Prioritäten

Von Weitem sah man den Mann im blauweiß gestreiften, frisch gebügelten Hemd, wie er den schmalen Fußweg der Brücke zwischen Băneasa und Otopeni entlangging. Einer Brücke, die nur von der Fahrbahn auf die Fahrbahn führt, darunter ein Kreisverkehr und zwei parallel zur Brücke fließende Spuren. Kein Mensch geht hier zu Fuß – weil es hier nirgendwohin geht! Weder Jacke noch Tasche bei sich, balancierte sich der Mann mittleren Alters, gepflegt und mit einem kleinen Wohlstandsbauch, tapfer am Geländer entlang. Links zischte der Verkehr bedrohlich vorbei. Stoßstange an Stoßstange, doch – noch – flüssig. Nervöses Hupen, wenn der Vordermann nicht gleich aufrückte! Während ich mich noch fragte, was der „Verrückte“ dort wollte, bückte sich der Mann. Richtete sich wieder auf, machte einen Satz nach vorne und bückte sich erneut. Als wolle er etwas erhaschen. Erst auf gleicher Höhe angekommen, sah ich, dass sich zwischen den Geländerstäben ein winziges schwarzes Kätzchen duckte! Nicht auszudenken, wenn es in den Verkehr geriete! Oder zwischen den Stäben hindurch auf die untere Fahrbahn fiele!

Wir rauschten vorbei – Stehenbleiben unmöglich – und ich versuchte, von dem Geschehen etwas zu erhaschen. „Er hat das Kätzchen erwischt!“ beruhigte mich mein Mann, während wir von der Brücke rollten. Dort, wo die unteren und oberen Fahrbahnen sich wieder vierspurig vereinten, sah ich ganz rechts am Rand ein größeres Fahrzeug mit eingeschalteter Warnblinkanlage stehen. Leer. So fügten sich die Puzzlesteinchen zusammen: Der Mann auf der Brücke hatte das Kätzchen wohl von unten zwischen den Geländerstäben durchlugen sehen, war spontan stehengeblieben und ausgestiegen, um es zu retten! In der Hektik der morgendlichen Stoßzeit, denn der Kleidung nach zu schließen musste auch er zur Arbeit. Es war ihm nicht zu mühevoll, zwei Spuren zu Fuß zu queren und die Brücke entlangzugehen – den Gedanken, wohin mit dem Tierchen, verschob er wohl auf später. Oder die Frage, ob es ihm sein schönes Auto nicht versauen könnte.
Auf der anderen Seite fragt man sich, wie kam das Kätzchen dort hin? Mitten in den brodelnden Verkehr! Wohl doch nur aus einem (anderen) Auto.

Ein Ort, zwei Menschen, zwei Handlungsweisen. Für den einen ein schnell gelöstes Problem. Für den anderen eine spontane Entscheidung, wohl in Sekunden zu treffen, vom Entdecken des Kätzchens auf der Brücke bis zur Parkbucht am Ende derselben. Hätte er sich nicht schnell genug entschlossen, die Chance wäre vertan gewesen.

Manchmal „rettet“ einen eine vertane Chance ja vor der Verantwortung... Vielleicht ist aber der Schmerz darüber dann größer als die Erleichterung, dass einem die Frage, wohin mit der Katze, erspart geblieben ist.
Das Ereignis machte mir jedenfalls klar, wie wichtig es ist, seine Prioritäten zu kennen. Damit sie immer und jederzeit abrufbar sind, um auch in den wenigen Sekunden, die einem oft bleiben, das einzig Richtige zu tun. Die sogenannte Vernunft – „in unserer Situation können wir doch keine Katze halten“, die Bequemlichkeit – „wohin jetzt mit dem Tier auf dem Weg ins Büro“, die Verantwortung vor den anderen, mit denen man sein Leben teilt – „Bist du verrückt, uns eine Katze anzuschleppen?“ – auf den Platz zu verweisen, auf den sie gehört: Manchmal eben auf den zweiten.

Danke, lieber Unbekannter! Nicht nur für das Retten des Kätzchens. Sondern auch für die Gewissheit, die ich nun habe.