ein ganz kleines deutsches Dorf namens Bergtal, wo etwa 200 Mennoniten knapp 300 km von der chinesischen Grenze entfernt leben, und drum herum gab es Muslime und einen Muezzin, der vom Minarett der Moschee zum Gebet rief. Es war so irre, tiefgläubige Mennoniten mit langen Kleidern, die wirklich Deutsch sprachen, so weit weg von Deutschland zu sehen! Das ließ sich wunderbar fotografieren.

Diese Geschichte hat National Geographic groß auf acht Seiten gedruckt, und es kamen viele positive Leserbriefe dazu. Dann hat sich bei mir die Idee entwickelt, daraus ein Projekt zu machen. Das heißt zu gucken, wo gibt es sonst noch deutsche Gemeinden weltweit.

Daraufhin habe ich länger recherchiert, um Orte mit deutschen Gemeinden – von kleinen Dörfern bis zu großen Städten – zu finden, die recht unterschiedlich sind.

Aufgrund welcher Kriterien haben Sie aus allen deutschen Sprachinseln der Welt ausgerechnet jene aus Litkowka (Sibirien), Oberwischau (Rumänien), Wartburg (Südafrika), Pomerode (Brasilien) und die Manitoba-Kolonie in Mexiko gewählt?

Das ist tatsächlich so, dass ich versucht habe, möglichst unterschiedliche Orte auf fünf Erdteilen zu finden. Das Besondere an Litkowka war, dass es extrem abgeschieden ist, es liegt am Ende der Welt oder noch ein Stück dahinter wahrscheinlich (lächelt). In Rumänien habe ich länger gesucht und festgestellt, dass die meisten Rumäniendeutschen irgendwann nach Deutschland ausgereist sind und dass es so was wie komplette deutsche Gemeinden eigentlich nicht mehr gibt. Dann bin ich auf die Vielvölkerstadt Oberwischau/Vi{eu des Sus gekommen und habe mich für die spannende Landschaft, die Schmalspurbahn und Weihnachtsbräuche der Zipser entschieden.

Bei den Mennoniten war es so: Ich habe die Spuren der deutschen Aussiedler in Nordamerika gesucht und bin schließlich auf die Mennoniten gestoßen. Dann musste ich mich nur entscheiden, ob ich jene in den USA, Kanada oder Mexiko fotografiere und habe letztere gewählt. In Afrika fiel mir zunächst Namibia ein, aber das wurde schon sehr oft fotografiert, und außerdem sind nur noch fünf bis zehn Prozent der Einwohner deutscher Herkunft, obwohl die Orte dort deutsch aussehen.

Dann habe ich in Südafrika mehrere kleine deutsche Gemeinden entdeckt und mich für Wartburg, auch für den missionarischen Hintergrund, entschieden. In Pomerode dagegen war der Ansatz der wirtschaftliche, und zwar dass sie viel Industrie in ihrer Stadt haben, riesige Feste feiern und dadurch einen Kontrast zu den kleinen Orten bilden, die ich bisher fotografiert hatte.

Vom thematischen Blickwinkel her haben Sie für dieses Projekt scheinbar einen Riesensprung weg von Ihren kommerziellen Fotowerken gemacht. Wodurch unterscheiden sich die hier ausgestellten Fotos davon?

Das stimmt nicht ganz. Ich habe eine Entwicklung hinter mir, natürlich. Ursprünglich habe ich rein für Redaktionen und für alle großen deutschen Zeitschriften fotografiert. Irgendwann wurden die Plätze, die Aufträge und die Gelder im Journalismus immer weniger. So fing ich an, mehr kommerzielle Fotografie zu machen, und gleichzeitig arbeitete ich weiter für Redaktionen.

Diese Art von Fotografie wollte ich auch weiter verfolgen und habe dann Gelder und Fördermittel beantragt, um die Fotografie, die ich eigentlich immer machen wollte, auch weiter machen zu können. Heute habe ich praktisch nur einen kleinen Ausriss von meinen Erlebnissen erzählt. Die meisten dieser Bilder enthalten relativ viele Informationen, und man kann in der Ausstellung ziemlich lange herumschauen.

Es ist das Gegenteil von dem, was ich in den Medien erlebe, wo man das Bild sehr schnell erfasst und dann ist es schon wieder weg. Letztendlich versuche ich hier etwas darzustellen, von dem die Betrachter für sich einen Eindruck mitnehmen, länger verweilen und vielleicht auch etwas erfahren können, was sie sonst so in den klassischen Medien nicht zu sehen bekommen.

Inwieweit hat die Wirklichkeit vor Ort Ihren Vorstellungen von den deutschen Gemeinden im Ausland entsprochen?

Die sind alle eigentlich viel lockerer als die Deutschen selber! (lacht) Die meisten jedenfalls… Und eine Art Selbstironie ist mir zum Beispiel ganz oft bei den Deutschen in Südafrika und auch in Brasilien begegnet. Das fand ich ganz interessant. Es gibt anscheinend bestimmte Vorurteile über Deutsche, dass sie immer ordentlich und pünktlich sind. Da scheint etwas dran zu sein, denn zum Beispiel das deutsche Dorf Litkowka sah halt etwas besser aus als die umliegenden russischen Dörfer, die halb verfallen waren.

Das ist schon natürlich verrückt, wenn man das immer wieder weltweit trifft. Ihre Lockerheit hat mich also überrascht, und dass es ihnen ziemlich gut geht. Na ja, Deutschland wird immer so als wirtschaftliches Paradies angesehen, aber ich glaube, dass es vielen hier in diesen Orten besser geht, sie sich auf andere Dinge besinnen oder ein einfacheres Leben führen als Städter wie ich, in einer großen Stadt, und gut leben.

Hat diese Erfahrung Ihre Meinung über die Nachfahren der deutschen Auswanderer weltweit geändert?

Nein, geändert nicht, aber ich habe erkannt, wie wichtig diese Brücken sind. In Brasilien allein leben sechs Millionen Nachfahren von Deutschen, die auch heute noch Deutsch sprechen, und alleine in São Paulo gibt es 1100 deutsche Firmen.

Das sind natürlich Verflechtungen, aber was mir wichtig war, ist, dass tatsächlich Deutschland auch mithilfe dieser Minderheiten und jener, die vertrieben wurden und nach dem Krieg heimkehrten, diesen Aufschwung geschafft hat.

Über welchen Zeitraum ist diese Fotosammlung entstanden und wohin geht die Wanderausstellung weiter?

Sie ist zwischen 2014 und 2018 entstanden und 2019 fand die große Ausstellungseröffnung beim Auswärtigen Amt in Berlin statt.

Die Ausstellung ist kürzlich aus Ungarn nach Hermannstadt/Sibiu gewandert, dann nach Bukarest gekommen und soll nach Temeswar weiter und letztlich nach Belgrad, wo sie wahrscheinlich im großen Schloss der serbischen deutschen Minderheit als Dauerausstellung bleiben wird.

Herr Müller, verraten Sie bitte unserer Leserschaft zum Schluss etwas über Ihre zukünftigen Projekte.

Im Moment arbeite ich an einer über 2000 Jahre alten europäischen Kulturroute, die von Ost- nach Westeuropa geht, nicht andersrum. Entlang dieser Kulturroute fotografiere ich junge Leute im Alter von 20 bis 30 Jahren unter dem Oberthema „Zeitenwende“.

Ich beobachte dabei, wie sich Europa verändert, und meine These ist, dass Europa heute von Ost nach West gelesen werden muss. Ich, als jemand, der in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen ist, habe Europa immer von West nach Ost gelesen und bin in Westeuropa sozialisiert worden.

Die Perspektive muss man ändern, glaube ich. Ich hatte dies schon angefangen bevor dieses offizielle Zeitenwende zusammen mit dem Ukrainekrieg kam, weil ich das eigentlich schon vorher gesehen hatte. Diese These, dass man Europa andersrum lesen muss, hat sich durch diesen Krieg mehr als bewahrheitet.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg auch weiterhin!