Mit einem Piks zum Idealgewicht: Neue Hoffnung im Kampf gegen Übergewicht

Können „Abnehmspritzen“ Adipositas-Kranken langfristig helfen?

Weltweit leiden gegenwärtig etwa 650 Millionen Menschen an diagnostizierter Fettleibigkeit. Rund zwei Milliarden Menschen gelten als übergewichtig. | Foto: Towfiqu Barbhuiya / www.unsplash.com

Ein in China vertriebener Injektionspen des Diabetes-Medikaments Ozempic. | Foto: Wikimedia Commons

Über 53 Prozent der Bevölkerung in der EU hatten im letzten Untersuchungsintervall einen BMI-Wert von über 25 und gelten damit als übergewichtig. | Grafik: ec.europa.eu/eurostat, Statistiken der Europäischen Kommission

Adipositas als Zivilisationskrankheit ist seit Jahren auf dem Vormarsch. Weltweit leiden heute etwa 650 Millionen Menschen an diagnostizierter Fettleibigkeit. Rund zwei Milliarden Menschen gelten als übergewichtig. Ab einem BMI (Body Mass Index) von 25 spricht man von Übergewicht. Mit einem BMI-Wert von 30 liegt bereits eine Adipositas Grad I, bei einem Wert von über 35 sogar Grad II vor. Bis 2031 sollen über eine Milliarde Menschen von Adipositas betroffen sein. Prominente wie Tesla-Chef Elon Musk schwören auf sie: auf die regelmäßig verabreichte Spritze, um Gewicht verlieren. Bei dieser sogenannten „Abnehmspritze“ handelt es sich um das Medikament „Wegovy“, welches auch in den sozialen Medien mitt-lerweile zum Wundermittel hochstilisiert wird. Es klingt zu schön, um wahr zu sein.

Das Präparat, das seit 2022 innerhalb der EU und seit Ende Juli diesen Jahres auch in Deutschland zugelassen ist, stammt vom dänischen Pharmakonzern Novo Nordisk. Bereits seit 2018 ist das ebenfalls aus der Pipeline der Dänen stammende Medikament Ozempic auf dem europäischen Markt erhältlich, welches zur Behandlung von Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes mellitus eingesetzt wird. Beide Mittel führen bei regelmäßiger Einnahme zu einer Gewichtsreduktion. Ein besonderer Wirkstoff macht dies möglich.

Der Sattmacher: Ein multifunktionaler Wirkstoff

Die Präparate Wegovy und Ozempic basieren auf dem Wirkstoff Semaglutid. Dieser ist dem körpereigenen Hormon GLP-1 sehr ähnlich und wirkt an verschiedenen Stellen im Körper wie z. B. in der Bauchspeicheldrüse und im Gehirn. Das Hormon ist u. a. auch für die Unterdrückung des Hungergefühls zuständig. Semaglutid wird jedoch wesentlich langsamer abgebaut wie GLP-1. Dieser Umstand macht auch die therapeutische Wirkung von Wegovy aus. Im menschlichen Gehirn dockt es an die Rezeptoren an, die für unser Sättigungsgefühl zuständig sind. In der Bauchspeicheldrüse fungiert es als eine Art Katalysator, welcher die insulinherstellenden Betazellen darauf vorbereitet, vermehrt Insulin auszuschütten. Semaglutid bewirkt also, dass der Blutzuckerspiegel reguliert wird und das Sättigungsgefühl schneller einsetzt und länger anhält. Das bewirkt, dass man weniger isst. Zudem soll auch die Fettverbrennung angekurbelt werden. Dieser Umstand fördert im Idealfall einen Gewichtsverlust.

Besteht dann auch das Risiko eines besonders niedrigen Blutzuckerspiegels bei Menschen, die nicht an Diabetes Typ-2 erkrankt sind? Die Wirkung in der Bauchspeicheldrüse, wie sie vor allem für Diabeteskranke (Typ-2) gewünscht ist, entsteht nur, wenn der Blutzuckerspiegel erhöht ist. Der Effekt auf den Blutzucker tritt nur dann ein, wenn tatsächlich auch ein Diabetes vorliegt. Wenn der Blutzucker im normalen Bereich liegt, passiert das nicht. Es kommt daher durch die Anwendung des Medikaments beim Übergewichtigen nicht zu einer Unterdrückung des Blutzuckers.

Kampfansage an Fettleibigkeit und ihre Folgen

Bei Semaglutid handelt es sich nicht um den einzigen Wirkstoff, der aus der Gruppe der GLP-1-Agonisten zur Behandlung von Diabetes Typ-2 und Adipositas zugelassen ist. Zur Gruppe der GLP-1-Agonisten gehören auch Wirkstoffe wie Liraglutid, Tirzepatid und Dulaglutid. Wegovy ist jedoch das erste Präparat aus dieser Gruppe, das allein für die Behandlung von Fettleibigkeit zugelassen worden ist. Wegovy kann daher Menschen, die mindestens einen BMI-Wert von 30 haben, verabreicht werden. Auch bei Personen mit einem BMI-Wert ab 27, die zusätzlich an einer durch das Übergewicht verursachten Erkrankung (Bluthochdruck, Schlafapnoe, erhöhte Blutfettwerte, Vorgeschichten von Herzinfarkten oder Schlaganfällen) leiden, kann das Präparat wirksam sein. Die Verschreibung ist ab einem Alter von 12 Jahren möglich. Das therapeutische Ziel ist der Gewichtsverlust und die Minimierung von Folgeerkrankungen, welche durch Übergewicht hervorgerufen werden. Wegovy ist in erster Linie eine Möglichkeit für jüngere Menschen, die viele erfolglose Diätversuche hinter sich haben, eine Alternative für den notwendigen Gewichtsverlust zu finden. Nicht alle älteren Menschen mit starkem Übergewicht profitieren von einer Gewichtsreduktion. Bei ihnen ist ein Großteil der durch das Übergewicht bedingten Folgeerkrankungen dann meistens schon vorhanden oder zumindest schon in Ansätzen erkennbar. Diese Spätschäden lassen sich bei älteren Patientengruppen nicht immer unbedingt reparieren.

Lifestyle-Pille für schnelles Idealgewicht?

Besteht nun die Gefahr, dass sich Wegovy mit dem Wirkstoff Semaglutid für jeden, der schnell ein paar Kilos verlieren möchte, zu einem Lifestyle-Präparat entwickelt? 

Wegovy ist verschreibungspflichtig und wird durch den Patienten selbst einmal wöchentlich durch einen sogenannten „Injektionspen“ unter die Haut gespritzt. Die Dosis wird über die ersten 16 Anwendungswochen langsam gesteigert, um das Auftreten der Nebenwirkungen möglichst zu reduzieren. Wegovy enthält beispielsweise eine etwas höhere Dosierung als Ozempic. Die Spritze muss unter Umständen lebenslang verabreicht werden. Einige Studien weisen darauf hin, dass Patientinnen und Patienten nach der Absetzung des Wirkstoffes wieder an Gewicht zunahmen. Ein schneller Abnehmerfolg ohne anschließenden Jo-Jo-Effekt ist daher äußerst unrealistisch. Wer einen BMI-Wert von unter 27 hat, würde auch gar nicht legal an ein Rezept für den Wirkstoff kommen. Zudem ist das Medikament nach seiner Zulassung noch mit hohen Eigenkosten verbunden.

Krankenkassen noch zurückhaltend

Patienten, die unter Adipositas leiden und Wegovy nutzen wollen, müssen gegenwärtig die Kosten für das Medikament selbst tragen. Diese würden sich voraussichtlich nach Schätzungen auf 1200 Euro pro Monat belaufen. Damit die gesetzlichen Krankenkassen das Präparat bezahlen, muss eine starke Evidenzlage vorliegen, die belegt, dass Wegovy bei Menschen mit Adipositas Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindern oder reduzieren kann. Hierzu laufen noch Studien, die nicht alle abgeschlossen sind. Für Patientinnen und Patienten mit Diabetes Typ-2 werden die Kosten für Ozempic jedoch übernommen.

Zahlreiche Nebenwirkungen möglich

Bisherige Daten zeigen, dass bei vielen gerade zu Beginn der Therapie diverse Nebenwirkungen auftreten können. Hierzu zählen Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Durchfall, Verstopfung und Bauchschmerzen. Diese werden hervorgerufen, weil der Wirkstoff am Sättigungsschalter, aber auch am Übelkeitsschalter ansetzt bzw. auch die Magenentleerung verzögert. Die Nahrung verbleibt damit länger im Magen-Darm-Trakt, bevor der Weitertransport erfolgt.

Hoffnung durch neueste Studien

Die erst vergangene Woche veröffentlichten Ergebnisse einer Studie zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die insgesamt über einen Zeitraum von fünf Jahren lief, haben nicht nur den Aktienkurs von Novo Nordisk nach oben schnellen lassen, sie könnten auch eine weitere gute Nachricht für Millionen von Menschen mit Übergewicht bedeuten. Laut den Ergebnissen senkte Wegovy das Risiko von Schlaganfällen und Herzinfarkten bei übergewichtigen Menschen. In der klinischen Studie, an der etwa 17.600 Erwachsene über 45 Jahren teilnahmen, die übergewichtig oder fettleibig sind und an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung leiden, reduzierte das Medikament das Risiko eines schwerwiegenden kardiovaskulären Ereignisses um etwa 20 Prozent. Die Teilnehmenden, die nicht an Diabetes erkrankt waren, erhielten einmal wöchentlich eine Dosis von 2,4 Milligramm des Wirkstoffs Semaglutid. Als schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse wurden kardiovaskulärer Tod sowie nicht tödliche Herzinfarkte und Schlaganfälle vorab definiert. Sollten sich derartige Ergebnisse und Auswirkungen langfristig bestätigen, könnten auch Krankenkassen das Medikament in Zukunft mitfinanzieren.

Potenzieller Milliardenmarkt erhöht Wettbewerb

Der Markt für Injektionspräparate wie Wegovy und Ozempic wird von Analysten auf jährlich etwa 150 Milliarden US-Dollar geschätzt. Der Kuchen dieses Milliardenmarktes könnte in naher Zukunft jedoch auch für Novo Nordisk kleiner werden. Insgesamt befassen sich weltweit etwa 40 Pharmaunternehmen mit Medikamenten, die einen Gewichtsverlust bei Adipositas herbeiführen sollen. Mit dem US-Pharmariesen Eli Lilly schickt sich bereits ein weiterer Konkurrent an, eine eigene „Abnehmspritze“ auf den Markt zu bringen. Bereits vergangenes Jahr hat das Medikament mit dem Markennamen „Mounjaro“, das auf dem Wirkstoff Tirzepatid basiert, die Zulassung zur Behandlung von Diabetes Typ-2 auf dem US-Markt erhalten. Eine Zulassung für therapeutische Zwecke bei Adipositas wird noch dieses Jahr erwartet. Mounjaro soll Anfang 2024 auch in Deutschland erhältlich sein.