„In unserer Kultur ist nüchternes Aufbereiten von Information eine Rarität!“

Forscher Dr. Mircea Dragoteanu auf der Suche nach Orientierung in Rumänien

Für Dr. Mircea Dragoteanu ist „Philatelie ein Tor zur Geschichte“. 2004 hat er die Goldmedaille der in Singapur veranstalteten Erstauflage der Briefmarken-Weltmeisterschaft gewonnen.

Dr. Mircea Dragoteanu, Chefarzt des Nuklearmedizinischen Labors am Regionalen Institut für Gastroenterologie Klausenburg/Cluj-Napoca, wurde 1962 in Câmpulung Muscel geboren und stieg in Bukarest in den studentischen Lebensalltag ein. Das hier angetretene Elektronik-Studium schloss er 1991 in Klausenburg ab. 1993 folgten das Mediziner-Diplom, 1997 der Abschluss des ‘Lizenzstudiums’ in Journalismus, 2010 der Abschluss im Studienfach Geschichte und 2016 das Staatsexamen im Fach Rechtswissenschaften. Seit 2005 ist er Facharzt für Innere Medizin.

Bereits als Schüler hat der besessene Philatelist (Briefmarkensammler, Anm. d. Red.) Mircea Dragoteanu die Heimatforschung für sich entdeckt. Dennoch – der Arzt in ihm „bedauert es zutiefst, nicht ausgewandert zu sein“, und das nicht wegen des Geldes. Obwohl er einräumt, sich auf der Höhe schwer inflationärer Zeiten als vermögender Briefmarkensammler ein Zubrot verdient zu haben. Das hier folgende Interview mit Dr. Mircea Dragoteanu führte Klaus Philippi.

Sie haben soeben die zweite, erweiterte Ausgabe Ihrer Monographie „A fost odată Hohe Rinne/Es war einmal Hohe Rinne“ herausgegeben – wann und wie sind Sie zum ersten Mal auf den Ort gestoßen?


1993 habe ich Postkarten und Briefmarken des Postamtes der Hohen Rinne gekauft. Es war ein Verschmelzen zweier Begeisterungen: Die alte Leidenschaft für alles Mögliche und die Leidenschaft für Briefmarken.
 

Was können sich Laien unter Nuklearmedizin vorstellen, und was bringt der Beruf Nuklearmediziner während einer Pandemie mit sich?

Nuklearmedizin stützt sich auf therapeutische, diagnostische und labortechnische Komponenten (unter Anwendung radioaktiver Stoffe, Anm. d. Red.). Nuklearmedizin bedeutet, am Erstellen einer präzisen Diagnose beteiligt zu sein. Ich erledige den diagnostischen Teil der Arbeit in einem Institut für Gastroenterologie. Ein für den Patienten vorteilhaftes Behandlungsschema kann erst auf eine hieb- und stichfeste Diagnose folgen. Zu wissen, dass wir Patienten zu einer Therapie verhelfen, die sehr genau auf ihre Beschwerden abgestimmt ist, macht Nuklearmedizin für uns zur Genugtuung.

Leider geht die Pandemie mit Problemen betreffend den Schutz von Personal und Patienten einher. Beispielsweise erfordert jede szintigraphische (bildgebendes Verfahren der Nuklearmedizin, Anm. d. Red.) Knochenuntersuchung, die Patienten ab Injizieren des Radiopharmakons in die Armvene zweieinhalb Stunden auf der Station zu behalten. Sie werden leicht radioaktiv und dürfen den Krankenraum wegen des Risikos der Abstrahlung auf Personal und andere Patienten nicht verlassen. Darum müssen wir ihre Anwesenheit auf der Station aufgliedern, um den Mindestabstand zwischen ihnen trotz der begrenzten Zeit zu wahren.

Aber wir sind dankbar, unserer Arbeit weiterhin nachgehen und Kollegen aus dem medizinischen Versorgungssystem selbst in dieser heiklen Zeit diagnostisch performant unterstützen zu können.
 

Ihre universitäre Ausbildung zum Elektroingenieur ist Ihnen dabei nützlich, oder?

Als Schüler habe ich den Ersten Preis einer nationalen Physik-Olympiade gewonnen. Und das Elektronik-Studium macht sich beim Lesen dynamischer Kurven, die in der Nuklearmedizin anspruchsvoll sind, bezahlt.
Lange Zeit war Klausenburg die einzige Anlaufstelle in Osteuropa für spezifische Verfahren der Untersuchung von Leber und Darm. Im Augenblick werden wir nicht um sie angefragt, was aber nicht daran liegt, dass sie auch andernorts möglich sind. In dieser Domäne ist mir mein Elektronik-Studium ausgesprochen nützlich. Auch fand mein Lehrmeister – der verstorbene Professor Dr. Sabin Cotul, dem Siebenbürgen Kompetenz in Sachen Nuklearmedizin verdankt –, dass meine praktische Erfahrung im Arbeiten mit Briefmarken und Bildern dem Analysieren von Untersuchungsbildern in die Karten spielt und die Gewohnheit fördert, ein Bild in seiner Gesamtheit zu sehen. Denn wir Menschen neigen dazu, Information in ihre Teilstücke zu zerlegen und diese der Reihe nach anzuschauen. Wichtig aber ist in meinem Bereich der simultane Gesamtüberblick.
 

Rumänien muss sich wachsende Kritik am staatlichen Umgang mit Bildung gefallen lassen. Sie sind einer, der nicht nur auf dem Papier, sondern auch im richtigen Leben als Student durch zwei Jahrzehnte marschiert ist. Können Sie den Verlust der Qualität in Rumäniens Bildungskultur bestätigen oder widerlegen?

Es hat mir Freude bereitet, Student zu sein. Doch von Verlust der Bildung in Rumänien kann – meiner Meinung nach – nicht pauschal gesprochen werden. Der Mensch heiligt den Ort (‘omul sfințește locul’, rumänische Redewendung, Anm. d. Red.). An der Fakultät für Elektronik der Polytechnischen Universität Bukarest hatte ich sehr gute Professoren. An der Medizinischen Universität Klausenburg habe ich von Sommitäten lernen können, und an der Fakultät für Journalistik der Babeș-Bolyai-Universität (UBB) zählten Emil Boc und Vasile Dâncu zu meinen Professoren. Nicht zu vergessen die Professoren der Fakultät für Rechtswissenschaften an der Dimitrie-Cantemir-Universität Bukarest, die Dir vor allem das Lesen beibringen wollten.

Auf der anderen Seite müssen wir zugeben, dass der universitäre Bildungsprozess sich verdünnt hat. Unsere Studentenzahlen sind niedrig, weil die Gesellschaft nicht Werte, sondern kontrollierbare Menschen wünscht. Menschen, die sich von der an den Hebeln der Macht sitzenden Klientel dirigieren lassen. Weil junge Menschen in der Lernleistung folglich keinen Weg zum guten Leben erachten, wollen sie auch nichts lernen. Die sich um Diplome kümmern, tun es meist nur auf Druck ihrer Eltern statt aus Eigenantrieb.Was nicht bedeutet, dass gar keine willkommenen Ausnahmen zu verzeichnen sind. Aber natürlich hat eine junge Frau mit statt ohne Jura-Diplom in den Augen der plumpen Gesellschaft bessere Chancen, ‘gut verheiratet zu werden’, wie das hierzulande leider nun mal so ist, und stammt das Diplom auch von Bildungseinrichtungen wie der Spiru-Haret-Universität Bukarest.

Dieser Qualitätsverlust ist hausgemacht, weil selbst in kleinen Städten, wo eigentlich keine humane Basis lebt, die das Zeug hätte, Studierenden waschechte Leistung abzuverlangen, Fakultäten wie Pilze aus dem Erdboden geschossen sind. Fakultäten, denen die Akkreditierung hätte entzogen werden müssen. Auf dem flachen Land aber wäre die Wählerschaft sauer geworden, sich keine Diplome zuschaufeln zu dürfen. Schließlich will man doch seine Tochter in den Rathaus-Verwaltungsapparat hieven, koste es, was es wolle...
 

Das liegt wohl auch an der Politik der mittleren und jungen Vergangenheit, die das Handwerk öffentlich entwertet hat.

Aus meiner Monografie „A fost odată Hohe Rinne. Istoria Păltinișului 1885-1918“ (SALGO Verlag Hermannstadt, 2020; Anm. d. Red.) ist ersichtlich, dass Handwerker nicht weniger schlecht als Intellektuelle, die in Westeuropa studiert hatten, angesehen waren. Ein Glockengießer genoss den gleichen Status wie ein Universitätsprofessor für Rechtswissenschaften. Heute fällt auf, dass die Handwerker lange Zeit herabgewürdigt wurden und es noch immer werden. Klar wollen junge Leute da-rum nicht gerne Vorlieb mit den Berufen Klempner, Elektriker oder Automechaniker nehmen. Das hat zur Folge, dass immer weniger Menschen fähig sind, etwas Greifbares zu tun. Zweitens steht die Degeneration der dörflichen Kultur Rumäniens zu Buche. Statt Förderung von Arbeit erfolgte die Gründung der Agentur APIA (Agenția de Plăți și Intervenție pentru Agricultur²), deren Zahlungen dazu führten, dass die Leute nichts mehr arbeiteten. Sie ernten lieber im Ausland Spargel und Erdbeeren als ihre Kräfte in den Acker von daheim zu investieren.
 

Wie profitieren Sie als Zeitungsleser, Fernsehzuschauer und Rundfunkhörer von Ihrem 1997 abgeschlossenem Journalistik-Studium?

Das einzige, wofür ich noch Zeit und Muße habe, ist das Kofferradio beim Autofahren. Was ich an der Fakultät für Journalistik gelernt habe, ist nicht, aufmerksam zu hören, was gesagt wird, sondern warum und wie es gesagt wird. Hinter der Nachricht steckt die Intention des benachrichtigenden Menschen. Der aktuelle Wahlkampf steht deutlich Beweis dafür. Jede Berichterstattung verdeckt Strukturen, von denen wir gar nichts ahnen. „Herr Doktor, in Rumänien ist es aus mit der unabhängigen Presse. Uns fehlen die Geldmittel, nach Klausenburg zu kommen und eine seriöse Nachforschung zu unternehmen. Finden Sie sich zurecht wie Sie können!“, hat Grigore Cartianu mir gesagt, als ich einmal um journalistische Unterstützung aus Bukarest angefragt habe.

Wer Vorlesungen von Vasile Dâncu besucht hat und die Zeitungen liest, merkt sofort, wer und was dahintersteckt. Vasile Dâncu ist nach Bukarest gegangen und ich habe weder zu der Partei, welcher er angehört, noch zu einer anderen Partei Affinitäten, aber dankbar bin ich ihm trotzdem. An Emil Boc, einen sehr guten Professor für die Theorie der politischen Parteien und für Verwaltungsrecht, denke ich ebenso gerne zurück. Beiden bin ich dankbar, aufgeklärt worden zu sein. Manipulation von Information ist nicht nur in Rumänien aktuell.
 

Klausenburg hat den Nimbus einer Super-Stadt: Stadien, Schwimmhalle, zwei Opernhäuser, Nahverkehrsmittel auf Ökostrom-Basis, Museen, Antiquariate, Botanischer Garten, Kinos und starke Universitäten. Dazu ein überteuerter Immobilienmarkt. Wo hat Klausenburg noch Luft nach oben?

Die Anziehungskraft der Stadt liegt nicht an den Klausenburgern selbst. Denken wir nur an Ex-Bürgermeister Gheorghe Funar zurück, der die Rumänen beißenden Hass auf die Ungarn lehren wollte. Ich wollte damals bauen und habe von Funar keine Genehmigung erhalten können. Stattdessen war der ungarische Vizebürgermeister bereit, sie mir zu geben. Gut, dass wir Gheorghe Funar los sind. Emil Boc ist eine andere Hausnummer. Mauscheln Untergeordneter duldet er nicht. Darum kommt die Stadt auch gut voran.

Halten Sie sich aber keine Idylle vor! Was Rumänien in den letzten 30 Jahren versäumt hat, wird sehr geschickt versteckt. Rumänien hatte 1989 acht bis zehn Millionen Securitate-Informanten. Die überwältigende Mehrheit von ihnen war erpresst worden, weil verwundbar. Einige wurden aufgedeckt und gezwungen, der öffentlichen Schande zu begegnen, ohne zu ahnen, dass es in der Gesellschaft nur so von ihnen wimmelte. Und bis dato füllen diese Leute auf Befehl die Parteien, die Universitäten und die Verwaltung auf. Klausenburg ist keine Ausnahme.
 

Das rumänische Sprichwort „Die Kinder unserer Securitate-Agenten werden die Securitate-Agenten unserer Kinder sein!“ meint es bitterernst!

Als akkreditierter Forscher des Nationalrates für die Erforschung der Unterlagen der Securitate (CNSAS) weiß ich, dass das Archiv der Beziehungen zwischen Klausenburgs Medizinbranche und der Securitate für die Jahre 1970 bis 1990 unter Verschluss gehalten wird. Die Gesellschaft Rumäniens kann auch 30 Jahre nach der Revolution nicht frei sein, solange sie in ihrem Schrank ein Skelett im Verwesungszustand verheimlicht, das den Namen „Securitate-Mitarbeiterakte“ trägt!
 

Also haben Sie früh gelernt, dieser Gefahr zu entgehen?

In Câmpulung Muscel habe ich den Zensuren-Rekord am Dinicu-Golescu-Gymnasium aufgestellt. Womit hätte mich die Securitate locken können? Später in Bukarest wurde ich Parteimitglied und konnte deshalb nicht erpresst werden. Das war ihnen auch in Klausenburg zu heiß. Es gab nichts, womit sie mich unter Druck hätten setzen können.
Noch 1990 habe ich als Vorsitzender der Studentenschaft der Medizinischen Universität Klausenburg 200 Kommilitonen in einen Hörsaal geladen und alle anwesenden Informanten aufgefordert, schriftlich zu gestehen. Sie hatten durch die Hintertüre der Securitate in das Studium gefunden und hätten exmatrikuliert werden müssen. Von einigen wusste ich Bescheid, bei anderen war ich mir unsicher. Ich wollte gern wissen, was all die Jahre Tatsache gewesen war. Aber nur sieben haben gestanden. Der Rest hat sich davongeschlichen.