Menschenhandel als Gefahr für Geflüchtete

Ein Interview des rbb24 mit Kinderrechts-Expertin Eirliani Abdul Rahman

Eirliani Abdul Rahman bei einer Konferenz 2018
Foto: Nebojša Tejic/STA

Aus der Ukraine geflüchtete Frauen und Kinder warten am Bahnhof im polnischen Przemysl. Wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) über 3,5 Millionen Menschen auf der Flucht.
Foto: Sergei Grits/AP/dpa


Schon länger gibt es Hinweise, dass Kriminelle gezielt geflüchtete ukrainische Frauen und Kinder ansprechen. Es besteht die Gefahr, dass sie Opfer von Menschenhändlern werden – und das europaweit, warnt Eirliani Abdul Rahman. Das Interview führte Jan Wiese, es wurde erstmals am 18. März im  Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb24) publiziert.

Frau Rahman, Sie arbeiten mit vielen Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt bei der Bekämpfung von Menschenhandel zusammen, auch in Europa. Welches Bild ergibt sich für Sie angesichts der großen Anzahl von Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine fliehen?


Ich habe seit Kriegsbeginn mit vielen Kollegen und Freunden gesprochen, die im Kampf gegen Menschenhandel aktiv sind. Wir alle befürchten, dass Menschenhandel eine große Gefahr für die Geflüchteten wird, gerade weil so viele Frauen und Kinder unter ihnen sind. Vor einigen Tagen, am 8. März, hat das internationale Kinderhilfswerk World Vision eine Studie zu Menschenhandel veröffentlicht, zu Rumänien, ganz in der Nähe der ukrainischen Grenze. Vom Ergebnis war ich sehr niedergeschlagen: 97 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen Fälle von Menschenhandel bekannt sind. Die meisten Fälle betrafen dabei Prostitution, über 70 Prozent, gefolgt von Kidnapping und dem Kauf und Verkauf von Menschen.

Konnten Sie oder ihre Kolleginnen und Kollegen bereits konkrete Fälle nachweisen, das Flüchtlinge von Menschenhändlern ausgebeutet werden?

Noch nicht, das können wir bisher nur vermuten. Wir kennen alle die Berichte über dubiose Männer, die Plakate am Berliner Hauptbahnhof hochhalten. Wir wissen auch, dass polnische Zivilpolizisten in den Ankunftszentren patrouillieren und dort mit Freiwilligen sprechen, um herauszufinden, ob diese tatsächlich gute Absichten verfolgen. Die World-Vision-Studie ist da bisher die konkreteste Information, und verstörend genug.

Was ist generell über den Menschenhandel aus der Ukraine heraus bekannt? Entsteht hier gerade etwas Neues oder gibt es bereits bestehende Strukturen, auf die Kriminelle jetzt bauen können?

Bereits vor dem Krieg war die Ukraine ein Herkunftsland für Opfer von Menschenhandel. Über 260.000 Ukrainerinnen und Ukrainer wurden in den vergangenen 30 Jahren nach Schätzungen der Vereinten Nationen Opfer von Menschenhandel. Allein das Anti-Menschenhandels-Programm der UN-Migrationsorganisation hat in den vergangenen 20 Jahren über 16.000 ukrainischen Menschenhandelsopfern geholfen. Das Phänomen gibt es also schon lange, mit den entsprechenden Strukturen, die das möglich machen.

Der Krieg führt jetzt dazu, dass die Menschenhändler Zugang zu viel mehr möglichen Opfern bekommen. 2,8 Millionen Ukrainer haben bereits das Land verlassen, darunter eine Million Kinder (Anm. d. Red.: Stand 18. März).

Welchen möglichen Gefahren sind die geflüchteten Frauen und Kinder ausgesetzt, wenn sie herkommen?

Da Männer zwischen 18 und 60 Jahren nicht ausreisen dürfen, kommen die meisten Frauen und Kinder allein hier an. Sie verstehen oft die Sprache nicht, haben weder Familie noch Freunde hier. Viele von ihnen sind traumatisiert von der Brutalität des Krieges: zerstörte Infrastruktur, zerstörte Waisenhäuser, zerbombte Krankenhäuser und Schulen. Und dazu kommen die Herausforderungen als Flüchtling. Das kann dazu führen, dass sie schnell ein Angebot von jemanden annehmen, der irgendwo mit einem Schild steht und freie Übernachtungen anbietet. Leider kann derjenige ein Menschenhändler sein.

Vieles hängt derzeit an der mangelnden Koordination der Hilfsangebote. Alle Regierungen in Europa bemühen sich zwar um bessere Informationen für die Geflüchteten. Das wird mit der Zeit besser. Aber die Hilfsinitiativen waren gerade zu Beginn sehr chaotisch, und die Menschenhändler können ganz einfach in die Masse der hilfsbereiten Menschen eintauchen, wenn es keinerlei Registrierungs- und Überprüfungsverfahren für die Helferinnen und Helfer gibt.

Was droht den Geflüchteten, falls sie Menschenhändlern in die Falle gehen?

Üblicherweise werden gerade Frauen zur Sexarbeit gezwungen. Das zeigt die Erfahrung ganz deutlich. Manchmal landen sie auch in der Zwangsarbeit, müssen also gegen ihren Willen schlecht bezahlte Jobs machen. Wir wissen natürlich noch nicht, was mit diesem Exodus von Menschen aus der Ukraine passieren wird. Aber es besteht die sehr reale Gefahr, dass diese Frauen und Kinder in den Sexhandel geraten.

In Berlin warnt die Polizei über Social Media vor dubiosen Übernachtungsangeboten, auch in ukrainischer und russischer Sprache. Was können und sollten Behörden und Regierungen tun, um zu verhindern, das Flüchtlinge Opfer von Menschenhandel werden?

Es braucht in jedem Fall sehr strenge Registrierungs- und Überprüfungsprozesse, für die Geflüchteten, sofern das möglich ist, und vor allem für die freiwilligen Helfer. Das ist nicht immer einfach, muss aber gemacht werden: die Ausweisnummer, das Kennzeichen ihrer Autos oder ähnliches, damit man sie nachverfolgen kann. Das würde Menschen mit schlechten Absichten automatisch abhalten.

Außerdem müssen die europäischen Regierungen ihre bereits existierenden Anti-Menschenhandelsprogramme verstärken und auf diese Notsituation anpassen. Und wichtig wären härtere Strafen für Menschenhändler. Polen hat schon auf die Situation reagiert und am 8. März die Mindeststrafen für Menschenhändler von drei auf zehn Jahre erhöht, und die Höchststrafe für Sexhandel mit Kindern von 10 auf 25 Jahre. Das wird sicher einige Menschenhändler davon abhalten, Frauen und Kinder anzusprechen.

Wenn sich jemand bereits in den Fängen eines Menschenhändlers befindet: Wie könnte er oder sie da herauskommen? Und wie könnten Unbeteiligte dabei helfen?

Das ist extrem schwer. Denn normalerweise gehen Menschenhändler so vor, dass sie ihren Opfern den Reisepass oder Ausweis wegnehmen, und auch deren Mobiltelefon. Es gibt gewisse Merkmale, an denen man einige Betroffene erkennen kann: Sie sind oft nervös, wissen gar nicht, wo sie sind, und ohne Ausweis eben. Wenn man ihnen eine Frage stellt, antworten sie mit auswendig gelernten Sätzen, die ihnen die Menschenhändler diktiert haben. Und meistens werden sie bewacht, von jemanden, der an der Ecke steht, zum Beispiel. Wenn einem so etwas auffällt, ist es das Beste, sofort die Polizei zu informieren.


Nach einer diplomatischen Karriere für ihr Heimatland Singapur mit Stationen in Indien und Deutschland verschrieb sich Eirliani Abdul Rahman dem Kampf für Kinderrechte und gegen Menschenhandel. Sie arbeitete mit dem indischen Friedensnobelpreisträger Kailash Satyarthi an dessen Buch „Will for Children“ zusammen und ist Mitglied des unabhängigen Politikinstituts Chatham House in London. An der Harvard-Universität forscht sie zu gesundheitlichen Langzeitfolgen für Kinder, die Opfer von Menschenhandel wurden.