Noch einmal Schwein gehabt

Ein Rückblick auf das unwahrscheinliche Jahr 2020

Symbolfoto: pixabay.com

Seit 1977 wählt die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ das „Wort des Jahres“ und kürt damit Wörter und Wendungen, die das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben eines Jahres sprachlich in besonderer Weise bestimmt haben. Das Wort des Jahres 2020 ist „Corona-Pandemie“. Auf dem zweiten Platz landete „Lockdown“. Mit diesen zwei Worten ist umfassend das beschrieben, was 2020 den Ton angegeben hat. In Deutschland, in Rumänien und in der ganzen Welt. Vor einem Jahr schrieb der Autor dieser Zeilen aus ähnlichem Anlass und auf den österreichischen Autor Heimito von Doderer Bezug nehmend, dass die Wut des Zeitalters tief sitzt, dass wir in einer Zeit der Wut, der Verängstigung und der Dauerkrisen leben, dass wir mit einer Krise der Wahrheit und der Vernunft, ja selbst mit der Krise der Krise zu kämpfen hätten. Damals, in den Anfangstagen des nun zu Ende gehenden Jahres, hieß es, die Welt stehe vor gravierenden Änderungen, hervorgerufen durch Digitalisierung, Überalterung, Klimawandel und neuen Machtverhältnissen in der Weltpolitik. Fast 365 Tage später ist man, wie immer, klüger: Jene Änderungen traten früher ein als zunächst gedacht, beschleunigt durch das Virus, jene unheimliche Kreatur, deren Existenz von jenen geleugnet wird, die als Erste der besagten Krise von Wahrheit und Vernunft zum Opfer gefallen sind.

2020 war das Jahr, in dem sich Corona-Leugner, Wutbürger, „Querdenker“, Unzufriedene jedweder Art und halbgebildete Verschwörungsanhänger nach Lust und Laune austoben konnten: Auf den Straßen und Plätzen, vor Parlamenten und teilweise auch in deren Plenarsälen, wie das rumänische Beispiel der frisch gewählten AUR-Senatorin Diana Șoșoacă zeigt. Vor allem aber geschah es im Internet, dem gleichzeitigen Fluch und Segen unseres Zeitalters, wo inzwischen Twitter und Facebook Aussagen des amtierenden amerikanischen Präsidenten nicht mehr veröffentlichen oder zumindest mit Hinweisen auf deren fragwürdigen Wahrheitsgehalt versehen müssen und dabei die Wut der Realitätsverweigerer und Besserwisser zusätzlich anheizen.

Die Pandemie hat einen Wandel beschleunigt, der bereits vor ihrem Ausbruch vorhersehbar war und für zahlreiche Bürger, vor allem in der westlichen, dienstleistungsorientierten Gesellschaft, einen neuen Lebensstil geprägt hat. In Teilen wird dieser Stil auch nach dem Ende der Seuche erhalten bleiben: mehr Homeoffice, mehr Homeschooling, weniger Ausgehen, geänderte Freizeitbeschäftigungen und ein neues Konsumverhalten. Nicht alle dieser Entwicklungen sind positiv, einige wirken sich verheerend nicht nur auf die Wirtschaft aus, sondern letztendlich auch auf die menschliche Psyche. Aber es ist eindeutig zu früh, um endgültige Schlussfolgerungen aus dem unwahrscheinlichen Jahr 2020 zu ziehen, weil die Pandemie längst noch nicht besiegt ist. 2021 und 2022 wird sich die Menschheit allem Anschein nach auch weiterhin mit der Covid-19-Seuche beschäftigen, vor allem mit ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. Aber eines kann man bereits vo-rausahnen: Zu ihren schlimmsten Folgen gehören, neben den viel zu großen Todeszahlen, ein wachsendes Misstrauen und eine Verschärfung der Wut. Zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Eliten und Durchschnittsbürgern, zwischen dem Mittelstand und der wachsenden Klasse von wirtschaftlich und sozial Abgehängten hat sich der Graben noch einmal vertieft. Dessen Zuschüttung wird zur größten Aufgabe nach der endgültigen Eindämmung des Virus.

Das gilt auch für dieses Land, das, vom politischen Stillstand und einer größtenteils unprofessionellen Verwaltung gekennzeichnet, besser durch die Pandemie gekommen ist, als man es am Anfang erahnen konnte. Bilder wie aus der Lombardei sind uns hierzulande mit wenigen Ausnahmen bisher erspart geblieben, obwohl das sowieso von Geld- und Personalnot geplagte Gesundheitssystem überstrapaziert wurde und vor allem im Herbst mehrmals an sein Limit gestoßen ist. Fehler in der Krisenbewältigung gab es zuhauf: Es fehlte an allen Ecken und Enden und in der Not wollte und konnte sich so mancher bereichern, bis letztendlich durchgegriffen und eine halbwegs vernünftige Versorgung mit Zubehör gewährleistet werden konnte. Natürlich im Rahmen der Möglichkeiten, des Wurstelns nach rumänischer Art. Aber im Frühjahr gab es auch hier-zulande eine große Welle der Solidarität, beispielhaft konnten sich Bürger und Unternehmen organisieren und dem öffentlichen Gesundheitssystem unter die Arme greifen. Genau jenem, den sie mit Abgaben und Kassenbeiträgen finanzieren. Ironischerweise.

Währenddessen stritt die Politik und sie tat es auf eine erbärmliche Art und Weise. Man muss es sagen: Die PNL-Regierung war auf die Krise unvorbereitet, sie zog nur selten die richtigen Schlüsse und verantwortete ein Fiasko, vor allem was die wirtschaftliche Bewältigung des Lockdowns und der weiteren Restriktionen des seit mehr als einem halben Jahr andauernden Alarmzustands anbelangt. Die neue Koalitionsregierung wird sich damit noch viel beschäftigen müssen. Unter Umständen könnte sie daran scheitern, wenn sie es nicht bereits schneller und aus den hierzulande üblichen Gründen tut. Dass nach dem zu erwartenden Wahlergebnis überhaupt keine andere Möglichkeit als jene einer Koalition aus PNL, USR-PLUS und UDMR zur Debatte stand, war für jedermann klar und bedarf keiner zusätzlichen Erörterung. Dass die Verhandlungen zunächst gescheitert sind und dann wieder aufgenommen und erfolgreich abgeschlossen wurden, wundert auch nicht weiter, und befremdlich müsste auch nicht das, zugegeben, ekelhafte Postengeschacher wirken. Ekelhaft schon, verwunderlich kaum: Man hat es auch bei früheren Koalitionsbildungen so gemacht, nichts Neues also. Doch die Geschichte zeigt auch, wie fragil in Rumänien Koalitionsregierungen sind. Die CDR-PD-UDMR-Jahre 1996 bis 2000 liegen inzwi-schen weit zurück, aber ihr bitterer Beigeschmack ist geblieben. Und auch die 2004 gebildete PNL-PD-Koalition scheiterte kläglich, genauso wie die USL in den Jahren 2012 bis 2014. PSD-Alleinregierungen waren verständlicherweise stabiler, bis sich die Sozialdemokraten unter Liviu Dragnea und Viorica D˛ncil˛ selbst zerlegten und sich unter dem schwachen Marcel Ciolacu ins Abseits manövrieren ließen. 

Wenn jedoch diese neue Regierung unter dem etwas skurril wirkenden Florin Cîțu nicht Kurs halten und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie nicht in den Griff bekommen kann, dann wird spätestens 2024 die PSD oder eine aus ihr hervorgegangene neue Partei an die Macht katapultiert. Das besonders Schlimme ist, dass die Sozialdemokraten dieses Szenario nur abwarten und ab und zu von ihren kuscheligen Oppositionssesseln aus die Regierung beschimpfen müssen. Der Rest erledigt sich von selbst, eine tatsächliche interne Reform muss die PSD nicht anstreben. Ähnlich war es vor 20 Jahren, nach den chaotischen Regierungsjahren der CDR, oder 2012, als die PDL-Regierung die Wirtschaftskrise und die unpopulären Maßnahmen, die Präsident Traian B˛sescu 2010 dem Land vorgeschrieben hatte, einstecken musste.

Es gehört wahrscheinlich zu den Lesererwartungen, dass sich dieser Text auch mit der Überraschung der Parlamentswahlen beschäftigt, der AUR-Partei. Sie ist nicht der Rede wert und wird früher oder später in die Bedeutungslosigkeit versinken, genauso wie es irgendwann mit der Großrumänien-Partei PRM und der Partei von Dan Diaconescu, an deren Namen sich kaum einer noch erinnert, geschehen ist. Einige der AUR-Parlamentarier werden alsbald entdecken, dass ihr Platz doch bei einer anderen Partei ist, andere werden aufeinander losgehen und sich selbst zerlegen, andere wiederum werden andere (Kleinst-)Parteien gründen und damit gegen die Wand fahren. Und das dürfte auch der Plan jener Hexenmeister sein, die sie aus dem Hut gezaubert haben und zum rechtmäßigen Zeitpunkt wieder verschwinden lassen werden. Hinter den Kulissen sind eben keine Zauberlehrlinge am Werk.

Wichtiger als die AUR und wichtiger auch als so manche direkte wirtschaftliche Folge des Corona-Jahrs ist das Desaster an Rumäniens Schulen. Seit Mitte März kam praktisch das gesamte Bildungswesen zum Erliegen. Unterricht fand zumindest bis Sommer nur noch sporadisch statt, das Chaos war total. Eine realitätsferne Ministerin, die bereits vor dem Ausbruch der Seuche und der Ausrufung des Notstands wegen eindeutig mangelnder Fachkompetenz ausgetauscht hätte werden müssen, sah dem allgemeinen Ruin der Schulen tatenlos entgegen. Von Monica Anisie bleibt nur ein bitterer Satz übrig, nämlich die Aufforderung an die Kinder, die keinen Internetzugang haben, weil die Elektrifizierung ihre Weiler in den Karpaten noch nicht erreicht hat, sie sollen doch fernschauen. Mit Sorin Cîmpeanu, einer zwielichtigen Gestalt des Hochschulwesens, der bereits unter Victor Ponta Unterrichtsminister war und sich als Freund aller Plagiatoren erwiesen hat, dürfte es nicht viel besser werden.

Die Bildung ist und bleibt Rumäniens größtes Problem. Was sich an Schulen und Universitäten abspielt, gleicht einem Drama mit weitreichenden Folgen. Letztend-lich hängen davon auch alle anderen Dauerbrenner des politischen Gefechts ab: Justiz, Verkehr, Wirtschaft, Gesundheitswesen und so weiter. Alle wissen das, aber ignoriert wird es geflissentlich. Das Unterrichtswesen wird nicht zur Aufgabe Nr. 1 der neuen Regierung werden, dafür gibt es im Tagesgeschäft viel Wichtigeres. Und die Einflussmöglichkeiten des Staatspräsidenten, über dessen Kopf hinaus Polit-Strategen aller Parteien bereits die Planungen für nach 2024 begonnen haben, werden von Jahr zu Jahr schwinden, denn spätestens ab Anfang 2023 wird seine Nachfolge zum Hauptbeschäftigungsthema. Der Reformeifer der frischen Koalitionsregierung dürfte (zu) schnell nachlassen, der große Wurf wird ihr kaum gelingen. Wenn ihr die Durchimpfung der Bevölkerung, die Eindämmung der Covid-19-Epidemie und eine Rückkehr zur wirtschaftlichen Normalität gelingt, dürfte sie mehr als genug getan haben.

Viele betrachten in diesen Tagen das Jahr 2020 als ein verlorenes Jahr – für die Angehörigen der zahlreichen Opfer sowie für jene, die, selbst erkrankt, an den Spätfolgen ihrer Infizierung zu leiden haben, trifft dies zweifelsohne zu. Aber die Welt ist noch einmal davongekommen. Dem Zeitalter und dem Virus zum Trotze.