Im Wettlauf mit der Zeit durch den Strudel der Geschichte

Lebenserinnerungen des Taschnermeisters Arthur Karl Wollmann an Bistritz und Mühlbach

„Erinnerungen des Taschnermeisters: Arthur Karl Wollmann (1908-2001) an Bistritz und Mühlbach (Aus seiner Kindheit bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts), Honterus Verlag Hermannstadt 2019, ISBN 978-606-008-029-9, 231 Seiten, mit zahlreichen Fotos illustriert.

Arthur Wollmann im Alter von 82 Jahren

Werkstatt der Eltern und Großeltern in Bistritz

Erster Weltkrieg, Juli 1916. Die Russen sind bereits in die Bukowina eingefallen, die Front rückt unaufhaltsam näher. Jüdische Flüchtlinge strömen nach Bistritz/Bistrita. „In dieser Woche wurde von der evangelischen Kirche die mittlere Glocke und von der katholischen Kirche die kleine Glocke für die Kriegsführung abmontiert“, erinnert sich Arthur Wollmann, damals acht Jahre alt. Die Glocke der evangelischen Kirche musste oben am Turm zerteilt werden. Ein letztes Mal wurde mit ihr noch geläutet. Halb Bistritz hatte sich versammelt, um dem Spektakel beizuwohnen. Bald wurden auch vom Kirchturmdach die Kupferziegel abmontiert und durch Blechplatten ersetzt, beobachtet der Junge weiter. Manchmal wurde eine abgerutschte Kupferplatte von den Schülern, die auf dem Heimweg dort vorbeikamen, heimlich aufgesammelt. „Mir gelang es auch, eine solche zu erwischen.“

Als erstaunlich scharfer Beobachter und mit viel Liebe zum Detail, doch im nüchternen Protokollstil, schildert Arthur Karl Wollmann (1908-2001) seine Lebenserinnerungen an Bistritz und Mühlbach, beginnend mit der frühen Kindheit bis in die 1950er Jahre. Niedergeschrieben hat er sie erst 1990, mit 82 Jahren, im Wettlauf mit der Zeit. „Seine Schreibart ist gewöhnungsbedürftig, wenig abwechslungsreich und kennt keine Ausschmückungen“, bekennt der Herausgeber im Vorwort des Buches „Erinnerungen des Taschnermeisters Arthur Karl Wollmann an Bistritz und Mühlbach“, Volker Wollmann. Letzerer ist von zahlreichen Publikationen über das industrielle Kulturerbe Rumäniens bekannt. Doch diesmal geht es um ein ganz anderes Thema - die Lebensgeschichte seines Vaters.

Am Anfang muss sich der Leser tapfer durch ca. 50 Seiten Bescheibung des Familienstammbaums kämpfen, in diesem Ausmaß nicht unbedingt erforderlich für das Verständnis des Handlungsfadens. Interessant ist der Abschnitt dennoch unter dem Aspekt vieler historischer Details: 
Der Viktoronkel - 1949 nach der Evakuierung der Sachsen aus Nordsiebenbürgen, Flucht nach Prag; von dort aus wurde die Familie „nach dem endgültigen Zusammenbruch Anfang Mai unter den größten Demütigungen, mit dem was sie auf dem Körper anhatten, in tagelangen Fußmärschen ohne Nahrung aus der Tschechei vertrieben, kamen krank im Westen an“. 

Der Gustionkel, gelernter Kaleschentapezierer: war als Gehilfe in Wien, „wo er mit Wiener Manieren, Wiener Scharm heimkam“, 1940 gelangte er durch die „Tausend Mann Aktion“ nach Deutschland, in die Waffen SS und in den Krieg. 
Der Hansi, Sohn der Cousine Ida der Mutter: Sehr jung kam er 1942 zur Waffen SS und in russische Gefangenschaft, wo er stets versuchte, die Kameraden mit Musik aufzumuntern. In dem Konsalik-Roman „Der Arzt von Stalingrad“ wird er mit seinen Liedern und Gitarre erwähnt. 

Schatzkästchen an lebhaften Szenen

Doch dann eröffnet sich trotz des knappen Erzählstils ein bereichernder Blick auf die Vergangenheit – eine Fundgrube für Historiker, Soziologen oder Romanschreiber, die sich mit Siebenbürgen auseinandersetzen. In einem Atemzug liest man über den Alltag im Bistritz der Kindheit des Autors: die guten Gottfried- und Jägerbirnen in den sächsischen Gärten; das Knöpfespiel der Schüler heimlich unter der Bank, die Metallknöpfe der russischen Uniformen eigneten sich am besten; die kleine Druckmaschine mit beweglichen Gummilettern, die Arthur vom Erlös des Kastanienverkaufs im Papiergeschäft erwarb und mit dem sich die Buben stolz Visitenkarten druckten. Über den Burzenländer Zeichenlehrer Heinrich Schunn, später ein bekannter Maler, der die Schüler mit Block und Stift in die Natur oder auf den Marktplatz schickte; die Wanderungen mit Professor Zins, verantwortlich für die Gründung des Nösner Museums, die durch Freiwilligenarbeit der Schüler gelang. Durch welche Gassen man ging, wer wo wohnte, wie zuhause gegessen und geschlafen wurde. Über Verwandte, Lehrer und Schulkameraden mit Daten, Namen und den damals gängigen Spitznamen - das „Viktorchi“, das „Milichi“. 

Erstaunlich reich sind die Beobachtungen aus der frühen Kindheit in der Riemerwerkstatt des Großvaters und Vaters, später aus der Schul- und Lehrzeit oder als Taschnergeselle auf der Walz. Ausführlich beschreibt er die Etappen seiner Lehre im heimischen Betrieb, der vier Werkstätten umfasste: In der roten Werkstatt wurden Geschirre für Vieh und Gürtel für die Waldarbeiter der Bukowina und Maramuresch gefertigt; in der schwarzen feine Pferdegeschirre, gefärbt und mit Knochenfett eingerieben; in der weißen wurde weißes Alaunleder „geritschkelt“ - eine mehrstündige mechanische Prozedur zum Weichmachen - und dann rot gefärbt. Am liebsten aber war ihm die Galanterie-Werkstatt, wo Aktentaschen gefertigt wurden, die gerade in Mode kamen. Viel vermittelt Arthur Wollmann auch über den kulturellen Reichtum, der seine Jugend in Siebenbürgen prägte. Wandern, Gesang, Musik und Theaterspiel waren fester Bestandteil organisierter Schüler- und Lehrlingsgruppen.
Zwischen Schicksal und Geschichte

Interessant ist die Per-spektive, die durch die streng chronologische Schilderung der Ereignisse entsteht. Der Leser wird zum Beobachter, hin – und hergerissen vom Schicksal des Autors und den bekannten historischen Ereignissen: 1916, der tragische Tod der Mutter, Blutvergiftung, verursacht durch Insektenstich. Und wie selbstverständlich eine zweite Heirat folgte: Es war klar, dass der Vater nicht alleine bleiben konnte, die Belastung für die Großeltern wäre zu groß. Die Kinder, verteilt auf diese und andere Verwandte, sollten wieder in einer intakten Familie leben. Die neue Mutter, Klothilde Krauss, „war Witwe, hatte von Krauss eine Tochter Hilda und noch ein Mädchen, Kind ihrer älteren Schwester Helene Krauss, die Schwester, früher mit Krauss verheiratet, starb, Krauss heiratete die Schwester“. Zwischen den Zeilen erahnt man die pragmatische Einstellung einer von Unsicherheiten geprägten Gesellschaft. 1918 forderte die Spanische Grippe zahlreiche Todesopfer , „die Lottitante und viele Bekannte“, es gab keine Medikamente. Auch an den Zerfall der K. u. K. Monarchie und den „Anschluss von Siebenbürgen an das Altreich ‘Regat’“ kann sich Arthur gut erinnern: Die ersten rumänischen Soldaten zogen am 4. Dezember bei Regen durch morastische Bistritzer Straßen, „sie sahen ziemlich verlottert aus, noch in Opintsch und ausgehungert“. 

Im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs

Die Entstehung der völkischen Erneuerungsbewegung, 1932 von Dr. Fritz Fabritius initiiert, beschreibt der Autor aus der unschuldigen Sicht jugendlichen Erlebens: Unter der Bezeichnung „Selbsthilfe“ vermochte sie 1934 die Turn- und Jugendverbände in ganz Siebenbürgen für Freiwilligenarbeit in Sommernlagern zu begeistern. Der Arbeitsdienst, den die jungen Leute mit Spaß verrichteten, war „für die einzelnen Gemeinden irgendein Gewinn, doch das eigentliche Ziel war das geschlossene Beisammensein der Jugend“, bekennt Arthur Wollmann. „Die Teilnehmer kamen aus verschiedenen Landesteilen und Gruppen: Akademiker, Lehrer, Handwerker, Kaufleute – Arm und Reich: Hier waren alle gleich.“ 

1935 fährt er mit der sogenannten Spielschar mit dem Zug zu einem Treffen in die Tschechoslowakei. „Agnethler, Hermannstädter, Repser, Bulkescher. In  Klausenburg stiegen noch die Bistritzer dazu“, erinnert er sich lebhaft. „In Karoly Mare trafen wir noch mit der großen Gruppe der Banater zusammen.“ Im Vordergrund stand das nun auf alle deutschen Volksgruppen erweiterte Gemeinschaftsgefühl. Wie wichtig die Pflege eines ausgedehnten Netzes an Freunden und – selbst entfernten - Verwandten war, geht aus allen Schilderungen Wollmanns hervor. Von der Schulzeit bis in die Lehr- und Berufszeit wurden essenzielle Informationen, Lehr- und Arbeitsstellen oder Übernachtungsmöglichkeiten auf Reisen von diesen vermittelt.

Mit der Spielschar ergibt sich für Arthur die Chance, auf Einladung des Volksbunds für das Deutschtum im Ausland zwei Monate durch Deutschland zur reisen. Besonders aufregend gestaltet sich ein Besuch in der Reichskanzlei. Ob sie dort von Hitler empfangen würden? Nachvollziehbar beschreibt er die Faszination, die die jungen Leute erfasste, die einstündige „Autogrammjagd“ in der Reichskanzlei nach anfänglicher Befangenheit. Der Führer hatte sie beeindruckt durch die Ernsthaftigkeit, mit der er die Jugendlichen wahrgenommen hatte: Händedruck, fester Augenkontakt, aufmerksames Interesse, die Fähigkeit zum Zuhören.

Trautes Glück und Kriegswirren

In weiteren Etappen schildert Wollmann die Heirat mit Elsa Wellmann, die Geburt der Kinder Nortrud und Volker, begleitet von Bildern: der Kinderwagen der Fabriksmarke „Ideal“ aus Mediasch, das Haus in der Quergasse 17, die Hochzeitsgeschenke, Kristallgläser und Standuhr. Das junge Glück überlagert bald der Krieg. Antonescu unterzeichnete mit Hitler den Freundschaftspakt. Deutsche Soldaten kamen als Lehrtruppen ins Land. In Mühlbach wurden Flieger bei Privatleuten einquartiert, wie Erwin Lübke (20) bei den Wollmanns. „Unser Flieger befasste sich viel mit der kleinen Nortrud und sagte ihr stets ‚du kleiner Schita‘ (Anm.: du kleiner Scheißer), „so wurde unser Erwin nur noch ‚Onkel Schita‘ genannt“, erinnert sich Arthur Wollmann. „Er zeigte mir damals viele Flieger-Fotos von den vielen zerstörten russischen Ortschaften.“ Nach 50 Jahren, nach der Auswanderung der Wollmanns, gab es ein herzliches Wiedersehen mit „Onkel Schita“ in Landshut. 

Es folgte die Waffenumkehr Rumäniens. Dann die geschlossene Deportation der Deutschen in die Arbeitslager der UdSSR 1945, der das junge Paar, zunächst ausgehoben, im letzten Moment entrann. Im Anhang die Briefe von Elsa und Arthur aus dem Sammellager an die Eltern, auf kleinen Zettelchen herausgeschmuggelt: „Vielleicht könnt ihr für Arthur eine dickere Decke beschaffen“ - „Bitte meldet Hanna (...) dass sie noch heute fährt, denn man sucht alle und nicht dass man Euch bestraft“ - „Viele viele Pussi an Nortrudchen und Volki und sie sollen immer an ihre guldig Mama und Tata denken“.
Kein Roman könnte bewegender sein. Und in gewissem Sinne gibt es sogar ein Happy End, wie der „Nachtrag“ verrät:   „Arthur Wollmann starb im Alter von 93 Jahren im Wohlbehagen, dass die Familienzusammenführung noch vor der Wende stattfinden konnte und dass es seinen Kindern gelungen war, in der neuen Heimat Fuß zu fassen.“