Klein, verkehrt und machtlos

Was tun, wenn Kinder Bullying ausgesetzt sind?

Sobald sie den Schulhof, die Flure der Bildungseinrichtung oder das Klassenzimmer betreten, geht es schon los: Sie werden gehänselt, gestoßen und beschimpft. Oft werden ihre Schultaschen geschnappt und ausgekippt, das Handy und persönliche Gegenstände entwendet. Sie selber werden beiseitegestoßen und bleiben meistens hilflos. Der sogenannte Bully hat die volle Macht. Er beleidigt sie, auch Online, mit verletzenden Kommentaren. Immer mehr Schülerinnen und Schüler werden über längere Zeit beleidigt, gedemütigt, ausgegrenzt – „gemobbed“.
Bullying bzw Mobbing ist ein weit verbreitetes Phänomen im rumänischen Schulumfeld, und nicht nur. Eine Studie des Vereins „Salva]i Copiii România“ (Rettet die Kinder Rumänien) für das Jahr 2021 zeigt, dass 22 Prozent der Kinder Beschimpfungen und gewalttätiger Sprache ausgesetzt sind, wobei die körperliche Misshandlung, der sie zu Hause ausgesetzt sind, mit Mobbingverhalten in der Schule in Verbindung gebracht wird. Daten des rumänischen Vereins aus dem Vorjahr zeigen, dass viele Kinder auch von Lehrkräften oft eher beschimpft anstatt im Lernprozess unterstützt werden. All das führt zur Unsicherheit und zu aggressivem Verhalten unter Kindern.


Im Anschluss an diese regelmäßigen Studien entwickelt der Verein „Salva]i Copiii“ schon seit Jahren eine Reihe von Interventionen, um das Phänomen des Bullyings einzudämmen. Auch in Temeswar/Timi{oara wird seit mehreren Jahren stark gegen Mobbing unter Kindern und Jugendlichen gekämpft. Die Filiale des Vereins vor Ort besteht seit 25 Jahren. Die Tätigkeit der Fachleute hier richtet sich an Kindern in gefährdeten Situationen, darunter solche, deren Eltern im Ausland arbeiten, die von Missbrauch oder Ausbeutung bedroht sind oder in prekären sozioökonomischen Verhältnissen leben.

Beratung für Kinder und Eltern

Ein Beratungszentrum für Eltern wurde 2010 in Temeswar zusammen mit weiteren fünf ähnlichen Zentren rumänienweit ins Leben gerufen. Hunderte von Eltern und Kinder nutzten bereits die kostenlose individuelle Beratung und Therapie. „Wir helfen Kindern mit emotionalen Problemen, Drogenproblemen, Verhaltensproblemen, ADHS/ADS, Mobbing, Bettnässen, Aggression, Angstzuständen, Depressionen, unangemessenem Verhalten in sozialen Medien, Schwierigkeiten in der Beziehung zu den Eltern, Schwierigkeiten bei der Trauerverarbeitung, usw.“, sagt Mihaela Erimescu, Psychopädagogin und Koordinatorin des Zentrums in Temeswar. Auch Eltern können Beratung und Hilfe finden.

Die Pandemie hat das Phänomen und die Probleme der Kinder und Eltern nur noch vertieft, beobachtet die Koordinatorin des Temeswarerer Beratungszentrums. Wenn vor der Pandemie die Informationskampagnen vor Ort in Schulen organisiert wurden, stand in den letzten zwei Jahren nur das Internet zur Verfügung, und auch die individuelle Beratung mit Eltern hatten zu leiden. „Ein wichtiger Bestandteil unserer Aktivität ist gerade das – den Kindern, Eltern und Lehrern über Bullying zu erzählen, wie sie es erkennen und bekämpfen können“, fügt auch die Sozialarbeiterin und Elternberaterin innerhalb des Temeswarer „Salvați Copiii“-Vereins Anca Groza hinzu.

Wie erkennen und vorbeugen?

Wo endet eine Streiterei? Was ist Schikane, was ist Bullying und wann geht alles in Gewalt über? Wo wird eine Grenze überschritten? Was ist Auslöser für solchen Verhalten?

Laut Definition stehen die Synonymbegriffe „Mobbing/Bullying“ für wiederholte und über einen längeren Zeitraum negativen Handlungen, die von einem oder mehreren Individuen gegen ein anderes Individuum ausgewirkt sind. Solche Handlungen können verbal (drohen, verspotten, beschimpfen), physisch (schlagen usw.) oder non-verbal (Grimassen schneiden, Rücken zuwenden) vonstattengehen. Bullying erfordert, dass zwischen Opfer und Täter (oder der Gruppe von Tätern) ein Machtgefälle herrscht, dass sich auf körperliche oder psychische Stärke beziehen kann. Es handelt sich, laut Experten, nicht um Bullying, wenn zwei gleich starke Schüler miteinander streiten.

„Kinder, die zu korpulent oder zu mager sind, Brillen oder Zahnspangen tragen, pubertäre Pickel haben oder ungeschickt im Sportunterricht sind – sie alle können Opfer von Bullying werden. Manchmal reicht es, dass ein Mitschüler sie dafür auslacht oder verspottet. Schon beginnen langsam die Schikanen. Die Übergriffe finden meist im Verborgenen statt – Eltern oder Lehrkräfte bemerken oft lange nichts davon. Daher sollten Mitschüler aktiv reagieren. Man muss die Augen offen halten – wenn ein Mitschüler solchem Verhalten ausgesetzt ist, sollte man sofort Hilfe suchen. Das ist kein Verpetzen – das ist Hilfe für Mitmenschen. Denn immer wieder zeigt sich: Wenn erst einmal die Mehrheit der Mitschüler Partei für die Betroffenen ergreift, erkennen die Täter schnell, dass ihre Attacken nicht erwünscht sind. Dass sie sich durch ihr Verhalten selbst isolieren. So verlieren sie ihre Macht über ihre Opfer“, sagt die Sozialarbeiterin Anca Groza.

Kinder, die gemobbt werden, fühlen sich klein, verkehrt und machtlos und flüchten oft in Einsamkeit und Isolation. Warum ist es wichtig zu handeln? „Nahezu alle Opfer haben permanent Angst vor dem nächsten Übergriff und leben im großen Stress. Die Anspannung, in der sie leben, führt oft zu psychosomatischen Beschwerden – Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Übelkeit. Manche verletzen sich selbst oder denken gar an Selbstmord. Und nicht selten leiden sie noch Jahre später an psychischen Erkrankungen wie Depression oder Angststörungen“, sagt die Temeswarer Beraterin.

Cyberbullying und Missbrauch

Opfer werden auch im Inernet, in  Chats oder in sozialen Netzwerken gemobbt. Die Täter sind dabei noch besser geschützt, weil sie anonym bleiben können.
Sie sind laut Fachleuten oft selbst Opfer von Attacken und lassen aufgestaute Aggressionen nun an anderen aus. Den meisten Tätern geht es vor allem darum, Machtgefühle zu erlangen. Sie finden es aufregend und genießen es, Mitschüler zu unterdrücken und zu kontrollieren. Wenn andere vor ihnen Angst haben, fühlen sie sich stärker.

Es ist aber nicht von Bullying die Rede, wenn die Gewalt von einer Lehrkraft ausgeht: „Bullying/Mobbing kann allein unter zwei gleichgestellten Personen passieren. Zwischen einem Erwachsenen und einem Minderjährigen wird kategorisch von Missbrauch gesprochen“, erklärt Psychopädagogin Anca Groza.

Präventionsprogramme, um Mobbing zu unterbinden finden jeweils in Schulen statt. Anca Groza und Mihaela Erimescu gehen oft in Klassen und versuchen mit Beispielen, Aufgaben und Rollenspielen Schüler für das Problem zu sensibilisieren. Manchmal wird auch die gegenwärtige Technologie angewandt: VR-Brillen mit konkreten Verhalten beider Seiten kommen dabei zur Hilfe. „Bei diesen Aktionen lernen sie, was jeder Einzelne tun kann, damit das Zusammenleben in der Klasse für alle erträglicher wird, wie man mit Beschimpfungen umgeht – und warum Mobber nicht stark, sondern schwach sind“, schließt Mihaela Erimescu.