Randbemerkungen: Russland: neu ist alt, uralt

Der Aggressionskrieg Russlands versus Ukraine ähnelt dem Stellungskrieg von Verdun: die Offensive der Ukraine ist festgefahren in den von den Russen verminten Feldern des Donezk-Gebiets, Materialschlachten mit geheimgehaltenen Menschenverlusten finden statt, die Ukraine wie Russland melden Schrittgewinne und triumphale Eroberungen von Schützengräben. 

Der Zermürbungskrieg verläuft im Sinne Putins: seine Ressourcen sind größer als jene der Ukraine. Irgendwie erinnert er an Mao im russisch-chinesischen Krieg (1969) am Ussuri um die Insel Damanski/Zhenbao Dao, als Mao zitiert wurde, er fürchte die militärtechnische Übermacht Russlands nicht, denn: „Wenn die mir eine Million Soldaten töten, schicke ich eine weitere Million gegen sie. Und immer so weiter…“ In den Gefängnissen Russlands sitzt genug Kanonenfutter. Putin setzt auf Zeit, auch weil er davon ausgeht, dass dem Westen irgendwann die Geduld mit der unaufhörlich fordernden, aber schwach liefernden Ukraine schwindet – oder zumindest, dass Geduldsfadenrisse den Westen entzweien.

Weil hinter Russland Staaten wie China, Indien, Brasilien, Südafrika usw. stehen, die nicht nur vom neuen und billigen Rohstoffmarkt profitieren, den Russland ihnen bietet, sondern die kräftig mithelfen, die EU- und US-Sanktionen gegen Russland zu unterlaufen und die Wirtschaft Russlands am Leben zu halten. Abgesehen davon, dass es EU-Staaten gibt, die weiterhin unverhohlen russlandnah agieren – Ungarn, Österreich, z.B., sei´s auch nur durch Konzerne, die sich ums Embargo des Staatenbunds gegen Russland nicht das Schwarze unterm Nagel scheren… Eine Schwäche der EU.

Innerhalb Russlands findet zeitgleich eine ideologische Neuordnung statt. In Moskau wird ein offizieller Hochschulkurs vorbereitet – der für alle Universitäten Russlands richtungweisend wird: „Grundlagen der Staatlichkeit Russlands“. Grundlage ist die Idee, dass Zivilisationen lebende Organismen sind und dass die „Zivilisation Russlands“ eine junge und dynamische ist, die allein schon deshalb „das überalterte, dekadente Abendland“ „besiegen“ wird. Es winkt ein primitivisierter, moskowitischer Oswald Spengler. Universale Werte werden minimiert und nach ihrer Russlandkompatibilität neugewertet, verworfen oder „flexibilisiert“, historischer Relativismus wird zur Staatsdoktrin erhoben. „Wissenschaftliche Argumente“ für die Widerlegung der West-Kritik an der Führung Russlands haben Priorität, liberal-demokratische Werte werden voll Verachtung verneint. 

Das Kunstgebilde des „Dritten Rom“ wird – mit interessierter Hilfe der russisch-orthodoxen Kirche – aufgewärmt und der Staatsdoktrin zur Seite gestellt. Das Vermeiden einer Entzweiung der Bevölkerung hat höchsten Vorrang und soll mit allen Mitteln des Staates und der Kirche unterstützt werden. Einheit beruhe im russischen Volk auf „Wissenschaft“, sei „in der DNS des Russen verankert“, kann man bei einem der Ideologen, Lew Gumilew, erfahren.

Allerdings: Insider des Bereichs sagen, dass überhaupt nichts von diesen „Grundlagen“ auch nur im Ansatz original sei – außer dem Mix von Abkupferungen. Da gibt es Elemente des deutschen Historismus des 19. Jh. (ausgehend von K. F. W. Schlegel, 1797!), Unmengen aufgewärmter zaristischer, frühsowjetischer sowie stalinistischer Nostalgien, Signale einer wegen Erneuerungsunfähigkeit hoffnungslos überalterten Zivilisation, Auswirkungen gescheiterter oder versäumter Korrekturen in deren Entwicklung.

All dies im Kontext, wo wir nicht nur Elemente des Ersten Weltkriegs neuaufgelegt bekommen (mit der Waffentechnik des 21. Jh.), sondern auch einen neuen Kalten Krieg erleben, in dem die Spionage Englands und der USA eine wesentliche Rolle spielen, ebenso die Gegenspionage Russlands, alles mit aktuellen Mitteln von Elektronik und Internet, sowie, zunehmend, KI.

Taktisch gibt´s im Osten der Westfront nichts Neues.